Lizzie Deignan – Eine neue Frau

Lizzie Deignan erlebte im letzten Jahr eine Enttäuschung bei der Weltmeisterschaft im eigenen Land, aber sie kam zurück und hat große Ziele für die Zukunft. Procycling gegenüber erzählt sie, wie das Leben in den letzten Jahren sie verändert hat.

 

Das Leben, sang John Lennon, ist das, was passiert, während du dabei bist, andere Pläne zu schmieden. Lizzie Deignan hat in den letzten Jahres einiges an Leben abbekommen – Stichwort „Where­abouts“-System, das Baby und jetzt die Corona­-virus-Krise. Und all das hat nicht nur ihre Pläne durchkreuzt, es hat ihr ganzes Selbstbild über den Haufen geworfen. „Ich bin eine planfokussierte Person, aber wir können nichts planen. Das ist schwer“, sagt sie Procycling bei einem WhatsApp-Videoanruf in ihrem Zuhause in Harrogate. „Ich lerne“, fügt sie hinzu, „jeden Tag zu nehmen, wie er kommt.“ 

Deignan liebt Pläne. Sie schrieb in ihrer Autobiografie Steadfast von den farblich markierten, handgeschriebenen Trainingsplänen, die ihre Fortschritte hin zu speziellen Zielen über Monate und Monate im minuziösen Detail aufzeichneten. Als ich sie das erste Mal interviewte, nach ihrem Sieg bei der Weltmeisterschaft 2016, der ein Meisterstück an Perfektion und Beherrschung war, sagte sie mir, sie sei eine Perfektionistin und ein Kontrollfreak. Sie sagte es mit einem Lächeln, aber ich machte mir eine mentale Notiz, nie zu spät zu einem Interview zu erscheinen. 

Es war in letzter Zeit ein bisschen chaotisch bei ihr, so wie bei uns allen. Sie hatte Glück in gewissem Maße, dass sie mit ihrer Familie im heimischen Harrogate war, kurz bevor der Lockdown die Ausreise aus Monaco komplizierter gemacht hätte. Sie musste nicht so strenge Ausgangsregeln befolgen wie viele ihrer Kolleginnen in Frankreich, Spanien und Italien zum Beispiel, was gut ist, weil sie nicht gerne auf der Rolle trainiert („Ich bin ohne durch den Lockdown gekommen“), und sie hat einen Garten in Harrogate. Gleichzeitig beneidet sie ihre Kolleginnen in den Niederlanden. „Die Holländer scheinen im Moment ziemlich normal zu leben. Sie können draußen fahren und sich einen Kaffee holen. Ich hatte schon lange keinen Kaffee mehr mit aufgeschäumter Milch“, sagt sie sehnsüchtig. Außerdem hatte sie in der Krise viel Zeit zum Nachdenken.
„Der Alltag hat sich gar nicht so sehr geändert. Wir haben erkannt, dass wir ziemlich langweilige Leute sind“, scherzt sie. „Profisportler leben sehr simple Routinen. Da wir nicht zum Abendessen oder Mittagessen ausgehen können, ist es eh nicht so ein großer Unterschied zu unserem Alltag. Der Alltag ist okay. Wenn man sich das größere Bild anschaut, dann haut es einen mehr um. Es ist ein Auf und Ab. Ich bin entweder optimistisch oder komplett niedergeschlagen, aber nirgendwo in der Mitte. Es ist wie eine Achterbahn. Mal bin ich optimistisch und denke, es wird gut, und mal denke ich: Oh Gott, in welchem Zustand ist die Welt, in die ich eine Tochter gesetzt habe?“

Das ist alles vollkommen verständlich, aber es ist nicht typisch für Lizzie Deignan. Oder vielleicht ist es typisch für Lizzie Deignan – sie hat sich einfach mit der Zeit geändert wie die meisten oder zumindest viele Leute.
„Es war interessant, meine Persönlichkeit so zu analysieren“, sagt sie. „Ich bin normalerweise ziemlich ausgeglichen. Ziemlich stabil. Aber da­rauf habe ich keinen Einfluss, niemand hat darauf Einfluss. Ich war noch nie in einer solchen Lage. Ich mache mir mehr Sorgen um die Gesellschaft als je zuvor. Ich glaube, ich bin erwachsen geworden; die Tatsache, dass ich eine Tochter habe und Verantwortung trage, lässt mich erkennen, in welcher Gesellschaft ich lebe.“ 

Trotzdem ist ihre Lösung innerhalb des Durcheinanders, das ein 18 Monate altes Kind in ein gut geordnetes Leben bringen kann, ihren Weg aus der Situation heraus zu planen. Es mag in der zweiten Jahreshälfte anzupeilende Rennen geben oder auch nicht, aber Deignan denkt langfristig.
„Ich habe neulich auf dem Rad gemerkt, dass ich Tagträume davon habe, die Weltmeisterschaft 2021 in Flandern zu gewinnen“, sagt sie. „Ich dachte: Gut, das ist etwas, woran ich mich festhalten kann und wofür ich mich motivieren kann. Es ist noch lange hin, aber wenigstens habe ich das Gefühl, dass es ein bisschen realistischer ist, sich darauf zu konzentrieren als auf das, was in dieser Saison vielleicht noch passiert.“ 

Weltmeisterschaften haben die Karriere von Lizzie Deignan mehr als alle anderen Rennen geprägt, vor allem wenn man auch die olympischen Straßenrennen berücksichtigt. Sie machte das breite Sportpublikum erstmals mit ihrer Silbermedaille beim Straßenrennen bei den Olympischen Spielen 2012 auf sich aufmerksam. 2014 verlor sie eine Weltmeisterschaft, die sie vielleicht hätte gewinnen sollen. 2015 gewann sie eine Weltmeisterschaft, die sie leicht hätte verlieren können. 2016 war ihre Vorbereitung auf Olympia überschattet von einer drohenden Sperre wegen verpasster Dopingtests, die sie vor dem CAS abwenden konnte. Ihr Hauptziel für 2020 war das Straßenrennen bei Olympia in Tokio (immer noch ein Ziel für 2021). Und da sie frühere Gewinnerin der Flandern-Rundfahrt und der Weltmeisterschaft ist, wäre es keine Überraschung, das Datum der Weltmeisterschaft 2021 in ihrem langfristigen handgeschriebenen Kalender rot eingekringelt zu finden. Aber vor allem anderen: 2019. 

 



Cover Procycling Ausgabe 197

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 197.

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