On Edge

Nach vielen vergeblichen Anläufen, etlichen gebrochenen Versprechen und ungezählten verschwendeten Dollars hat Australien endlich ein eigenes WorldTour-Team. Kann GreenEdge den australischen Traum vom Erfolg auf der Straße umsetzen?

 

Von der Tour Down Under hing für GreenEdge sehr viel ab. Mit starker nationaler Identität gegründet, musste das erste australische ProTeam beim größten Rennen des Landes einen Erfolg abliefern. Nach Cadel Evans’ historischem Tour-de-France-Sieg im letzten Jahr war die öffentliche Erwartung noch größer; GreenEdge selbst hatte die TDU als wichtiges Ziel ausgegeben, bei dem sie unbedingt gewinnen wollten.

Der Endspurt war vielversprechend. Eine Woche zuvor hatte das Team mit Simon Gerrans und Luke Durbridge das Straßenrennen und das Zeitfahren der australischen Meisterschaft gewonnen. Aber die Geburt eines neuen Teams verläuft selten ohne Probleme – man denke nur an Sky und Leopard Trek, die beide eine Welle der Publicity auslösten, um dann von den unerreichbaren Erwartungen überschwemmt zu werden. So stand GreenEdge bei seinem Tour-Down-Under-Debüt unter großem Druck, zumal der Termin des Rennens gleich zu Beginn der Saison der Mannschaft keine Zeit ließ, irgendwelche Last-Minute-Pannen auszubügeln. Mit einem Sieg würden sie ihre Kritiker zum Schweigen bringen, den Radsport in Australien noch populärer machen und zeigen, dass mit dem weitgehend australischen Team zu rechnen ist.

Am Vorabend des Rennens musste sich das Team mit einer Anzeige wegen Körperverletzung gegen Stuart O’Grady herumplagen, die jedoch unbegründet war und nicht weiter verfolgt wurde. Ernstzunehmender war, dass die Manager rivalisierender Rennställe – als das Rennen im Gange war – den Eindruck hatten, dass GreenEdge nicht mithalten konnte, und Form und Vorbereitung des Teams offen in Frage stellten.

Obwohl er bei der TDU 2011 mit nur zwei Sekunden Rückstand Gesamt-Zweiter geworden war, wurde der beste Sprinter von GreenEdge, Matt Goss, zum Helfer degradiert. War das die richtige Art, den Mailand-San-Remo-Sieger und bekanntesten Fahrer des Teams beim größten Rennen des Landes zu behandeln? „Wir sind mit der Erwartung angetreten, dass wir gewinnen, wir wollten gewinnen – das war das Ziel, als wir das Team gegründet haben“, erklärte GreenEdge-Sportdirektor Matt White. „Wir mussten die australische Meisterschaft gewinnen und wir wussten Anfang Dezember, dass Gossy für Down Under nicht bereit sein würde. Gerrans war immer unser Mann“, erklärte der Manager weiter. „Das haben wir schon vor langer Zeit klar gesagt.“
 
Simon Gerrans, mit 31 Jahren die große Hoffnung von GreenEdge, wurde auf der 2. Etappe nach Stirling Dritter. Sprint-Oldie Robbie McEwen holte auf der 3. Etappe in Victor Harbour den fünften Platz, bevor Gerrans auf dem 5. Tagesabschnitt – der Königsetappe – am Willunga Hill mit einem zweiten Platz hinter Alejandro Valverde (Movistar) ins ockerfarbene Trikot des Spitzenreiters fuhr. Aber auch das überzeugte die Kritiker nicht.

In einem Artikel, den die Zeitung The Age am Morgen der letzten Etappe in Adelaide brachte, ließ Sky-Sportdirektor Sean Yates kein gutes Haar am Auftritt von GreenEdge. „Grundsätzlich ist ihre Form nicht gut genug“, urteilte Yates. „Um in gute Form zu kommen, muss man natürlich trainieren und die Sache ernst nehmen. Ihre Verfassung zeigt, dass das nicht der Fall war“, befand er. „Was ihre bisherige Leistung angeht, so haben sie getan, was sie konnten, aber sie zeigen nicht, dass sie alle gute Beine haben. Meiner Meinung nach sind sie nicht in guter Form in die Saison gestartet. Außer Simon, den ich ganz gut kenne, und von dem ich weiß, wie professionell er ist. Vielleicht sollten die anderen sich an ihm ein Beispiel nehmen.“

 

Ob es nun die gute altmodische Rivalität zwischen Briten und Australiern ist oder nicht – Yates’ Kritik warf eine interessante Frage auf: Wie misst man den Erfolg bei einem sechstägigen Rennen? Kann man sagen, dass ein Team versagt hat, wenn einer seiner Fahrer das Spitzenreitertrikot trägt? Ob es im Team Frust gab, war schwer zu beurteilen, obwohl GreenEdge-Finanzier Gerry Ryan halb im Scherz sagte, er sei „enttäuscht, dass wir keine Etappe gewonnen haben. Das war alles, was wir wollten … vielleicht ein oder zwei Etappensiege“.

Vor der letzten Etappe der Tour Down Under, einem 90 km langen Rundstreckenrennen, lagen Gerrans und Valverde zeitgleich auf den Plätzen eins und zwei, und es waren noch so viele Bonussekunden zu holen, dass der Spanier sein Comeback mit dem Gesamtsieg hätte krönen können. Aber da Movistar bei den Sprints nicht mitmischte, lief alles auf Gerrans und sein GreenEdge-Team hinaus.

Am Ende wurde Valverde 25. in einem Massensprint, den André Greipel (Lotto-Belisol) gewann. Gerrans wurde 27., was ihm dank der besseren Etappen-Platzierungen reichte, um das Leadertrikot zu behalten, obwohl die beiden wie schon auf der 5. Etappe zeitgleich ins Ziel kamen. Gerrans hatte die Tour Down Under gewonnen; GreenEdge hatte einen perfekten Start in die Saison hingelegt – und trotzdem wurden immer noch Fragen gestellt. Warum hatte GreenEdge seine Heimatrundfahrt nicht souveräner gewonnen? Wo waren die Etappen-Siege geblieben?

Matt White für seinen Teil schien sich über die Vorwürfe sehr zu ärgern. „Ich bin ein wenig überrascht, wie kritisch die Medien waren. Seit 15 Jahren wollen die Leute ein [australisches] Team, aber weil wir nicht am ersten Tag gewonnen haben, waren wir bei einigen gleich unten durch“, sagte er gegenüber Procycling. Auf die Bemerkungen von Yates entgegnete er: „Letztlich haben wir das Rennen gewonnen, obwohl er das größte Budget im internationalen Radsport hat.“
Auch Gerrans, der die ersten beiden Jahre bei Sky miterlebt hat, schüttelte über Yates’ Kommentar den Kopf. „Sean kennt die Situation doch selbst am besten“, sagte er. „In unserem ersten Jahr bei Sky mussten wir uns auch jede Menge Kritik anhören, weil wir nicht gleich vom ersten Tag an superkonkurrenzfähig waren. Vielleicht ist das bei neuen Teams einfach so.“

Tadel kam auch von Phil Anderson, dem ersten Australier, der das Gelbe Trikot der Tour de France trug. Als Nachbar von Simon Gerrans war er derjenige, der Gerrans dazu inspirierte, mit dem Radsport anzufangen, aber Anderson bewertete die Taktik von GreenEdge als „riskant“, zumal Gerrans am Willunga Hill nur mit hauchdünnen Vorsprung ins Leadertrikot schlüpfte. „Als Simon auf dem Rundkurs zum Schluss isoliert war, war das eine sehr gefährliche Situation“, so Anderson. „Wenn das mein Team wäre, würde ich mich darüber ganz schön aufregen. Aber sie können aus ihren Fehlern lernen und dafür sorgen, dass das in dieser Saison nicht noch mal passiert.“

Schließlich gab sogar Gerrans etwas widerwillig zu, dass der GreenEdge-Zug nicht so gut rollte wie erhofft, obwohl der Großteil des Teams in der Vergangenheit in den aus-tralischen Farben zusammengearbeitet hatte.
„Auf den ersten beiden Etappen mussten wir erst einmal Fuß fassen“, erklärte Gerrans. „Wir waren vorher nicht alle zusammen bei einem Etappenrennen angetreten. Natürlich hatten wir die australischen Meisterschaften und einige Weltmeisterschaften und Olympische Spiele zusammen bestritten, aber es dauert ein paar Tage, bis jeder seine Rolle im Team gelernt hat. Das haben wir in den letzten Tagen gemacht, und jeder steigert sich und erfüllt seine Position im Team, viel mehr kann ich von den Jungs nicht verlangen“, sagte er weiter. „Ich wusste, dass es sehr wichtig für das Team ist, einen guten Start hinzulegen und gleich ein paar Resultate zu erzielen. Deswegen habe ich mir die australische Meisterschaft und die Tour Down Under zum Ziel gesetzt. Die Termine hatte ich mir angekreuzt, und so ist es ein Traumstart in die Saison.“

Etappensieg hin oder her, das Team GreenEdge hat den Job erledigt, zu dem es angetreten ist. „Es gibt nur ein erstes Mal“, betonte White, „und wir haben es geschafft.“



Cover Procycling Ausgabe 98

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 98.

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