Chancenungleichheit

Mit einer Goldmedaille im Zeitfahren und einer Bronzemedaille im Straßenrennen der WM gehören Judith Arndt und Ina-Yoko Teutenberg zu den besten Radsportlerinnen auf dem Planeten. Was kaum jemand weiß, zumal der Frauenradsport im Bewusstsein der Öffentlichkeit weit hinter dem der Männer hinterherhinkt. Hier sprechen die beiden HTC-Fahrerinnen über ihre Zukunft.

 

Ina, fangen wir mit dir an. Eine bittersüße Bronzemedaille im Straßenrennen?
IT Nein, ich war ganz zufrieden mit Bronze, aber ein bisschen enttäuscht, dass es kein Gold war. Ich habe Giorgia Bronzini in diesem Jahr regelmäßig geschlagen, aber ehrlich gesagt mag ich keine ansteigenden Sprints wie in Kopenhagen.
 
Was ist mit Marianne Vos los? Das ist jetzt schon ihre fünfte Silbermedaille hintereinander im Straßenrennen …
IT Ich weiß nicht. Man kann nicht einmal sagen, dass sie etwas falsch gemacht hat. Ich glaube, sie war die Schnellste in Kopenhagen, aber ihr Timing hat einfach nicht gestimmt. Was nicht heißen soll, dass Bronzini den Sieg nicht verdient hat – sie war die Cleverste, und so ein Finale kannst du nicht gewinnen, wenn du keine guten Beine hast. Wenn du dir die fünf zweiten Plätze von Marianne anschaust – da ist jedes Mal eine Kleinigkeit schiefgelaufen: 2007 fuhr Marta Bastianelli allen davon, und Mariannes Team konnte sie nicht mehr einholen; 2008 war sie vielleicht übermotiviert und hat über die Stränge geschlagen – aber dafür lieben wir sie; 2009 war sie zwischen zwei Italienerinnen eingeklemmt; 2010 zog sie ihren Sprint früher an, als sie eigentlich wollte, weil sonst Judith und Nicole Cooke weg gewesen wären, und daran hat sie sich vielleicht dieses Jahr erinnert und ein bisschen länger gewartet – gegen ihren Instinkt.
 
Judith, du hast in den letzten Jahren im WM-Zeitfahren viele knappe Niederlagen hinnehmen müssen. Was war diesmal anders?
JA Alles muss perfekt sein, und dieses Mal war es das. Mein Training, das Rad, der Kurs … es war alles perfekt. Es war nicht so, dass ich eine bestimmte Verbesserung gemacht hätte. Viele aus unserem Team waren im Windkanal, aber ich habe seit Jahren die gleiche Haltung.
 
Ihr habt beide sehr davon profitiert, wie es scheint, dass ein Frauenteam an ein Männerteam und seinen Sponsor gekoppelt ist. Leider wird es Highroad Ende 2011 nicht mehr geben …
IT Es ist natürlich traurig, dass das Team aufgelöst wird, zumal wir drei der vier Elite-Titel in Kopenhagen gewonnen haben und trotzdem keinen Sponsor gefunden haben. Das ist niederschmetternd. Wenigstens hatten die meisten Jungs, auch dank ihres Erfolgs in unserem Team, keine allzu großen Probleme, irgendwo anders etwas auf ähnlichem Niveau zu finden. Für die Frauen gibt es fast nichts, wo du dieselben Ressourcen bekommst wie bei Highroad. Es könnte etwas in der Mache sein, aber wir können noch nicht darüber reden.
JA Es ist wirklich schade. HTC-Highroad war einfach das beste Team, das du als Frau in dieser Sportart finden konntest. Es war so professionell. Alles wurde getan, um sicherzustellen, dass du dich nur auf dein Rad zu konzentrieren brauchtest. Gleichzeitig haben sich die Mitarbeiter immer die Meinung der Fahrerinnen über ihr Rennprogramm und so weiter angehört. Solche Bedingungen werden wir anderswo kaum finden. Ich habe eine Vereinbarung mit jemandem für nächstes Jahr, kann aber noch nicht darüber reden.

Nach dem Interview kündigte die frühere HTC-Highroad-Pressesprecherin Kristy Scrymgeour an, dass die Frauen-Equipe unter dem Namen Specialized lululemon weiterleben soll. Teutenberg gehörte zu den ersten Fahrerinnen, die für das neue Team vermeldet wurden – neben Amber Neben, Evelyn Stevens und Clara Hughes. Der Name Arndt fehlte auf dieser Liste.

 
Judith, würdest du zustimmen, dass die Verbindung eines Männer- und eines Frauenteams unter demselben Sponsor eine gute Strategie ist, um den Frauenradsport voranzubringen?
JA Es ist gut für den Sponsor und für uns. Es zeigt, dass sie zukunftsorientiert sind – gesellschaftlich. Es spiegelt eine moderne Perspektive in einer Sportart wider, die sich damit manchmal schwergetan hat. Der Radsport hat viel Geschichte, er wirkt alt, und vielleicht muss er in diesem Sinne eine neue Richtung einschlagen.
IT Die Sponsoren wollen natürlich Männer-Teams, weil das viel mehr im Fernsehen übertragen wird, aber das führt dazu, dass viele Leute eingestellt werden, und es viel technische Entwicklung und Know-how gibt. Davon profitieren wir schließlich auch – was sie bekommen, bekommen wir auch. Das kann sich ein einzelnes Frauenteam einfach nicht leisten. Obwohl es sehr schade ist, dass unser Team dicht macht, kommen wenigstens Rabobank und Green Edge an Bord.
Es wundert mich eigentlich, dass Rabobank nicht schon vor Jahren ein Frauenteam ins Leben gerufen hat. Sie sponsern ja schon alle niederländischen Nationalteams. Wenn du dir anschaust, was das Nederland-Bloeit-Team letztes Jahr erreicht hat und was Marianne Vos alles gewonnen hat, da wäre es fast verwunderlich gewesen, wenn sie kein Team aufgemacht hätten. Das Geld für ein Frauenteam zahlt so ein Unternehmen doch aus der Portokasse.
 
Um noch einmal auf Highroad zurückzukommen – das ist das Ende eurer Verbindung mit Bob Stapleton, der das Frauenteam managte, bevor er die Männer übernahm.
IT Ich habe wohl eine andere Verbindung zu Bob als alle anderen Frauen. Er hat meine Karriere praktisch gerettet. Er rief mich Ende 2004 an, als ich gerade wegen einer Operation ein Jahr ausgesetzt hatte. Ich habe es mit ihm weit gebracht. Er hat mich immer unterstützt und uns das Gefühl gegeben, Teil der Gruppe und so wichtig wie die Männer zu sein. Gleichzeitig wusste er, dass wir viel weniger zu gewinnen haben als die Männer, dass wir es vor allem aus Leidenschaft machen. Deswegen war er etwas netter zu uns.
 
Der Frauenradsport in Deutschland scheint trotzdem ganz gute Strukturen zu haben – gute Rennen und Teams und so weiter. Kann man das so sagen?
JA Ja, das stimmt.
IT Wir bekommen Unterstützung vom Verband, aber in letzter Zeit war ich eigentlich nicht an der Basis, um zu sehen, was die Vereine und der Verband machen. Auch mit der Nationalmannschaft fährst du nur eine Woche zur Weltmeisterschaft, und das ist alles …
JA Der Verband unterstützt den Frauenradsport, weil er olympisch ist.
IT Und normalerweise bekommen wir aufgrund unserer Leistung mehr Startplätze als die Männer, weil wir in den letzten Jahren bei den Olympischen Spielen und den Weltmeisterschaften relativ erfolgreich waren.
 
Schafft die Tatsache, dass der Männerradsport in Deutschland derzeit einen so schweren Stand hat, Möglichkeiten für die Frauen?
JA Ich weiß nicht. Die Leute behandeln Männer- und Frauenradsport zwar wirklich unterschiedlich, aber wenn es um Doping geht, werfen sie alles in einen Topf: Es ist einfach Radsport. Das ärgert mich. Sie differenzieren nicht. Wenn ich auf der Straße trainiere, rufen mir immer noch Leute „Doper“ hinterher. Das ist nicht schön.
 
Empfindest du eine gewisse Bitterkeit gegenüber Jan Ullrich und anderen, die zu diesem Image beigetragen haben? Einige dieser Leute arbeiten in deinem Team …
IT Ich bin nicht verbittert. Es liegt auch an der Presse und wie sie damit umgegangen ist. In ihren Augen ist der Radsport das schwarze Schaf. Ich habe gerade einen interessanten Artikel von einem Franzosen gelesen, der über Doping im Fußball spricht und fragt, wie die Leute so naiv sein können zu glauben, dass es dort nicht passiert. Michael Ballack lehnt es zum Beispiel ab, am ADAMS [Anti-Doping Administration and Management System] teilzunehmen, weil es eine Verletzung seiner Privatsphäre sei. Ich meine, er verdient sechs Millionen im Jahr – er könnte jemanden einstellen, der seine ADAMS-Formulare für drei Monate ausfüllt. Aber er sagt, nein, das sei ein Eindringen in seine Privatsphäre. Das gehört für einen Sportler heute einfach dazu. Ich glaube, der Radsport tut mehr als jede andere Sportart, aber die Leute sehen das nicht.
 
Die UCI hat in den letzten Jahren sehr viel Geld und Ressourcen in Kontrollen im Männerradsport gesteckt. Gab es bei den Frauen ähnliche Investitionen und Verbesserungen?
JA Ja und nein. Ich denke, wir sind seit Einführung von ADAMS im Jahr 2006 relativ oft getestet worden.
IT In Deutschland muss außerdem der Verband eine bestimmte Anzahl an Kontrollen bei uns machen, sonst können wir nicht zur Weltmeisterschaft. Ich glaube, sie haben einen Top-Testpool mit einer Quote. Es gibt mehrere Bluttests und zwischendurch Urinkontrollen. Ich bin zu Hause in Kalifornien mehrere Male von der UCI kontrolliert worden. Bei den Rennen werden wir genauso oft getestet wie die Männer.
 
Einige der Topfahrer sagen, sie werden 60  oder 70 Mal im Jahr getestet. Wie oft werdet ihr kontrolliert?
IT Vielleicht 20 Mal oder etwas mehr …
JA Nicht öfter?
IT Nein, weil ich einige Nicht-UCI-Rennen gewonnen habe, wo du nicht getestet wirst. Insgesamt also vielleicht 25 bis 30 Mal. Aber du musst auch bedenken, dass wir weniger Rennen fahren.
 
Es gab sicher weniger Skandale im Frauenradsport, aber einer der größten ist gerade bekannt geworden: Jeannie Longo wird offiziell vorgeworfen, Dopingkontrollen verpasst zu haben, und in den Medien war von EPO die Rede. Wie habt ihr darauf reagiert?
IT Es ist niederschmetternd. Wir wissen nicht, ob es eine Situation wie bei Michael Rasmussen ist – aber ich würde jetzt schon sagen, dass ihre Entschuldigungen nicht gut genug sind, aus meiner Sicht. Sie ist seit so vielen Jahren auf einem hohen Niveau, sie hat mit anderen Fortschritten und technischen Neuerungen immer Schritt gehalten, warum kann sie mit ADAMS nicht Schritt halten? Ich muss es machen, alle anderen Frauen müssen es machen, das gehört heute einfach dazu. So kämpfen wir gegen Doping. Wie gesagt, es wäre verheerend, wenn ihre Karriere so enden würde. Alles, was sie erreicht hat, ist keine Entschuldigung dafür, es nicht zu tun.
JA Es wäre eine Schande, aber sie muss die Verantwortung übernehmen. Es gibt keine Entschuldigungen.
 
Judith, glaubst du, sie hat gedopt?
JA Ich weiß nicht. Ich kann es nicht sagen.
 
Die Ressourcen sind kleiner, es gibt weniger zu gewinnen, aber haben die Fahrerinnen auch eine ganz andere Einstellung zum Doping?
IT Ende der 90er bin ich gewisse Rennen gefahren und von gewissen Fahrerinnen in den Bergen abgehängt worden, und es kam mir einfach komisch vor. Seit auf EPO und Wachstumshormone getestet wird, scheint es viel fairer zu sein. Es wachsen viele talentierte Fahrerinnen nach, und sie haben nach und nach diejenigen verdrängt, die sich möglicherweise nicht an die Regeln hielten. Ende der 90er, ja, da hatte ich auf jeden Fall das Gefühl, dass ich bei einigen Rennen gegen gedopte Fahrerinnen verloren habe, aber das ist heute nicht mehr der Fall.
JA Das würde ich auch sagen.

 

Kann man sagen, dass der Frauenradsport – ungeachtet der Leistungen von Longo – nie einen großen Star hatte, der einen so großen Marktwert hatte wie die Männer und den Frauenradsport international hätte etablieren können?
IT Nun ja, es gab Leontien Van Moorsel. Sie war in Holland ein Star. Ihr Ehemann hat sie gut promotet und sie ist immer noch sehr bekannt.
 
Und vielleicht ist der Frauenradsport in Holland durch sie so populär geworden …
IT Ja, weil es im Moment das Land mit den meisten jungen Talenten ist. Sie haben so viele gute Mädchen unter 25. In dieser Hinsicht kann kein anderes Land mit ihnen mithalten. Diese Mädchen haben wahrscheinlich alle zugeschaut, als Leontien 2000 drei Goldmedaillen gewonnen hat. Sie haben diese Höhen miterlebt. Sogar Marianne Vos vermag die holländische Öffentlichkeit nicht so zu begeistern, wie Leontien es tat. Aber es ist ein Teufelskreis: Wir haben keine großen, vermarktbaren Persönlichkeiten, weil die Leute uns nicht im Fernsehen sehen. Im Moment kennen die Leute unsere Namen, viele kennen unsere Gesichter, aber sie sehen eigentlich nichts von unserer Persönlichkeit und unserem Sport.
 
Ein etwas anderes Thema, und um noch mal auf das Profil des Frauenradsports zurückzukommen: Wir haben vorhin über die Kopplung von Frauen- und Männerteams gesprochen, aber ein anderes wichtiges Marketing-Instrument für den Frauenradsport ist, ihre Rennen am gleichen Tag und am gleichen Ort wie das Pendant der Männer auszutragen …
IT Ja. Ich meine, wenn wir Eintagesrennen am gleichen Tag wie die Männer haben, ist das großartig für uns. Beim Flèche campieren die Leute alle schon am Straßenrand und warten auf das Männerrennen, aber sie feuern uns genauso an. Flèche ist nicht mein Rennen, aber selbst fünf Minuten nach der Siegerin auf die Mur de Huy zu kommen, war eines der schönsten Erlebnisse in meiner Saison.
JA Was wir wirklich brauchen, ist das Fernsehen. Wenn du dir anschaust, wie viel Sendezeit die Skiläuferinnen und Schwimmerinnen bekommen, ist schwer zu verstehen, warum das Fernsehen keinen Frauenradsport zeigt. Man sollte denken, dass sie unsere Flandern-Rundfahrt und unseren Flèche zeigen, da sie am selben Tag sind, aber das tun sie nicht. Aber glücklicherweise geht es in die richtige Richtung. Die UCI bemüht sich sehr darum, dass die Weltcup-Rennen übertragen werden. In Asien und Australien wollen sie unsere Weltcup-Rennen jetzt, glaube ich, live zeigen. Das ist ein guter Schritt. Ich glaube, es ist nur eine Frage der Zeit, bis der Radsport mit anderen Sportarten wie Leichtathletik, Tennis oder Schwimmen vergleichbar ist – in dem Sinne, dass die Frauenwettbewerbe einen ähnlichen Stellenwert haben wie die der Männer.
IT Es ist komisch, weil viele Leute unsere Weltmeisterschaftsrennen sehen und das Feedback wirklich gut ist. Es sind meistens tolle Rennen. Die Leute, die mit dem Radsport zu tun haben, die normalerweise nur einmal im Jahr ein Frauenradrennen sehen, sind begeistert. Die Leute haben mir gesagt, dass das Straßenrennen der Frauen 2009 in Varese eines der spannendsten war, das sie je gesehen haben. Das sind Typen, die seit 40 Jahren mit dem Radsport zu tun haben, die das sagen … Und trotzdem zeigen sie unsere Rennen immer noch nicht.
 
Würdet ihr sagen, dass das Fehlen einer großen, prestigeträchtigen Rundfahrt auch ein Handicap ist? Die Tour de France der Frauen gab es mit Unterbrechungen unter verschiedenen Namen, sie hat sich aber nie zum Höhepunkt der Saison entwickelt. So ein Rennen  würde den Frauenradsport doch nach vorne bringen, oder?
IT Ja. Der Giro d’Italia ist ein gutes Beispiel, den zeigen sie tatsächlich im Fernsehen – 15 oder 20 Minuten am Tag. Er findet immer zur gleichen Zeit wie die Tour de France der Männer statt, also zeigen sie die Tour im italienischen Fernsehen, und gleich im Anschluss kommt eine Zusammenfassung der Highlights des Frauen-Giro. In Italien sind die Fahrerinnen ziemlich bekannt. Sie sind Stars. Das hilft. Anfangs müssen die Übertragungen ja nicht jedes Mal stundenlang sein, Hauptsache, sie zeigen es überhaupt. Das Rennen macht sich gut, und sie scheinen jedes Jahr mehr Geld zu haben, weil die Organisation besser wird.
 
Judith, eine Aktion, die die Leute sehr wohl wahrgenommen haben, war dein Stinkefinger auf der Ziellinie beim olympischen Straßenrennen in Athen. [Arndt sagte später, dass die Geste dem deutschen Auswahltrainer galt, der Arndts Lebensgefährtin Petra Roßner nicht nominiert hatte.]
JA Das ist ja schon lange her. Es war nicht geplant. Ich kann nicht sagen, dass ich es nicht wieder tun würde, weil es damals einfach so passierte. Es hätte nicht passieren sollen, aber weißt du, das ist Sport, du leidest, du bist emotional, und manchmal hast du dich nicht mehr unter Kontrolle …
IT Shit happens. Aber das Foto war klasse.
 
Immerhin hast du nicht behauptet, es hätte mit der Schlacht von Agincourt zu tun, wie Cavendish, als er bei der Tour of Romandie 2010 ein obszönes Victory-Zeichen machte … 
IT Wenigstens kennt er sich mit Geschichte aus – oder weiß, wie man Wikipedia benutzt! 



Cover Procycling Ausgabe 94

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 94.

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