Wiggo

Kein anderer Tour-Mitfavorit hat im Moment einen solchen Lauf wie Bradley Wiggins. Hier erklärt der Sky-Kapitän die Veränderungen, die den Ausschlag gegeben haben.

 

Im Lauf der wohl bisher besten Woche seiner Karriere, als er mit seinem Paris–Nizza-Sieg Mitte März in den engeren Kreis der Tour-de-France-Favoriten fuhr, wurde Bradley Wiggins zu einer Art Kuriosum. Nach jeder Etappe, nur Sekunden, nachdem er im Ziel zum Stehen gekommen war, schwang er sich auf den Turbotrainer und trat weiter in die Pedale, bis er zur Siegerehrung auf die Bühne gerufen wurde. Die Reporter waren entgeistert. Normalerweise sprechen sie in den Minuten nach der Etappe mit dem Mann in Gelb – was der Engländer ab der 2. Etappe bis nach Nizza war –, und so wurden Wiggins’ „Abwärmübungen“ als die ultimative kalte Schulter interpretiert, zumal er auch noch ein schwarzes Handtuch über den Kopf drapiert hatte.

Aber dieses Ritual war aus einem anderen Grund ungewöhnlich. Seltsamerweise ist das Abwärmen in keinem Radsportlexikon zu finden und war auch nicht Teil dessen, was Robert Millar einst „The Knowledge“ nannte. Diesem „Wissen“ zufolge springt ein Fahrer nach einer Etappe vom Rad und in den Teambus, um ins Hotel zu fahren, wo er eine Massage bekommt. Das ist Abwärmen. Deswegen also fand man Wiggins’ Verhalten komisch, schrullig, exzentrisch. Er hätte als Reinkarnation des Eigenbrötlers aus den 1990ern, Graeme Obree, durchgehen können, dessen singuläre Methoden – darunter eine Marmeladen-Diät und nachts einmal pro Stunde Dehnübungen – legendär sind.

Doch während es eine universelle Zuneigung für Obree gab, scheint man Wiggins gegenüber eher argwöhnisch zu sein. Das mag zum größten Teil an seinem Team Sky liegen, das weithin als Verkörperung zweier Übel dargestellt wird: Geld und Wissenschaft. Angeblich haben sie unerschöpfliche Ressourcen und sind besessen von Zahlen und Daten, die etwas über Leistung aussagen – auf Kosten der Romantik und Tradition, die seit jeher für einen großen Teil der Anziehungskraft des Radsports sorgen. Hat die Kritik Wiggins getroffen? Ja, vielleicht, weil er tatsächlich per Twitter auf den Tadel wegen der „schwarzes-Handtuch-über-dem-Kopf“-Nummer reagierte. „Will mich in Ruhe abwärmen, kann nicht glauben, dass das solche Wellen schlägt; das ist Abwärmen!!“

Das Interesse an Wiggins’ Abwärmübungen war noch bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass dieses Ritual nicht zum ersten Mal zu beobachten war. Dasselbe machte er beim letztjährigen Critérium du Dauphiné, das er ebenfalls gewann. Und es warf eine verlockende Frage auf: Wird Wiggins das auch machen, wenn er im Juli die Tour de France anführt? Wird er das übliche Protokoll nach den Etappen ignorieren und sich vor der Siegerehrung abwärmen? Die Antwort sollte naheliegen: Wenn er glaubt, dass es ihm hilft, wird er es tun. Zum Teufel mit der Tradition und „dem Wissen“, den Medien und den Twitterati.

Trotzdem wäre es irreführend, Wiggins als so selbstbewusst und draufgängerisch darzustellen, wie dieses Bild vermittelt. Vielleicht geht es gar nicht um „Bradley Wiggins gegen den Rest der Welt“, sondern vielmehr darum, dass eine kleine Einheit innerhalb der Sky-Mannschaft – das Team Wiggins – nach dem Studium aller wissenschaftlichen Daten eine Vorgehensweise festgelegt hat und der Fahrer sie bedingungslos befolgt – wie ein gut gedrillter Soldat oder ein Roboter.
So schien es jedenfalls, als wir am Vorabend seiner größten Saison mit Wiggins in dem Hotel auf Mallorca zusammensaßen, wo das Team sein Winterquartier aufgeschlagen hatte und seinen Anlauf auf ein historisches Double plante: Gelb bei der Tour de France, Gold im olympischen Zeitfahren.
  
Wiggins war zwei Stunden zuvor aufgetaucht, schlenderte in „Zivilkleidung“ durch die Hotellobby: Jeans, die unten umgekrempelt waren, Desert Boots, Hemd und lässiges Jacket. Zum Abendessen kommt er später im Polohemd in Teamfarben, Trainingshose und Turnschuhen. Das neue Outfit symbolisiert die Verwandlung von Brad Wiggins, dem Mod, in Bradley Wiggins, den Radsportler. Er spaziert ins Restaurant und wird mit Sergio Henao, dem neuen kolumbianischen Rekruten des Teams, bekanntgemacht. Henao isst gerade zu Abend, dreht sich um, sieht Wiggins – und schaut schnell wieder auf seinen Teller. Er errötet, und es scheint ihm die Sprache verschlagen zu haben, doch er schafft es, mit einer halben Verbeugung aufzustehen, Wiggins die Hand zu geben und sich wieder hinzusetzen, wobei er so gerade eben die Haltung bewahrt. Dann kichert er und sagt zu seinem Nachbarn: „Bradley Wiggins!“ Am nächsten Tisch bricht Coach Rod Ellingworth in Gelächter aus. „Hast du Henaos Gesicht gesehen, als er Brad gesehen hat?“ Zuvor hatte der Kolumbianer Dave Brailsford kennengelernt, ein Austausch, über den Ellingworth ebenfalls lachen musste: Nachdem er dem Teamchef die Hand gegeben hatte, hatte sich Henao an denselben Nachbarn gewandt und gefragt: „Wer war das?“

Am interessanten an diesem Austausch ist, dass sich Wiggins fast ebenso unwohl zu fühlen scheint wie Henao. Und das kratzt am Kern des Wiggins-Rätsels, wirft vor allem die Frage nach seiner Eignung als Teamkapitän auf, einer Rolle, die er 2010 bei seinem Wechsel zu Sky übernahm, als er an seinen vierten Platz von der Vorjahres-Tour anknüpfen wollte. Von Anfang an schien sich Wiggins in der Kapitänsrolle so wohlzufühlen, wie sich Lance Armstrong als Domestike gefühlt hatte. Bei der glamourösen Team-Präsentation in London im Januar 2010 wollte er nicht im Mittelpunkt oder allein vor seinen Teamkollegen stehen. „Das ist hier nicht die Brad-Wiggins-Show“, brummte er. Mit seiner Weigerung, sich abzuheben, setzt Wiggins sich allerdings auf andere Weise ab. Die erfolgreichsten Kapitäne – Eddy Merckx, Hinault, Armstrong und vielleicht auch Mark Cavendish – entsprechen alle der „Führungstheorie“, wonach Ereignisse (Rennen) von den Aktionen und dem Verhalten eines starken und charismatischen Individuums gestaltet und letztlich entschieden werden.

Vergleichen und kontrastieren Sie Wiggins’ Schüchternheit mal mit Bernard Hinault bei der Renault-Teampräsentation von 1983, wo er auf der Bühne vor seinen Teamkollegen stand, die alle Hinault-Masken trugen. Oder mit Lance Armstrong, der 2003 angeblich im Teambus auf und ab lief, in die Sitze boxte und schrie: „Dieses [Gelbe] Trikot gehört mir! Ich lebe für dieses Trikot! Es ist mein Leben! Niemand nimmt es mir weg. Dieses verdammte Trikot ist meins!“
Man kann sich nicht vorstellen, dass Wiggins so etwas macht, und trotzdem kann er ein Showman sein und steht gerne im Mittelpunkt, wenn er eine seiner unheimlich guten Personenimitationen aufführt. Andererseits können sich Schauspieler und Stand-up-Comedians auch hinter ihrer „Rolle“ verstecken. Er kann auch ein entwaffnend offener Redner sein – und er hat seine eigene Meinung. Aber im Grunde ist er schüchtern. Weswegen man gespannt sein darf, wie er das Team auf seine Weise anführen wird. Einen Hinweis darauf gab es vielleicht bei Paris – Nizza: Wiggins versetzte seine Truppen im Teambus zwar nicht in Alarmbereitschaft, zeigte mit dem ruhigsten und selbstsichersten Auftritt seiner Karriere aber vielleicht, wie er das Team bei der Tour in den Kampf führen will und wie wirkungsvoll das sein könnte. Und trotzdem könnte das wichtigste Element im Juli nicht Bradley Wiggins selbst sein, sondern das Team Wiggins.
 
Wenn Wiggins sich hinsetzt, um zu reden, ist sein Gesichtsausdruck eine Kombination aus Mattigkeit und Vorsicht, Schüchternheit und trockenem Humor. Schon bei unserem letzten Gespräch in diesem Winter war ich überrascht, wie oft er das Wort „wir“ statt „ich“ verwendete, wenn er über sein Training und seine Ziel redete. Als wir beispielsweise über die zweigleisige Tour-Offensive seines Teams sprachen – Wiggins für Gelb und Cavendish für Grün –, sagte er: „Ich habe eigentlich noch nicht darüber nachgedacht. Das Team hat das alles gründlich durchdacht und wird eine Strategie und einen Plan haben.“ Die Strecke der Tour hatte er sich noch nicht angeschaut: „Ich halte mich davon fern. Das Training wird auf die Tour ausgerichtet sein, aber im Moment ist es nur harte Arbeit. Sie werden mich schon mit Infos füttern, warum wir ein bestimmtes Training machen.“

„Sie“ sind das Team Wiggins – Shane Sutton, der grauhaarige Australier, der seit Langem eine Vaterfigur ist, Tim Kerrison, ein Sportwissenschaftler mit Background im Rudern und Schwimmen, und Richard Freeman, der Teamarzt, der bei den Bolton-Wanderers-Fußballern arbeitete. Sutton, sagt Ellingworth, ist „der Hund in der Ecke, der Brad gelegentlich anbellt“, während Freeman seine Gesundheit überwacht. Kerrisons Rolle ist am wichtigsten. „Shane ist mein Chefcoach, und er bekommt wissenschaftliche Unterstützung von Tim“, erklärt Wiggins. „Tim hat das tägliche Training übernommen.“ So, wie er es beschreibt, hat es den Anschein, als habe Wiggins keinen anderen Antrieb, als auf sein Rad zu steigen und Anweisungen zu befolgen. Ist das wirklich so? Oder erklärt Kerrison die Prinzipien hinter seinem Training? „Ja, er versucht es“, sagt Wiggins. „Meistens interessiert mich das aber nicht besonders, um ehrlich zu sein. Ich vertraue ihm so sehr, dass ich eigentlich wie eine Rennmaus im Laufrad bin. Ich vertraue ihm zu 100 Prozent. Ich weiß, wie viele Gedanken sie sich machen und dass sie permanent darüber reden, und du kommst an einen Punkt, wo du jemandem so sehr vertraust, dass du dem, was sie machen, folgst. Ich meine, ich stelle ein paar Dinge infrage, aber das meiste mache ich einfach.“

Hört sich an, als gefiele ihm das ganz gut. „Ich finde es leichter für mich. Ich habe mich schwergetan, als ich es 2010 alleine gemacht habe. Deswegen lief alles schief – weil ich es alleine gemacht habe. Du kannst das Verfahren nicht abkürzen, wenn sich zwei Leute um dich kümmern, weil ich ihnen Bericht erstatten muss.“ Und wenn einer dieser Leute, denen er Rechenschaft ablegen muss, der „Hund, der Brad anbellt“ ist, kann man verstehen, dass er fleißig ist.

 

Kerrison ist das Gegenteil von Sutton, aber wenn Dave Brailsford Trainer klonen könnte, könnte er das Ergebnis sein. Ruhig und zurückhaltend, strahlt er trotzdem Intensität und Strenge aus. Kerrison verbrachte 2010, sein erstes Jahr im Radsport, weitgehend auf der Straße und steuerte den Bus vom Team Sky, auch Black Betty genannt, durch die Gegend. Wenn er das Team bei den Rennen begleitete, saß er über seinen Laptop gebeugt und tippte Daten ein. Wiggins kam in jenem Jahr nicht in Form, landete bei der Tour auf dem 24. Platz und fragte sich schließlich laut, ob 2009 ein „Zufallstreffer“ war. Im August 2010 wandte er sich an Sutton, der, wie er sagt, „mein Leben sortierte“, und im Oktober fing er an, mit Kerrison zu arbeiten. 17 Monate später kann er auf einen zehnmonatigen Zeitraum mit Siegen bei zwei wichtigen Etappenrennen, seinem ersten Podestplatz bei einer großen Landesrundfahrt (Dritter bei der Vuelta) und einer Silbermedaille beim WM-Zeitfahren zurückblicken.

Hat ein anderer derzeitiger Tour-Favorit in letzter Zeit eine so eindrucksvolle Bilanz vorzuweisen? Sicher ist, dass niemand – nicht einmal Wiggins – sich noch fragt, ob 2009 ein Glückstreffer war. Als wir mit ihm auf Mallorca zusammensitzen, nennt Kerrison 2010 „eine Ansammlung von Erfahrungen“, die besonders, was große Rundfahrten anging, schlecht waren. Beim Giro blieb er mit Black Betty am Berg hängen und hatte Angst, dass er das Rennen aufhalten würde. Die Tour war eine Enttäuschung und die Vuelta ein Desaster durch den Tod von Txema Gonzalez, dem Masseur des Teams. Kerrison sagt, er, Brailsford und Ellingworth hätten „jeden Tag im Oktober, November und Dezember 2010 damit verbracht zu planen, wie wir als Team vorankommen“. Dazu gehörte es, ein Trainerteam für Wiggins zusammenzustellen. Kerrison fand es reizvoll, die alten Weisheiten im Radsport – „das Wissen“ – infrage zu stellen.

Nicht, dass er alles über Bord werfen will. „Man muss den Sport verstehen, und ich war lang genug auf der Straße unterwegs, um das zu tun.“ Aber es kann eine gewisse Betriebsblindheit entstehen, „wenn man sieht, dass etwas jeden Tag so gemacht wird. Du fragst sie, warum sie es so machen, und sie können es nicht beantworten, es hat ihnen einfach jemand vor 20 Jahren so erzählt. Das gibt es oft im Radsport“. Als Kerrison Wiggins vorschlug, sich nach den Etappen abzuwärmen, hätte Wiggins sagen können: „So was machen wir nicht.“ Dass er diese und andere Neuerungen von Kerrison übernommen hat, unterstreicht abermals sein Vertrauen in sein Team.

Kerrison sagt, er habe eine gute Arbeitsbeziehung zu Wiggins entwickelt. Aber findet er nicht, dass das eine große Verantwortung für jemanden ist, der relativ neu im Radsport ist? „Das ist es wahrscheinlich“, sagt Kerrison achselzuckend, „aber ich bin in diesen Sport gekommen, weil ich dem Team helfen wollte, die Tour zu gewinnen. Und mit Brad zu arbeiten, war unsere beste Chance, das zu tun. Deswegen war es eine Ehre.“ Kerrison bestätigt, was Wiggins sagte: dass seine Trainingsprogramme den Charakter von „Vorschriften“ haben. „Allerdings versuche ich, so viel Input wie möglich von Brad zu bekommen. Ich rede viel mit Shane, aber nachdem ich in die Rolle hineingewachsen bin, fühle ich mich besser in der Lage, das Programm allein zu schreiben und es Shane dann vorzulegen.“

Kerrison schätzt auch, dass Wiggins „sehr trainierbar ist. Er ist durch die British-Cycling-Schule gegangen und gewöhnt, gecoacht zu werden“. Das unterscheidet ihn von anderen, denn einige Fahrer beim Team Sky – wie Bernhard Eisel – hatten nie einen Trainer. „Das ist ein Teil des Prozesses bei einigen anderen“, gibt Kerrison zu, „ihnen beizubringen, sich trainieren zu lassen.“ Bei Wiggins ist Leistung alles, und sie scheint der Schlüssel zu sein, wenn es darum geht, das Team anzuführen. Er ist kein Hinault, kein Armstrong und auch kein Cavendish – er kann die Kapitänsrolle nicht mit der schieren Kraft seiner Persönlichkeit ausfüllen. Aber wie wir bei Paris – Nizza gesehen haben, kann er, wenn er gut fährt, ein effektiver Kapitän sein. Die Unterstützung, die er vor allem von Geraint Thomas sowie von Richie Porte und Rigoberto Uran bekam, bezeugte das. „Ich glaube, als Brads Leistungen im letzten Jahr besser waren und er selbstbewusster wurde, machte er sich auch als Kapitän besser“, sagt Kerrison.
 
Ein anderer Aspekt der Kapitänsrolle ist, mit dem externen Druck durch die Medien, die Fans, die Twitterati umzugehen. Wiggins würde sofort zugeben, dass ihm das nicht leichtfiel, trotzdem ist das für uns Journalisten verwunderlich. Er kann sich ausdrücken. Er ist intelligent. Sein Sinn für Humor ist messerscharf. Vielleicht ist die Schüchternheit das Problem. Und es ist ein Problem, weil seine Beziehung zu den Medien ein größerer Stressfaktor für Wiggins ist. Hier kommt Sutton zur Geltung. Er kann streng zu Wiggins sein, ihn aber auch sehr unterstützen. Aber wenn Sutton „sein Leben sortierte“, was genau meint er damit?

„Er ist der einzige Mensch im Radsport, der mich gut genug kennt, in- und auswendig, alle Aspekte meines Lebens, nicht nur den Radsport“, sagt Wiggins. „Es gibt sehr wenige Leute, wenn du im Sport dieses Niveau erreichst, die dir ganz direkt sagen, was Sache ist. Weil ich sehr überzeugend sein kann, wenn ich will, dass etwas gut klingt. 2010 war es oft so – gute Gründe zu nennen, warum ich etwas nicht mache. Aber Shane ist jemand, der sagt: ‚So wirst du das machen. Wir haben uns zusammengesetzt, Tim und ich, und gründlich darüber nachgedacht, was wir machen werden.‘ Von Shane bekomme ich Ehrlichkeit, und damit fängt das Vertrauen an. Er ist auch jemand, den ich zu jeder Uhrzeit anrufen kann. Er ist der Ansprechpartner, wenn es schlecht läuft. Und wenn es gut läuft, wie im letzten Jahr meistens, hebt er auch nicht gleich ab. Er denkt immer an den nächsten Schritt.“

Am Ende der Saison 2011 hieß das, dass man sich nicht auf seinem dritten Platz bei der Vuelta oder seinem zweiten im WM-Zeitfahren ausruhte, sondern sich gleich an die Arbeit für 2012 machte, und das hieß: keine Winterpause. „Was ich vor allem gelernt habe – nach dem Wirbel um meinen vierten Platz bei der Tour und meinem Wechsel zu Sky –, war, den physischen Aspekt richtig hinzubekommen, was das Training angeht“, sagt Wiggins. „Ich gewöhne mich jetzt an diesen Lebensstil, wo es keine Winterpause für mich gibt. Das war eine große Umstellung, aber wenn du als Klassementfahrer antreten willst, ist dein ganzes Leben auf dieses Projekt ausgerichtet. So war es 2010 für mich nicht. Es war nach dem Motto: ,Mach’ im Winter sechs Wochen das komplette Gegenteil von einem Tour-Fahrer, und wenn es wieder losgeht, machen wir es 100 Prozent.‘ Jetzt mache ich es umgekehrt.“
 
Wenn es eine falsche Vorstellung von Bradley Wiggins gibt, wenn er und das Team Wiggins sich methodisch auf die Tour vorbereiten und jeder Schritt auf Datenmaterial basiert, dann, dass er zu berechnend ist, zu besessen von der Wissenschaft des Radsports. Das wäre ironisch, weil er als junger Fahrer von der Romantik und den Traditionen angelockt wurde. Wiggins erinnert sich daran, wie er Radsportzeitschriften studierte, und gibt zu, ein Radsport-Fachidiot gewesen zu sein. „Ich bin es immer noch“, sagt er. „Ich habe mir die letzten zehn Tage der Tour de France im letzten Jahr angeschaut, saß mit gebrochenem Schlüsselbein auf dem Sofa – als Fan. Andy Schleck attackieren zu sehen und die Etappe nach Alpe d’Huez – es war toll. Ich habe das nicht verloren“, fügt er hinzu – mit so viel Gefühl, dass man augenblicklich die Wissenschaft vergisst, das „wir“ statt „ich“, und stattdessen Wiggins’ Leidenschaft für seinen Sport spürt. Er fängt sich und fügt hinzu: „Ich lese nicht mehr täglich alles in der Presse wie früher – dass Fabian Cancellara die Unterhose gewechselt hat und so. Aber ich liebe den Sport immer noch. Er hat mir alles gegeben.“ 



Cover Procycling Ausgabe 99

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 99.

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