Der große Entertainer

Wegen seiner unbekümmerten Art gilt Rigoberto Urán vielen als Spaßvogel des Pelotons, aber in Wirklichkeit ist er einer der professionellsten Fahrer im Feld. Procycling untersucht Uráns einzigartige Einstellung zum Radsport, zu den Rennen – und zum Leben.

 

Für viele mag ein Berufssportler wie eine Maschine wirken, dazu erschaffen, in die Pedale zu treten, zu laufen oder Tore zu schießen – ein Roboter, den man einschaltet, wenn der Wettkampf losgeht, und der dann in Watte gehüllt wird, wenn es vorbei ist. Das ist vielleicht ein Grund, warum es bei Fußballspielen von den Rängen Spott und Beschimpfungen hagelt – als würde ein Spitzensportler von den Beleidigungen weniger hart getroffen als ein normaler Mensch. Aber natürlich sind auch Athleten aus Fleisch und Blut, nur dass sich ihr Leben mit einem Zirkusartisten vergleichen lässt – einem Jongleur oder einem Akrobaten: Jeden Tag werfen Athleten ein Dutzend Bälle hoch, die Training, Ernährung, Familie, Ambitionen, Freundschaften, Verträge, Teamkollegen, Bosse und Erwartungsdruck sein können, und versuchen dann, sie alle möglichst lang in der Luft zu halten. Und wenn sie wirklich gut sind, kombinieren sie das mit einem Gang über ein Hochseil – ein dünner Draht, der ihre schwierige Vergangenheit mit einer unsicheren Zukunft verbindet. Bei ein paar Glücklichen ist die Fähigkeit, im Gleichgewicht zu bleiben, während sie mit verschiedenen Objekten jonglieren, angeboren. Bei anderen entwickelt sie sich mit der Erfahrung. Viele andere schaffen es nie, weil es schwer ist da oben auf dem Seil, wenn alle einen anschauen. Rigoberto Urán ist einer von denen, die hart an ihrer Fähigkeit arbeiten mussten, alles in der Luft zu halten. Aber nach einem Leben voller lehrreicher Erfahrungen kam die Erleuchtung vor nicht allzu langer Zeit. „Ich habe bei einer Tour de France eine sehr hässliche, verstörende Erfahrung gemacht. Ich hätte eine große Leistung abliefern sollen und habe eine beschissene abgeliefert“, sagt er und vermeidet es zu sagen, welche Tour die unangenehme war. „Ich habe immer davon geträumt, mit dem Radfahren meinen Lebensunterhalt zu verdienen, und plötzlich hat mir keine einzige Pedalumdrehung mehr Spaß gemacht. Da habe ich beschlossen, meine Einstellung zu ändern, sodass mein Glück nie wieder von meinen Resultaten abhängt.“

Und so definiert Urán seine neue Philosophie: „Ich fange jede Saison bei null an. Ich trage keine Resultate von früheren Jahren mit mir herum, egal ob gut oder schlecht. Ich versuche alles zu genießen, was ich auf dem Rad mache. Manchmal ist es schwer, besonders bei Rennen wie der Tour, wo es ununterbrochen Druck und Stress gibt. Aber sogar im Juli versuche ich, das Rennen Tag für Tag anzugehen und die Straße sprechen zu lassen.“ Wir führen diese Unterhaltung am zweiten Ruhetag der Tour 2019. Urán befindet sich auf einem mittelmäßigen zehnten Gesamtrang, der bis Paris zum siebten wird, doch er hält sich an seine Worte: Die Enttäuschung wird beiseite gewischt, er ist gesprächig und fröhlich. Seine Philosophie klingt schön und gut, aber was ist sie wert, wenn es mal nicht läuft? „Ich lasse Arbeitsprobleme immer auf der Arbeit und familiäre Probleme immer zu Hause. Wir können nicht den ganzen Tag das Gewicht all unserer Sorgen auf den Schultern tragen. Die Tour ist nicht mein Leben. Radsport ist nicht mein Leben. Ich liebe Sport und bin in guter Form, aber die Resultate bedeuten mir nicht so viel wie anderen Fahrern – oder wie mir selbst früher.“ Er sagt weiter: „Ein 20-Jähriger nimmt vielleicht alles als selbstverständlich hin, wenn er nicht nach Resultaten beurteilt wird. Aber wenn du in deinem Leben genug Erfahrungen gemacht hast, bist du auf einem anderen Niveau. Es ist schwer zu erklären, aber du weißt einfach, wie es läuft. Du bereitest dich gewissenhaft vor, du weißt, was du brauchst, um der Aufgabe gewachsen zu sein. Du glaubst an dich, du meisterst die Teamarbeit – du tust dein Bestes. Aber wir sind alle menschlich. Manchmal bist du obenauf, manchmal nicht. Und das sollte unsere Einstellung nicht ändern.“

Der spanische Fahrer Luis Pasamontes kennt Urán gut. Die beiden waren vier Jahre im selben Team, als der Kolumbianer seine Profikarriere begann, erst 2007 beim belgischen Team Unibet und dann drei Jahre bei Caisse d’Épargne, dem Vorläufer von Movistar. „Bei Unibet haben mich die Sportlichen Leiter gebeten, auf ihn aufzupassen, weil er erst 20 war und sich hätte schwertun können, sich im Team einzuleben. Er war zwar ein sehr junger, aber sehr reifer Mann. Eine Woche später sagte ich dem Sportdirektor, dass er am Ende vielleicht auf mich aufpasst!“ Pasamontes arbeitet heute als Mentaltrainer und sieht Uráns Einstellung zum Radsport anders. „Er hat die Fähigkeit, alles richtig zu machen, und hat immer noch Raum und Zeit, um sich um sein Bekleidungs-Business zu kümmern und zu Veranstaltungen und Konzerten zu gehen … Diese Projekte und Hobbys sind wichtig, um die emotionale Belastung von Radrennen zu verringern und länger als üblich Radsport auf höchstem Niveau machen zu können. Superprofessionell zu sein, kann einen Fahrer verrückt machen und seine Karriere ruinieren. Rigo hat bewiesen, dass es nicht sein muss, jeden Bissen Essen abzuwiegen, um ein hervorragender Radprofi zu sein.“ In der Tat ist Urán der kolumbianische Fahrer mit der längsten Karriere im Oberhaus des Radsports: zwölf Jahre – und kein Ende in Sicht. Santiago Botero fuhr zehn und Víctor Hugo Peña neun Jahre, und keiner von beiden hatte einen Grand-Tour-Podiumsplatz zu Buche stehen. Urán dagegen war zweimal Zweiter beim Giro d’Italia und einmal bei der Tour de France. Doch trotz seiner drei zweiten Plätze hat er nie eine große Rundfahrt gewonnen. „Muss ich das?“, fragt er, als er darauf angesprochen wird. „Wozu? Es wäre schön und ich trainiere gern dafür. Aber es bereitet mir keine schlaflosen Nächte. Ein Grand-Tour-Sieg würde mein Leben nicht ändern. Das habe ich hinter mir.“

Einige mögen diese Denkweise als mangelnden Willen auslegen, doch er sieht das anders. „Im Gegenteil. Ich meine es ernst mit dem Radsport und damit, mein Bestes zu geben. Ich weiß, wenn ich das alles irgendeinem anderen Team in der Welt erzählen würde, würden sie es vielleicht nicht verstehen. Aber bei EF Education First verstehen sie es. Sie kennen mich und sie wissen, dass ich absolut Radsport auf höchstem Niveau betreiben will. Sie wissen auch, dass ich jederzeit aufhören kann, wenn ich es satt habe. Es ist sehr wichtig für mich, mich von meinem Team unterstützt zu fühlen und zu wissen, dass es meine Lebensweise respektiert.“ „Er hat die seltene Gabe zu verstehen, was wichtig ist im Leben“, sagt Pasamontes. „Ich habe es in diesem Maße bei keinem anderen erlebt. Seine Lebenserfahrung sagt ihm, was wichtig ist und was nicht.“ An diesem Punkt muss man daran erinnern, dass Urán mit 14 seinen Vater verlor, der von Paramilitärs ermordet wurde, und auf einmal die Familie ernähren musste. Er sah den Radsport als Ausweg aus dieser schweren Situation. „2001, als ich mein erstes Rennen fuhr, hatten wir es zu Hause nicht leicht“, sagt Urán. „Ich erreichte die Junioren-Kategorie und begann, mit dem Radsport Geld zu verdienen. Ich sah den Radsport als mögliche Lösung in einem kritischen Moment für meine Familie und mich. Ich brauchte dringend einen Job, um Geld nach Hause zu bringen.“ Der Manager Giuseppe Acquadro besorgte ihm einen Platz im kleinen italienischen Tenax-Team. „Es war schwer für ihn, seine Familie zu verlassen und nach Europa zu ziehen“, sagt Pasamontes. „Aber er wusste, dass seine Familie der Grund für seinen Umzug war.“ Urán betont: „Der Radsport hat das Leben meiner ganzen Familie geändert, und zwar zum Besseren.“

 

Und trotzdem ist Geld nicht alles für unseren Zirkus-Performer. Die Menschen stehen an erster Stelle. Wenn er über seine ersten Jahre in Europa spricht, erinnert sich Urán zu allererst an seine „italienischen Eltern“. „Das Tenax-Team hatte eine Wohnung von einem älteren Ehepaar angemietet“, sagt er. „Von Anfang an waren sie meine italienischen Eltern und unterstützten mich, wo sie konnten. Ich besuche sie immer noch gelegentlich und sie haben mein Zimmer gelassen, wie es war – meine Bekleidung, mein altes Rad und meine Preise. Diese Bekanntschaft zählt mit zum Schönsten, was mir je im Radsport passiert ist.“ Eine vielsagende Äußerung von Rigoberto Urán: „Ich liebe es, barfuß zu laufen“, sagt er. „Da habe ich das Gefühl, im Kontakt mit der Natur zu sein. Wenn ich in Kolumbien auf dem Lande bin, liebe ich es, die Schuhe auszuziehen, herumzulaufen, Bäume zu umarmen … Meine Oma hat immer gesagt, so können wir unsere Batterien mit natürlicher Energie aufladen.“ Kaum etwas ist so pur wie barfuß zu laufen. Und übrigens: Einige sagen, barfuß bewege man sich auf dem Hochseil am besten. Bei Urán scheint es zu funktionieren.



Cover Procycling Ausgabe 188

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 188.

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