Michał Kwiatkowski ist ein klassischer Allrounder – er kann sprinten, zeitfahren und klettern. 2017 war er glänzend aufgelegt, gewann ein Monument und lieferte eine superbe Leistung bei der Tour ab. Procycling hat Kwiatkowski und die Akademie für junge Rennfahrer, die er in seiner Heimatstadt aufgebaut hat, besucht und herausgefunden, wie er an eine starke Saison anknüpfen will.
Fast wöchentlich ließ sich Michał Kwiatkowski – höflich, bescheiden und ruhig – im Winter an der staatlichen polnischen Sportschule blicken, an der er einst lebte, lernte und trainierte, um mit den staunenden Teenagern von heute über seine Karriere als Rennfahrer zu sprechen. Manchmal leitete der Weltmeister von 2014 Übungen für die Rumpfstabilität oder eine Trainingsfahrt. Danach, vielleicht nach einem Kaffee mit seinem alten Trainer in dem Büro mit den hohen Decken, fuhr Kwiatkowski den kurzen Weg nach Hause. Und wenn seine Gedanken sich auf die bevorstehende Saison richteten, dachte er über Wege nach, seine Rivalen bei den bevorstehenden Klassikern zu schlagen. Procycling traf Kwiatkowski in Torun, der Festungsstadt auf halbem Weg zwischen Warschau und Danzig. Es ist ein kalter Tag an den Ufern der grauen Weichsel. Hier in Kwiatkowskis Territorium existieren das Schöne und das Brutale direkt nebeneinander. Abseits der malerischen Altstadt mit Kopfsteinpflaster und Glockentürmen, in den spartanischen Randbezirken aus sowjetischer Zeit und zwischen anonymen Wohnblocks befindet sich die schmucklose Szkola Mistrzostwa Sportowego, die Sportschule, die ihm ein zweites Zuhause wurde. Kwiatkowski, den Brian Holm, sein früherer Sportlicher Leiter bei Quick-Step, einst „ein Kunstwerk“ nannte, war so versessen darauf, Radprofi zu werden, dass er mit 14 seine Eltern bat, während der Woche in der heruntergekommenen Unterkunft der Schule wohnen zu dürfen, um sich ganz auf den Radsport zu konzentrieren. „Du wirst schneller erwachsen, wenn du alleine lebst“, erzählt er Procycling. „Du musst für mehr Dinge Verantwortung übernehmen, als wenn du bei deinen Eltern wohnst – du kannst nicht deine Mama rufen und sagen: Ich habe Hunger.“
Hunger einer anderen Art hat den Polen angetrieben. Er vernachlässigte die Schule, vor allem, seit er die einheimischen Juniorenrennen gewann. Er dachte nur noch daran, wegzukommen und es als Profi zu schaffen. Als Procycling die Schule besucht, die heute freundlicher aussieht, sind alle aus dem Häuschen: Kwiatkowski ist da! 2013 gründete er die Copernicus Cycling Academy, die die Räumlichkeiten der Schule nutzt. Damals, mit 23, hatte Kwiatkowski nur einen polnischen Meistertitel auf der Straße und einen Prolog der Drei Tage von Westflandern in seinem Profi-Palmarès stehen. Der Ruhm sollte erst zehn Monate später kommen, aber es war der Moment, wo er anfing, etwas zurückzugeben. Aus eigener Tasche bezahlte er die Renovierung des Wohnheims und steuerte Geld für Mannschaftswagen bei. Heute kann er mit seinem Namen mehr von der einfachen, aber zuverlässigen Ausrüstung besorgen, die die Fahrer verwenden. Signierte Trikots, aufgewertet durch Geschenke anderer Profis, schmücken die Wände des Fitnessraums, und ein himmelblaues Bianchi aus den 1990ern hängt an der Wand des Büros. Darunter steht der Schreibtisch von Marcin Mientki, einem großen, energisch wirkenden ehemaligen Bahnfahrer, der an den Olympischen Spielen in Sydney teilnahm. Er war Kwiatkowskis zweiter Trainer und steht ihm sehr nahe. Er ist der Chefcoach der Akademie.
„Ich habe selbst viel Hilfe bekommen“, erklärt Kwiatkowski ist seinem ruhigen Englisch. „Ich habe mir nie ein Rennrad oder so etwas gekauft – es wurde mir immer gegeben, und deswegen bin ich jetzt Radprofi. Noch sind aus Copernicus keine Profis hervorgegangen, aber sie werden es hoffentlich in Zukunft.“ Da hier alles angefangen hat und seine alten Trainer hier sind, fragt Procycling, ob sie Vertraute waren, die seine Karriere prägten. Kwiatkowski bläst die Wangen auf. „Ich kann nicht sagen, dass es eine Person war. Ich habe eine Gruppe von Freunden, die ich um ihre Meinung bitten kann, aber ich muss zuhören und meine Entscheidungen selbst treffen.“ Er weiß sehr gut, dass die jungen Fahrer heute aufgrund seines Status’ zu ihm aufschauen. „Ich habe im Radsport ein bisschen was erreicht, daher bin ich für die meisten jungen Fahrer wohl ein Idol oder so was, und wenn ich etwas sage, hören sie bestimmt gut zu. Es ist eine große Verantwortung, ein Vorbild zu sein. Da kannst du nicht eingebildet sein oder Blödsinn von dir geben.“
Obwohl Kwiatkowski sich auf seine Saison 2017 durchaus etwas einbilden kann. Der Allrounder feierte vier Siege, darunter Strade Bianche, San Remo und San Sebastián, und es war nicht schwer festzustellen, dass der 27-Jährige wieder da war. Seine Rückkehr zu alter Form erinnerte an die Saison 2014, an deren Ende er im verregneten Ponferrada den Polnischen Adler auf seinem Trikot küsste, als er als erster Pole die Weltmeisterschaft gewann. Es war der neunte und letzte Sieg in einer superben Saison. Aber nachdem er im folgenden Jahr den Prolog von Paris–Nizza und das Amstel Gold Race gewann, ließ er nach. Eine unauffällige Vorstellung bei der Tour endete damit, dass er vor dem Col d’Allos vom Rad stieg, nachdem er den Quick-Step-Floors-Chef Patrick Lefevere am Vortag über seinen Wechsel zu Sky informiert hatte. „Die Mentalität bei Quick-Step bei der Tour war, Etappen zu gewinnen und das mit der Gesamtwertung zu kombinieren“, sagt Kwiatkowski. „Ich habe in der ersten Woche Vollgas gegeben, und dann war die zweite und dritte Woche ziemlich schrecklich. Okay, ich bin 2013 gut gefahren [er wurde Elfter, als er auf eigene Kappe fahren durfte], aber 2014 und 2015 habe ich mich jedes Mal total ausgepowert, was ein Problem ist. So kannst du kein dreiwöchiges Rennen fahren, an die Gesamtwertung denken und gleichzeitig an Cavendish bei den Sprints – es gibt Grenzen.“ Im folgenden Frühjahr, nunmehr bei Sky, startete Kwiatkowski vielversprechend. Zwei gute Resultate bei den hügeligen Rennen der Mallorca Challenge im Januar und ein Sieg beim E3 Harelbeke waren besser, aber nicht von Dauer. Er ließ im Zeitfahren nach, kam gegen die Uhr nur bei einer Gelegenheit in die Top Ten. Auch sein Klettern verknöcherte: Der Pole fuhr den Rest des Jahres zweistellige, manchmal dreistellige Resultate ein. Er schaffte es nicht ins Tour-Team von Sky. Seine Vuelta endete auf der 7. Etappe, wenn auch nach einem Tag im Roten Trikot des Spitzenreiters. „Ich erinnere mich, dass ich die Vuelta mit ihm gefahren bin und er sehr deprimiert war über seine Form“, sagte sein Freund und Teamkollege Michał Gołas.
Wo war Holms Kunstwerk geblieben? Nach dem Weltmeistertitel 2014 im Alter von 24 Jahren schienen ihm alle Türen offen zu stehen. Damals wurde er sogar als künftiger Rundfahrer gehandelt. Das Regenbogentrikot lastete schwer auf Kwiatkowski, wie Gołas sagt, und er stand auch unter Druck, bei Quick-Step zu bleiben. Als er sich für Sky entschied, war Lefevere eine Weile nicht gut auf ihn zu sprechen. Bei Sky gab es bald eine nebulösere Erklärung für seine schlechte Form: Sein gut dotierter neuer Vertrag habe ihn verdorben. Für Kwiatkowski war 2016 eine „schreckliche Saison“, aber er setzte alles daran, den Eindruck zu widerlegen, dass er selbstgefällig geworden sei. „Es war das Gegenteil. Vom Beginn meiner Karriere an war das Einzige, woran ich geglaubt habe: Um ein Champion zu werden, musst du hart trainieren, hart trainieren, hart trainieren – das ist alles. Ich war übermotiviert und powerte mich total aus, bevor die Saison richtig losgegangen war. Deswegen ging 2015 so stark los“, versichert er. „Ich flog von Anfang an – Algarve, Paris–Nizza und diese Rennen –, und im März und April ging mir der Sprit aus. Das passierte 2016 wieder, und zwar noch schlimmer. Wenn du zu einem neuen Team kommst, denkst du: Okay, ich zeige von Anfang an, was ich draufhabe, schon beim ersten Trainingslager, selbst wenn es Dezember oder Januar ist. Ich wollte bei ihnen bleiben, so viel trainieren wie möglich und ihnen zeigen, dass ich eigentlich ein Typ mit großen Ambitionen bin. Das hat mich gekillt.“
Außerdem kam Kwiatkowski vielleicht nicht so gut mit dem Trainingsprogramm zurecht, das ihm Tim Kerrison, der Chefcoach von Sky, verordnet hatte. „Du kannst nicht sofort, wenn du ein Programm siehst, sagen: Das gefällt mir, aber vielleicht mache ich 80 Prozent davon“, antwortet er. „So funktioniert das nicht. Als ich bei Sky unterschrieb, versprach ich zu tun, worum sie mich baten, und Neuem gegenüber aufgeschlossen zu sein. Mehr Volumen, Intensität – was auch immer – ich wollte es ausprobieren. Mit Tim setzten wir uns Ende 2016 hin und sprachen über meine Erfahrungen, seine Erfahrungen und stellten mein Training und Programm so ein, dass es meinen Fähigkeiten entsprach.“ Der Erfolg stellte sich fast unmittelbar ein: Zweiter bei der Volta ao Algarve, Erster beim Strade Bianche, sein zweiter Titel bei dem Rennen in Italien. Zwei Wochen später gewann Kwiatkowski sein erstes Monument in einem packenden Finale in San Remo. Er ging mit Schwung in die hügeligen Klassiker und hätte das Amstel Gold Race gewinnen können – oder sollen –, doch er überschätzte sich und verlor den Sprint gegen Philippe Gilbert. „Ich war mir total sicher, dass ich den Sprint gewinne, und deswegen habe ich verloren“, erklärt er. Ein siebter Platz beim Flèche Wallonne und ein dritter bei Lüttich–Bastogne–Lüttich waren ein Oeuvre, das fast so beständig war wie 2014. Er war das ganze Frühjahr über dominant.
Bei der Tour war er einer der wichtigsten Helfer von Chris Froome und vielleicht sogar sein Retter nach der Krise am Fuß des Col de Peyra Taillade auf der 15. Etappe, als AG2R attackierte und bei Froome eine Speiche brach. Er überließ Froome sein Laufrad. Als er am Izoard ein hohes Tempo anschlug – die letzte von mehreren erstklassigen Kletterleistungen –, war sein Status als most valuable player gesichert. Froome ging angeblich dazu über, sich mehrmals am Tag bei seinem polnischen Edelhelfer zu bedanken. „Ich konnte selbst nicht glauben, dass ich so gut kletterte“, sagt Kwiatkowski. Er verabschiedete sich mit einem knappen zweiten Platz im Zeitfahren auf der 20. Etappe hinter Maciej Bodnar.
Am Wochenende nach der Tour gewann er die Clásica San Sebastián. Nachdem er auf der kurvenreichen Abfahrt vom Bordako Tontorra zur Spitzengruppe aufgeschlossen hatte, war er der Stärkste im Fünf-Mann-Sprint. Sprints aus kleineren Gruppen, Klettern, Zeitfahren, Abfahren – all diese Qualitäten, die Holm als erstklassig bewundert hatte, waren endlich wieder zu sehen. „Das Beste war, dass ich während der ganzen Saison gut war“, sagt Kwiatkowski. „Von der Valencia-Rundfahrt, wo ich startete, bis zur Weltmeisterschaft genoss ich es und war bei jeder Art von Rennen im Spiel. Ich war einfach froh, dass die Leute im Team nicht sagten: ‚Er hat einen großen Vertrag und es ist Geldverschwendung.‘ Sie unterstützten mich. Wir setzten uns das Ziel, dass ich 2017 wieder Spaß am Radsport habe“, sagt er. Es hat funktioniert.
San Remo bringt gewöhnlich großartige Zielfotos hervor, so wie beim ballettreifen Sprint zwischen Kwiatkowski, Peter Sagan und Julian Alaphilippe im letzten Jahr. Das Trio setzte sich am Poggio ab und bescherte der Primavera ihren ersten, dringend benötigten Ausreißersieg seit 2012. Kwiatkowski erinnert sich, wie er Sagan im Finale unter Druck setzte, den Fahrer, der 1990 gute vier Monate vor ihm zur Welt kam und seit den Junioren sein Sparringspartner war. Am Poggio verfolgte er Sagans Vorstoß aus der Distanz und spielte dann das heikle Spiel, dem Slowaken die weitere Flucht schmackhaft und gleichzeitig einen Großteil der Arbeit machen zu lassen. „Ich war in einer viel besseren Position als er“, sagt Kwiatkowski. „Er trug das Weltmeistertrikot und stand unter Druck. Selbst wenn er so viele Rennen gewonnen hat, hat er San Remo bisher nicht gewonnen. Ich weiß, wie die Situation ist – das Trikot zu tragen und alle schauen auf dich und warten ab, was du tust. Das wollte ich mit Peter machen. Außerdem hatte ich Elia Viviani hinten für den Sprint. Ich spielte ein Spiel“, sagt er mit der Andeutung eines Lächelns. Und Kwiatkowskis Finale war technisch exzellent – wie aus dem Lehrbuch sprintete er in Sagans Windschatten, um einen Katapult-Effekt daraus zu ziehen. Man könnte den Eindruck haben, als beruhe Sagans Überlegenheit zu einem großen Teil auf seiner psychologischen Dominanz, als schlüge er seine Rivalen schon vor der Linie. Doch der Pole ist nicht überzeugt. „Peter ist ein Tier, das ist sicher, aber daran denkst du während des Rennens nicht – jedenfalls denke ich nicht daran.“
Die Zahl ihrer Siege ist nicht zu vergleichen – Sagan hat 102, Kwiatkowski 18 –, aber bei den Rennen, wo sie Erster und Zweiter wurden, hat Kwiatkowski drei von vier gewonnen: San Remo 2017, E3 2016 und Strade Bianche 2014. Große Rennen. So war es schon früher. Kwiatkowski verwies Sagan vor zehn Jahren bei der Friedensfahrt der Junioren 2008 auf den zweiten Platz. 2018 stehen für Kwiatkowski die Klassiker im Mittelpunkt, vor allem Lüttich–Bastogne–Lüttich, wo er zweimal Dritter wurde. Er will auch bei der Flandern-Rundfahrt ein Wörtchen mitreden. „Lüttich–Bastogne–Lüttich als Ziel auszugeben, ist das Beste“, sagt er. „Auf die Flandern-Rundfahrt brauche ich mich körperlich nicht so zu konzentrieren, denn da geht es mehr um das Material und wie wir als Team fahren.“
Die Ronde ist aber mehr als ein Markierungspunkt auf seinem Weg durch die Saison, wie Gołas bestätigte. „Irgendwie ist Flandern in seinem Hinterkopf eines der Hauptziele in diesem Jahr. Ich glaube, er kann alle Monumente gewinnen“, sagte er – mit der naheliegenden Einschränkung, dass es Arbeit für eine ganze Karriere sei. Kwiatkowski beschreibt seine Beziehung zu den größten Rennen als „Kampf“, und man hat das Gefühl, dass er ihre Tiefe noch auslotet. Aber für einen Mann, dessen Kontakt mit den größten Rennen weitgehend durch direkte Erfahrung statt durchs Fernsehen kam – es lief fast kein Radsport im polnischen Fernsehen, als er aufwuchs –, scheint er ihre Nuancen zu verstehen und die individuellen Herausforderungen zu mögen. Er hat ein Gefühl für den Kalender und nimmt die Gepflogenheiten und Geschichte des Radsports ernst. Es sind nur Symbole, aber das Bestehen auf einer Radmütze statt einer Baseballkappe und die großzügigen Geschenke an Teamkollegen, die ihm helfen, Rennen zu gewinnen, sind ein Zeichen der Hochachtung für einen Sport, der ihn groß gemacht hat. „Es stimmt“, sagte Gołas, „er ist stolz darauf, dass der Sieg bei diesen Rennen etwas Spektakuläres ist, dass es dir dein Leben lang bleibt und du ein bisschen Geschichte schreibst.“
Kwiatkowski kommt während der Saison nur selten an die Akademie. Torun ist schwer zu erreichen, und er zieht es vor, an der Côte d’Azur zu leben. Aber wenn er Ende 2018 zurückkommt, könnte er eines seiner intensivsten Jahre hinter sich haben. Mit dem Gesamtsieg bei Tirreno-Adriatico ging es vielversprechend los; nach der Klassiker-Saison will er die Tour und die Vuelta fahren – zum ersten Mal zwei große Rundfahrten in einem Jahr. Danach startet er bei der Weltmeisterschaft in Innsbruck auf einem Kurs, der ihm gefällt. Angesichts der Ungewissheit, in der sich Froome nach seinem Salbutamol-Befund bei der Vuelta befindet, weiß man noch nicht, in welcher Funktion: als Domestique de luxe oder als der Fahrer mit dem nächstbesten Tour-Resultat beim Team Sky – Elfter 2013 – mit höheren Aufgaben? Es scheint ihn in diesem Jahr nicht weiter zu kümmern; es gibt unmittelbarere Ziele im Frühjahr, die ihn beschäftigen. „Ich will nur Rennen fahren“, sagt er. „Ich will mehr Klassiker gewinnen, ich will Lüttich gewinnen, ich will Flèche und Amstel gewinnen. Ich will sie alle gewinnen.“ An der verjüngenden Wirkung einer guten Saison besteht kein Zweifel.