Welt(meister)liche Weisheiten

Eine Weltmeisterschaft, die auf die reinen Sprinter zugeschnitten ist, gibt es nicht allzu oft – und selbst dann müssen viele Faktoren für einen Sieg zusammenkommen. Anbei eine Anleitung.

 

Das erste Mal, als die Weltmeisterschaft in einem Massensprint endete (1934), war ein Desaster. Das Rennen wurde in Leipzig im Nazi-Deutschland ausgetragen, ging bis in die Dämmerung und war außerordentlich langweilig. Nur Reifenpannen trugen zur Belebung bei. Der Parcours war vollkommen flach, und die belgische Auswahl trat mit einem jungen Spezialisten für Kirmesrennen namens Karel Kaers an, der erst 20 Jahre alt war. Natürlich gewann er. Er war der jüngste Weltmeister in der Geschichte des Straßen-Radsports, gewann aber nie ein weiteres bedeutendes Rennen. 1952 war der nächste siegreiche Sprinter, der Deutsche Heinz Müller, ebenfalls kein Star. Generell waren die frühen Weltmeisterschaften, die im Sprint entschieden wurden, langweilig.

Sie sind besser geworden, aber dass die WM im Massensprint entschieden wird, ist immer noch selten, denn einen solchen herbeizuführen, ist alles andere als einfach. Ein Sprinter braucht Teamkollegen – die in der Saison häufig seine Rivalen sind – oder andere Verbündete im Peloton. Die Ausreißer sind schwerer zu kontrollieren als bei einer großen Rundfahrt und die ungebetenen Gäste normalerweise gefährlicher. Seit 2000 scheint das Rennen um das Regenbogentrikot den zähen Sprintern besser zu liegen. In elf Jahren haben Sprinter siebenmal triumphiert, vielleicht weil das Feld größer war oder die Favoriten – die, wie wir jetzt wissen, manchmal pharmazeutisch nachhalfen – besser mit der extremen Distanz und den wiederholten Anstiegen zurechtkamen. Trotzdem bleibt die Alchemie der Sprinter eine schwierige Wissenschaft bei der Weltmeisterschaft.
 

 


Bestich deine Teamkollegen
Sich als reines Sprinter-Team auf die WM vorzubereiten, ist fast unmöglich. Die Italiener waren die letzten, die ein Team gezielt nur mit einem Plan A präparierten. 2002 in Zolder stellte der neue Auswahltrainer Franco Ballerini seinem Kapitän Mario Cipollini elf loyale Domestiken zur Seite. Unter den elf fanden sich einige, die sonst seine Rivalen waren. Was an dem Tag passierte, ist eine Lehrstunde in Sachen Management. Die Squadra Azzurra pflegte in Querelen zu versinken, die letztendlich die Chancen ihrer Nation zunichte machten – wie 2001, als Paolo Lanfranchi seinen Landsmann Gilberto Simoni jagte, um seinen Mapei-Kapitän Oscar Freire zu beschützen.

Um derartige Allianzen zu unterbinden, setzte Italien Geld ein. Cipollini war bereit, etwas von einer beträchtlichen Prämie abzugeben, die sein Sponsor für den Sieg auslobte. Der italienische Verband legte noch mal was drauf und versprach Gratifikationen – angeblich zwischen 250.000 und 500.000 Euro – für Fahrer, die dem charismatischen Sprinter zum Sieg verhalfen. Eine Woche vor der Weltmeisterschaft hatten Cipollinis Teamkollegen bei Acqua e Sapone angedeutet, dass sie dem Mapei-Fahrer Paolo Bettini bei Paris – Tours hatten helfen müssen. „Cipo“ und Bettini hatten in Zolder jeweils drei Domestiquen, aber dieser Akt und die Zahlungen sorgten dafür, dass sich alle auf denselben Plan verständigten.

Die Einheit des Teams ist die stärkste Waffe eines Sprinters, und in diesem Fall basierte sie auf einem Haufen Geld. Lieber ein kleines Team, das fest zusammenhielt, als ein großer, zusammengewürfelter Anarcho-Haufen. Der Beweis? Romãns Vainšteins gewann 2000 mit nur einem Helfer, Thor Hushovd 2010 mit nur zwei.
 
Rekrutiere Verbündete
Bei der anarchischen Weltmeisterschaft sind Möchtegern-Sieger, die ohne die Sprintanfahrer ihres Sponsorenteams unterwegs sind, auf jede Hilfe angewiesen, die sie bekommen können. Der Pragmatismus schreibt vor, dass die Verhandlung weitergeht. Aber manchmal wird die Idee des Kampfes zwischen den Nationen durch die Gesetze von Protektion, Freundschaft und Bargeld außer Kraft gesetzt. Zwei Beispiele: In Zolder – und obwohl sie mit Cipollini gewannen – beklagte sich die italienische Auswahl, dass der Kolumbianer Santiago Botero auf der letzten Runde für seinen Freund Oscar Freire gearbeitet hatte. Botero, meckerten sie, hätte selbst um den Sieg sprinten sollen, statt einem Fahrer aus Spanien Beihilfe zu leisten. Botero war jedoch kein Sprinter und wusste das und hatte sich daher entschieden, stattdessen für Freire zu fahren. Nicht, dass das dem Spanier etwas genützt hätte – er kam mit den Nachzüglern ins Ziel, nachdem er im Finale gestürzt war.

Drei Jahre später bei der Weltmeisterschaft in Madrid ignorierten zwei britische Fahrer, Tom Southam und Charlie Wegelius, die Teamorder, für Roger Hammond zu fahren, und stellten sich in den Dienst ihrer Kollegen aus ihren italienischen Sponsorenteams. Ihre Aktionen, um frühe Angriffe der Squadra Azzurra zu verteilen, waren mehr als auffällig und brachten ihnen eine lebenslange Sperre für die bri-tische Auswahl ein. Auch der damalige Nationaltrainer John Herety quittierte den Dienst. In den Augen von David Brailsford, dem Performance Director von British Cycling, entsprach ihr Verhalten nicht der neuen Professionalität, die nun Einzug hielt. Gianni Savio, der Trainer der kolumbianischen Auswahl, sagte: „Ich denke, quer verlaufende Allianzen sind akzep-tabel, solange sie sich im Kontext von Freundschaft und Gefälligkeiten bewegen und kein Geld den Besitzer wechselt.“
 
Achtung Scharfschützen
In Geelong im vergangenen Jahr versuchten Wladimir Gusew und Janez Brajkovic – beinahe mit Erfolg – den Sprintern den Sieg wegzuschnappen. 3.000 Meter vor dem Ziel lancierten sie ihre giftige Attacke. Augenblicke später, als sie zu verpuffen begann, trat Niki Terpstra hart an und erhöhte abermals den Druck auf die Sprinter. Dabei einte die Angreifer keine Allianz, die auf Nationalität, Sponsorenteam oder Fahrertyp beruhte – was sie gemeinsam hatten, waren ihr enormer Angriffsinstinkt und ein unerschütterliches Vertrauen in ihre Fähigkeiten.

Normalerweise, in ihren Sponsorenteams, hätte keiner von ihnen versucht, den Sprintern zuvorzukommen, aber das Regenbogentrikot verlieh ihnen offensichtlich eine ungeahnte Motivation. Diese Scharfschützen gewinnen laut Statistik jedoch selten die WM. 1982 setzte sich Giuseppe Saronni auf den letzten 500 Metern erfolgreich vom Feld ab. 2000 hatte der Baroudeur Andrej Tschmil weniger Glück: Er wurde 300 Meter vor der Linie abgefangen. Die schnellen Männer müssen sich noch vor anderen ungebetenen Gästen in Acht nehmen – die Sprinter aus der zweiten Division. 2000 war Vainšteins an dem Tag vielleicht der Schnellste im Feld, aber er profitierte auch von der Rivalität zwischen Bettini und Bartoli, dessen Hinterrad Freire touchiert hatte.

Puncheure werden in einem Finale wie Kopenhagen eine Gefahr darstellen. Werden alle Augen auf Philippe Gilbert gerichtet sein, wenn es auf das Ziel zugeht – vorausgesetzt, er hat nicht schon viel früher angegriffen? Die reinen Sprinter werden es auch mit Klassiker-Spezialisten, Rouleuren und Puncheuren zu tun bekommen. Der Sieg ist eine Frage der Position, der Länge des Sprints, des Glücks und der Ausdauer.
 
Seid euch nicht zu sicher
Das Schöne an der Weltmeisterschaft ist, dass sie unberechenbar ist: Erwartet man einen Massensprint, gibt es einen Solosieg, rechnet man mit einem Solosieger, entscheidet eine Gruppe von abgehärteten Klassiker-Spezialisten das Rennen. Die Vorhersagen, wie sich das Finale abspielen wird, erweisen sich häufig als weit gefehlt. Mit anderen Worten: Ein Sprinter muss mit dem Unerwarteten rechnen.

Im Jahr 2000 lag der Rundkurs in Plouay in der Bretagne den zähen Klassiker-Fahrern, denn nur vier Kilometer vor dem Ziel lag ein Hügel. Vainšteins gewann aus einer Gruppe von 24 Fahrern, die am Ende übrig blieb. Im nächsten Jahr in Lissabon war der Effekt noch deutlicher. Der Parcours galt als sehr selektiv – das schwerste Rennen seit sechs Jahren – und als Segen für Bettini oder Jan Ullrich. Aber statt eines Solosiegers erreichte eine 45-köpfige Gruppe das Ziel. In diesem Jahr wetten die meisten Leute auf einen Sprinter-Erfolg in Kopenhagen. „Das ist die leichteste Weltmeisterschaft seit Zolder“, verkündete der belgische Coach Carlos Bomans. Seine italienischen und französischen Amtskollegen Bettini und Laurent Jalabert stießen in dasselbe Horn.

Ungeachtet dessen schaffen die Experten und Kommentatoren die typischen Bedingungen für alles außer einem Sprint in Kopenhagen und werden sicher eine rebellische Ausreißergruppe inspirieren.
 
Die Ausreißer kontrollieren
Letztes Jahr in Geelong gab es beinahe ein Debakel. Das Peloton ließ zu, dass fünf frühe Ausreißer mehr als 23 Minuten herausfuhren. Der Vorsprung war so groß, dass die Ausreißer das Peloton auf dem Rundkurs fast eingeholt hätten, was bedeutet hätte, dass das ganze Feld hors course und disqualifiziert gewesen wäre … Der Weltmeister wäre einer aus der Gruppe um Matt Brammeier (Irland), Diego Martínez (Kolumbien), Jackson Rodríguez (Venezuela), Mohammed Elammoury (Marokko) oder Oleksandr Kvachuk (Ukraine) gewesen. Die „perfekt“ unschuldige Ausreißergruppe wurde genau deswegen zu einer Gefahr, weil sie nur Fahrer aus Außenseiter-Nationen enthielt.

Der Australier Matt Goss findet es wichtiger, auf die Teams zu achten als auf individuelle Fahrer. „Manchmal findet da eine Art Schachspiel statt“, sagt er zu Procycling. „Du musst auf die anderen sechs oder acht Länder achten, die dieselbe Anzahl von Fahrern und eine echte Siegchance haben, und aufpassen, dass sie nicht in die Ausreißergruppe kommen. Niemand will die Verfolgungsarbeit leisten. Die anderen Länder warten darauf, dass die Nation mit dem stärksten Team und einem Fahrer, der gewinnen kann, die Verantwortung übernimmt“, erklärt Goss, „aber keiner will das Team sein, das die ganze Verantwortung am Hals hat.“

Komplizierter wird die Sache durch das Funkverbot bei der Weltmeisterschaft, obwohl das laut Goss nur zur Folge hat, dass „das Peloton die Ausreißer nicht so weit wegkommen lässt, weil wir nicht [über die Abstände] auf dem Laufenden gehalten werden“. Letzten Endes heißt es am Tag der Weltmeisterschaft, jemanden in die Ausreißergruppe zu bekommen. Wenn das nicht klappt, sollte auch kein Konkurrent dort vertreten sein.



Cover Procycling Ausgabe 92

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 92.

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