Der kolumbianische Radsport boomt und hat mehr Profis auf höchstem Niveau denn je. Aber die einzigartige Radsportkultur des Landes vereint auch ein gespaltenes Land. Matt Rendell stellt fest, dass die Erfolge der Radsportstars Kolumbiens ein ganzes Land inspirieren, aber auch strukturelle Probleme überdecken.
Vor einem Jahr, im Februar 2020, saß ein weinender Jhon Anderson Rodríguez auf seinem Koffer neben den Check-in-Schaltern am El-Dorado-Flughafen in Bogotá. Das in Medellín beheimatete EPM-Scott-Team war mit sieben anderen Fahrern ins hoch gelegene Boyacá gereist – und sechs von ihnen sollten ausgewählt werden, um bei der Tour Colombia 2020 anzutreten. Rodríguez war ehemaliger Zeitfahr-Welt-meister der Junioren und Medaillengewinner der Jugend- Olympiade 2014. Er war Egan Ber-nals Teamkollege bei der Tour de l’Avenir 2016 gewesen, wo Bernal Vierter geworden war und Rodríguez eine Etappe gewonnen hatte. Aber
er wurde nicht für die Tour Colombia 2020 aus-gewählt. Das internationale Peloton flog nach Boyacá, und Rodríguez war in der Hauptstadt ein paar Stunden weiter südlich und reiste mit feuch-ten Augen nach Hause.
Sein Frust war mehr als nur persönlich. Beim Radsport ging es hier immer um das jahrhunderte-alte Bedürfnis des Landes, sich mit der großen Welt zu messen. Die Globalisierung erreichte Ko-lumbien früh, nicht zu vergessen in Gestalt einer Flotte spanischer Karavellen. Jahrhundertelang ein abgelegenes Kolonialgebiet, unablässig seines Goldes, seiner Smaragde und seines Territoriums beraubt – darunter die gesamte Panama-Landenge 1903 –, ist die Geschichte des Landes eine der endlosen Brüche. Es ist schwer genug, eine durch-gehende Linie zwischen dem Kolumbien der späten 1990er, als Guerillatruppen die Hauptstadt Bogotá umstellten und US-Diplomaten es einen Failed State nannten, und dem heutigen angesag-ten Rucksack- und Öko-Urlaubsziel zu ziehen, obwohl sich irgendwo auf diesem Weg der Faden durch das Profi-Peloton zieht. Die Rolle von Ko-lumbiens phänomenalem Radsporterfolg im letz-ten Jahrzehnt seiner Transformation – 14 Grand- Tour-Podiumsplätze mit fünf verschiedenen Fahrern von 2013 bis 2019 und die annähernde Verdopplung der Tourismuseinnahmen von 2010 bis 2018 – ist zwar schwer zu quanti fi zieren, aber kaum zu leugnen. Nairo Quintana, Rigoberto Urán, Esteban Chaves, Miguel Ángel López und Egan Bernal haben ihrem Land formidable Res-sourcen an dem gesichert, was Politikwissen-schaftler Soft Power nennen.
Wenn dein Hauptkontaktpunkt mit dem Land der Radsportjournalismus ist, könntest du glau-ben, Kolumbien habe seine uralten Probleme ge-löst. Denn während der arme Jhon Anderson in der Inlandsabflughalle wartete, trainierten Peter Sagan und drei Teamkollegen in Medellín, Anne-miek van Vleuten machte dasselbe in der Kaffee-stadt Manizales westlich von Bogotá, und die ita-lienischen Bahnfahrerinnen beendeten ihr drittes WM-Vorbereitungslager in Duitama. Derweil bereiteten sich sechs WorldTour-Teams darauf vor, eine Tour Colombia zu bestreiten, die sehr span-nend werden sollte.