Sommer der Liebe

Julian Alaphilippe gab den Fans in Frankreich in diesem Jahr bis zuletzt das Gefühl, ein Heimsieg bei der Tour de France sei endlich wieder möglich. Procycling blickt zurück und fragt, warum 2019 die bisher beste Saison des Franzosen war.

 

Nach Julian Alaphilippes fulminantem Etappensieg in Épernay auf der 3. Etappe der Tour de France sah es aus, als könnte es für den Franzosen beim diesjährigen Rennen nicht besser kommen: Ein Abstecher aufs Podium, als Zugabe zwei Tage im Gelben Trikot, und danach konnte er sich darauf konzentrieren, was er am besten kann: telegene Angriffe weit vor dem Ziel in den Bergen, um Bergpunkte und das Trikot des besten Kletterers zu holen, waghalsige Abfahrten und vielleicht ein paar Dehnungsübungen auf dem Rad. Die Situation, so wie wir sie an dem Abend sahen, war folgende: Der nächste Tag war flach, also gehörte Alaphilippe das Trikot einen weiteren Tag. Etappe 5 nach Colmar hatte ein paar Mittelgebirgsabschnitte, war aber eher etwas für einen Peter Sagan als für einen Dylan Groenewegen oder einen Egan Bernal. Das machte zwei Tage in Gelb. Und dann, da war man sich bei der Tour einig, war die Schlüsselfrage für die sehr schwere Etappe nach La Planche des Belles Filles am sechsten Tag, ob Alaphilippe die 40 Sekunden verteidigen würde, die ihn von Bernal trennten, oder die 45 auf Geraint Thomas. Einige dachten ja, andere dachten nein. Wenn ja, dann würde er das Trikot wahrscheinlich in den Pyrenäen in Woche zwei behalten, wenn nein, dann hieße es zurück zu Plan A.

Am Ende verlor Alaphilippe das Trikot in La Planche. Aber nicht, weil die Klassementfahrer ihn distanziert hätten. Trek-Segafredo-Profi Giulio Ciccone, Zweiter der Etappe, hatte in der Ausreißergruppe des Tages genug Bonuspunkte gesammelt – 14 –, um an dem Franzosen vorbeizuziehen. Alaphilippe hatte nicht nur seinen Vorsprung auf die Klassementfahrer verteidigt, er hatte ihn gegenüber allen außer Thomas, der zwei Sekunden vor ihm ins Ziel kam, ausgebaut. Der Franzose gewann das Trikot zwei Tage später mit einem weiteren Angriff zurück, dieses Mal im Tandem mit Thibaut Pinot auf dem Weg nach Saint-Étienne, wobei er 20 Sekunden Zeit und weitere neun durch Bo­nifikationen gewann. Dann kamen die nächsten Fragen: Würde er sein Trikot verteidigen können – auf der ersten Pyrenäen-Etappe nach Bagnères-de-Bigorre (wahrscheinlich), dem Zeitfahren in Pau (möglich, aber unwahrscheinlich) oder den gewaltigen Pyrenäen-Etappen zum Tourmalet (sicher nicht) und Prat d’Albis (definitiv nicht)? Er war gerade dabei, als Deceuninck–Quick-Step auf der vermeintlich harmlosen Etappe nach Albi das Rennen in Windstaffeln zerlegte, wodurch sein ärgster Rivale, Pinot, vorübergehend aus dem Rennen war. Dann waren die Klassementfahrer auf der Etappe nach Bagnères-de-Bigorre nicht gefragt. Und dann kam das Zeitfahren in Pau.
 
Wachsender Vorsprung
Die Mechaniker müssen wegen den kaputten Reifen zusammengezuckt sein. Bei der überschwänglichen Rutschpartie, mit der Alaphilippe zum Stehen kam, nachdem er das Zeitfahren in Pau gewonnen – gewonnen! – hatte, zog er eine dünne Gum­mi­spur über die Straße, eine physische Manifestation der Linie, die Julian Alaphilippe, den Baroudeur, von Julian Alaphilippe, dem Tour-de-France-Favoriten, trennte. An einem undefinierbaren Punkt zwischen Brüssel und Pau wurde der Etappensieger und Angreifer ein potenzieller Gewinner des Gelben Trikots. Nüchterne, vernünftige Stimmen behaupteten immer noch, dass Alaphilippes Untergang unausweichlich sei, aber mittlerweile sah sein Vorsprung tatsächlich solide aus. Anderthalb Minuten auf Thomas; sonst niemand unter zwei Minuten; nur drei weitere Fahrer unter drei; fünf weitere unter vier. Die beiden größten Gebirgszüge kamen noch, andererseits waren von den 21 Etappen nur fünf für das Gesamtklassement wichtige Tage übrig.

Auf der 14. Etappe schien dann alles möglich zu sein. Pinots Sieg auf dem Tourmalet stellte den Glanz wieder her, der seinem Angriff auf die Gesamtwertung auf der Etappe nach Albi abhandengekommen war, aber als Zweiter fuhr Alaphilippe über die Linie. Er hatte in den schwersten Anstiegen des Rennens mit den allerbesten Kletterern der Tour Schritt gehalten und dann im Sprint die wenigen, die noch übrig waren, abgefangen. Die Situation: Alaphilippe in Gelb, Thomas Zweiter mit 2:02, und die Zahl der Fahrer, die weniger als fünf Minuten Rückstand hatten, war auf sieben reduziert. Aber gerade als es aussah, als ob er die Tour 2019 wirklich gewinnen könnte, fing Alaphilippe an, Zeit zu verlieren. Er kassierte eine Minute auf Bernal in Prat d’Albis, und selbst seine atemberaubende und rasante Abfahrt vom Col du Galibier hin zur Gruppe der Favoriten und an ihr vorbei konnte die Gläubigen nicht blenden und denken lassen, dass er die letzten zwei Tage in den Alpen überleben würde. Er sah in den langen Anstiegen klar angreifbar aus, und am Gipfel des Col d’Iseran war der Traum vorbei. Die Tour kannte trotzdem noch Gnade mit ihrem Lieblingssohn – durch außergewöhnliches Wetter mussten die Anstiege nach Tignes und zum Cormet de Roselend am folgenden Tag gestrichen werden. Wären sie beibehalten worden, wäre das wahrscheinlichste Ergebnis gewesen, dass er weitere Minuten verloren hätte.
 
Paradies für Puncheure
Könnte Julian Alaphilippe die Tour gewinnen? Natürlich. Aber niemals auf der Route von 2019. Er könnte eine Tour gewinnen mit einer freundlicheren Streckengestaltung, mit weniger Kletterpartien im Hochgebirge und weniger langen Anstiegen, dafür mehr Mittelgebirgs-Territorium und Ankünften für Puncheure, bei denen Alaphilippe in seinem Element ist. Die Organisatoren des Giro d’Italia machten genau das in den späten 1970ern und 1980ern, als der Sprinter/Puncheur Giuseppe Saronni der große einheimische Favorit war – relativ flache Giro-Routen mit vielen Zeitbonifikationen brachten ihm zwei Rosa Trikots. Dem Zeitfahrer Francesco Moser wurde ein ähnlich flacher Giro gegeben, komplett mit langen Zeitfahren und der umstrittenen Streichung des Passo dello Stelvio wegen angeblicher Erdrutsche. Die Tour-Organisatoren des 21. Jahrhunderts haben vielleicht weniger Spielraum als die Giro-Organisatoren der 1980er, um einheimische Favoriten zu begünstigen, aber man könnte argumentieren, dass die Reduzierung der Zeitfahrkilometer bei den Frankreich-Rundfahrten in jüngerer Zeit Pinot und Romain Bardet zugutekamen. Man darf gespannt sein, ob die ASO dazu neigt, in Zukunft eine Tour für Puncheure zu entwerfen. Aber man könnte auch überzeugend argumentieren, dass es ein Paradox im Kern jeglicher Siegbestrebungen von Alaphilippe bei der Tour gibt. Es geht so: Alaphilippe kann nur Zeit gewinnen, indem er Energie verbraucht; beim Toursieg geht alles darum, Energie zu sparen.

Alaphilippes Angriff auf der 3. Etappe in den Weinfeldern von Épernay kurbelte seine Tour an, entfachte die Dynamik, die ihn bis zu jenem Punkt auf halber Höhe des Col d’Iseran trug, wo er den Schwung verlor. Aber dieser Angriff bereitete auch den Boden für seine Zerstörung. Das Finale in Épernay bestand aus einer Reihe von Anstiegen der 3. Kategorie, dann einer nicht klassifizierten, aber sehr steilen Rampe zur Ziellinie. Der letzte dieser Hügel, die Côte de Mutigny, lag 16 Kilometer vor dem Ziel. Alaphilippes Form war absolut bestechend, ganz klar, und er hätte wahrscheinlich gewonnen, wenn das Peloton geschlossen nach Épernay gekommen wäre. Aber er konnte nicht anders, als die Côte de Mutigny als Sprungbrett zu benutzen. Er hatte sich die Route vorher angesehen, daher war die Attacke geplant, aber während das Ergebnis wahrscheinlich dasselbe gewesen wäre, ganz gleich, ob er dort oder im Schlussanstieg angegriffen hätte, war die frühere Attacke spektakulärer. Außerdem hätten Zeitbonifikationen alleine ihn nicht ins Gelbe Trikot gebracht – er brauchte die zusätzliche Zeit durch den Langstreckenangriff, um die Führung zu übernehmen. Wir waren so fasziniert von Alaphilippes unglaublichem Angriff und seinem furiosen 20-Minuten-Solo nach Épernay, dass wir nicht sahen, wie viel Kraft es kostete. Er kletterte so schnell über die Côte de Mutigny, dass Bernal an seinem Hinterrad abreißen lassen musste. Es ist ein körperlicher Preis, den man für solche Ritte zahlen muss. Die Fans lieben diese Art von Angriffen, und völlig zu Recht. Die Sportlichen Leiter von Anwärtern auf den Toursieg haben wahrscheinlich eine ambivalentere Einstellung zu ihnen. Alaphilippe machte immer weiter. Er spannte sich in den Sprintzug seines Teamkollegen Elia Viviani ein. Er griff die Klassementfahrer in La Planche des Belles Filles an. Er attackierte auf dem Weg nach Saint-Étienne. Er ließ auf dem Weg nach Albi nichts anbrennen. Er fuhr im Zeitfahren in Pau alle in Grund und Boden. Er sprintete auf den Gipfel des Tourmalet. Man kann bei der Tour nicht so fahren. Oder vielleicht kann man, aber dann kann man nicht erwarten, drei lange Tage in den Alpen zu überleben.

 

Das Gefühl des Sieges
Alaphilippe hatte 2019 größere Siege. Er gewann Mailand–San Remo, sein erstes Monument. Er war nicht der Favorit, auf dem Papier auch nicht der beste Sprinter der zwölfköpfigen Gruppe, die zusammen auf die Zielgerade kam. Peter Sagan, Matteo Trentin und Michael Matthews könnten normalerweise alle hoffen, Alaphilippe in einem flachen Sprint zu schlagen. Aber seine Form und sein Selbstbewusstsein übertünchten jegliche Defizite in puncto schiere Kraft. Außerdem gewann Alaphilippe die Strade Bianche und den Flèche Wallonne. Hier war er auf vertrautem Terrain – er ist ohne Zweifel der beste Bergauf-Sprinter der Welt, und die steilen Anstiege und Ankünfte dieser Rennen ließen seine Siege unausweichlich erscheinen. Beim Flèche lauten seine Resultate 2-2-1-1, und wenn er will, wird er wahrscheinlich genug gewinnen, um Alejandro Valverdes Rekord von fünf Siegen zu knacken. Er hätte Amstel Gold gewinnen sollen. Er wird sich immer ärgern, dass er sich auf taktische Spielchen mit Jakob Fuglsang eingelassen hat, als sie genug Vorsprung herausgefahren hatten, um das Finale unter sich auszumachen. Alaphilippe sollte Fuglsang normalerweise im Sprint von vorn oder von hinten schlagen – es war nicht nötig, den Dänen zur Führungsarbeit zu zwingen, als Mathieu van der Poel und andere aufschlossen. Nach der Tour fand er nie zur Form des Frühjahrs zurück, und obwohl er als Favorit für die Weltmeisterschaft galt, sprachen diese durchschnittliche Form und das Wetter gegen ihn.

Alaphilippe hat sich dem Druck seiner einheimischen Fans und Medien, die Rolle eines Tour-Favoriten zu akzeptieren, widersetzt. Obwohl die Route 2020 viel von dem zu haben scheint, womit er arbeiten kann, versichert er, dass er seinen Angriffsinstinkt nicht zügeln wird, um sich auf das Gelbe Trikot zu konzentrieren, und er definiert sich als Eintages-Spezialist. Aber es ist typisch für den Radsport, dass Alaphilippes prägendes Rennen 2019 die Tour war. Was hat er eigentlich gemacht? Er hat zwei Etappen gewonnen, das Gelbe Trikot getragen und am Ende den fünften Platz belegt. Man könnte argumentieren, dass 2019 in puncto Resultate nicht erfolgreicher war als 2018, als er zwei Etappen und das Bergtrikot gewann. Damit er in diesem Jahr auf dem Podium der Tour in Paris stand, mussten die Organisatoren ihm den Prix de la combativité verleihen. Aber der Unterschied lag nicht in der Statistik, den Daten oder den Ergebnissen. Der Unterschied war, welches Gefühl Alaphilippe uns gab. Im Radsport wissen wir, dass es einen Sieger gibt und dass es Verlierer gibt, und Alaphilippe war ein Verlierer bei dieser Tour. Aber Radsport wäre nichts, wenn er nicht emotional wäre; und in 15 Jahren, wenn wir vergessen haben, ob Bernal seine erste Tour 2018, 2019 oder 2020 gewann, werden wir uns alle an den Sommer 2019 erinnern – jenen Sommer, der Julian Alaphilippe gehörte.



Cover Procycling Ausgabe 191

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 191.

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