Dem großen Druck gewachsen

Als Tom Dumoulin in Mailand aufs Treppchen stieg, tat er das als erster holländischen Giro-Sieger und neuer Superstar in seiner Heimat. Als Procycling ihn bei der Tour de Suisse interviewte, trafen wir einen Fahrer an, der mit der Bedeutung seines Sieges erst noch klarkommen muss.

 

Nachdem Tom Dumoulin im vergangenen Jahr zwei Etappen der Tour gewonnen hatte, sagte Sunweb-Manager Iwan Spekenbrink voraus, dass sein Fahrer bei den großen Rundfahrten 2018 realistische Chancen in der Gesamtwertung haben würde. Aber da sind wir nun und sitzen dem Giro-d’Italia-Sieger Dumoulin gegenüber, im Juni 2017, mindestens ein Jahr vor den optimistischsten Schätzungen – auch denen des 26-Jährigen selbst. Mit seinem Giro-Sieg wurde Dumoulin der erste holländische Gewinner des Rosa Trikots und der erste holländische Sieger einer großen Rundfahrt seit 37 Jahren. Es war auch sein erster Sieg bei einem Profi-Etappenrennen, womit er mit Fabio Aru gleichzieht – dessen erster Rundfahrtsieg als Profi kam bei der Vuelta 2015. „Zu gewinnen ist überraschend – aber großartig“, sagt Dumoulin an einem heißen Sonntagmorgen Anfang Juni zu Procycling. „Ich wäre mit einem fünften bis zehnten Platz in der Gesamtwertung, vielleicht einem Etappensieg und dem Zeitfahren vollauf zufrieden gewesen. Das wäre ein erfolgreicher erster Schritt gewesen“, meint er und erinnert an seinen sechsten Platz bei der Vuelta a España 2015,  vor dem er dreimal ins Rote Trikot gefahren war. Dort war er zwei Bergpässe vom Sieg entfernt, als Aru und Astana ihn schließlich knackten.

Die zwei Wochen nach dem Giro vergingen wie im Flug für Dumoulin. Er und sein Team genossen die Aufmerksamkeit, die dem jüngsten glaubwürdigen Star in der Welt des Radsports zuteilwurde. Es gab öffentliche Auftritte und ein Fest zu seinen Ehren. Er tauchte bei der Hammer Series in der Limburg Sportzone auf und stellte fest, dass ein Bikepark nach ihm benannt worden war. Dann stand das nächste Rennen an, die Tour de Suisse, wo wir ihn trafen. Am Vortag war er beim Prolog gestartet und Fünfter geworden, aber mental war er erschöpft. Er und sein Team fragten sich, wann, nicht, ob er es nach einer angespannten, aber sehr erfolgreichen ersten Hälfte der Saison schließlich genug sein lassen würde. „Das ist mein entspanntester Tag seit zwei Wochen“, sagt er uns auf der Terrasse, wo Schweizer einen Sonntagsbrunch mit der Familie veranstalten. An einem anderen Tisch sitzen Sunweb-Fahrer zusammen und unterhalten sich über sich selbst. Dumoulin erklärt, dass sich im Team durch den Giro nichts verändert hat. „Einige Fahrer, die ich vorher nicht gesehen habe, haben mir jetzt gratuliert, aber das ist alles. Im Rennen bin ich derselbe Typ. Ich werde nicht anders behandelt. Ich habe keine Suite im Hotel, und im Team ist es dasselbe. Auch wenn ich Familie und Freunde um mich herum habe, ist es komplett dasselbe.“ Seine Heimatstadt Maastricht feierte ihn ausgiebig, als er mit seiner Trofeo Senza Fine, der berühmten spiralförmigen Trophäe des Giro, nach Hause kam. Tausende, vielleicht Zehntausende von Einwohnern in rosa Kleidung hatten sich spontan auf dem Grote Markt versammelt. Er wurde zum Ehren-Limburger erklärt. Als die Konfetti-Kanonen donnerten und Jan Janssen und Joop Zoetemelk, die beiden früheren Grand-Tour-Sieger der Niederlande, ihm auf der Bühne gratulierten, genoss Dumoulin den Moment des Ruhms. Aber es war mitunter nicht einfach. „Es ist verrückt zu Hause”, sagt er, ohne dass wir ihn danach fragen. „Ich habe das Gefühl, dass ich mental nicht vom Giro runtergekommen bin. Normalerweise habe ich etwas Zeit, um nach einer Grand Tour mental und physisch runterzukommen und dann hochzufahren. Hier bei der Tour de Suisse hatte ich das Gefühl, dass ich keine Zeit hatte, daher nehme ich mir die Zeit jetzt“, sagt er in langsamem, aber makellosem Englisch.

Tom Dumoulin ist talentiert, gutaussehend, kann sich sehr gut ausdrücken und – wie Journalisten feststellten, die ihn interviewt oder ihm auf Pressekonferenzen nur zugehört haben – wirklich interessante Dinge von sich geben. Dumoulin sagt uns, er sei ein „Mann der Diskussionen“. Ungeachtet der Tatsache, dass es sich auf das Lösen von Differenzen in der Mannschaft bezog, schaltet der 26-Jährige sein Gehirn ein, wenn er spricht. Er ist ein erfrischend unverblümter Interviewpartner.
„Als ich vom Giro zurückkam, belagerten 30 Journalisten mein Haus. Es war schrecklich. Ich konnte tagelang nicht nach Hause“, berichtet er. „Die Feier in Maastricht war verrückt, aber sie hat mir auch gezeigt, was ich erreicht habe – dass es etwas war, das wir in Holland lange nicht erlebt haben.“ Daran muss er sich erst gewöhnen. „Die Leute, natürlich vor allem in den Niederlanden, behandeln mich anders, wenn ich in der Stadt unterwegs bin – dann merke ich, vielleicht habe ich etwas Großes geschafft. Das ist für mich auch das Schwierigste. Ich habe ein Problem damit, dass ich … Ich wäre gerne unerkannt, wenn ich durch die Stadt gehe, aber das ist nicht mehr möglich. Ich werde damit klarkommen müssen.“ „Zieh’ nach Monaco“, schlagen wir vor. „Ha. Nein. Nein, das kommt nicht infrage.“ Wir reden mit Dumoulin über den Giro. „Die größte Lektion, die ich gelernt habe?“, fragt er, nur um sicherzugehen, dass er unsere Frage richtig verstanden hat. Und während er aufschaut, dann nach rechts blickt und seufzt, sagt er: „Oh, so viel, so viele Lektionen.“
 
Wenn Dumoulin das Rosa Trikot unangefochten gewonnen hätte, wäre es vielleicht etwas anders gewesen, der Sieg weniger glanzvoll. Der harte Kampf bis nach Mailand veredelte das Resultat. Das war wirklich ein Giro für die Ewigkeit: Ein als Viertplatzierter in die letzte Etappe gegangener Fahrer hatte noch nie eine große Rundfahrt gewonnen; die Top Fünf trennten nach der 20. Etappe 1:15 Minuten. Das Podium war nach dem abschließenden Zeitfahren komplett umgekrempelt. Fünf Fahrer lagen am Ende des Rennens zwei Minuten auseinander. Es war erst das neunte Mal bei allen großen Rundfahrten, dass die Top Drei in der Gesamtwertung am Ende weniger als 60 Sekunden Abstand aufeinander hatten. Aber so spannend die Auflösung auch war, schien der Giro zu Beginn trotz exotischen Insel-Hoppings und der Kletterpartie zum Ätna zu schlummern. Das Rennen wachte erst auf, als es auf der 9. Etappe auf den Blockhaus ging. Dort wurde der Movistar-Kapitän Nairo Quintana zum Mann, den es zu schlagen galt – er lieferte eine perfekte Kletterleistung ab, die viel für den Rest des Giro versprach, auf die er jedoch nicht aufbauen konnte. Am Blockhaus blieb Dumoulin mit 30 Sekunden auf Tuchfühlung. Es war eine exzellente Performance. Der Holländer schlug zwei Tage später zurück, als er das Feld beim Zeitfahren nach Montefalco pulverisierte. Er fuhr die schwere, 39,8 Kilometer lange Prüfung fünf Sekunden pro Kilometer schneller als Quintana und zwei Sekunden pro Kilometer schneller als Vincenzo Nibali. Das Rosa Trikot und ein Polster von 2:23 Minuten gehörten ihm. Es stellte die Weichen für die letzten elf Tage des Rennens, wovon sechs durch die Berge führten. Jede Bergetappe wurde seziert, analysiert und beurteilt unter dem Gesichtspunkt, ob sie zu verteidigen oder eine sichere Falle für den Sunweb-Fahrer war. Vier Tage nach dem Zeitfahren nach Oropa kletterte er allen davon, sogar Quintana, und gewann weitere Zeit. Sein Vorsprung erreichte 2:47 Minuten – das Maximum. Aber von da an geriet der Holländer unter Beschuss. Auf dem Weg nach Bergamo, Bormio, St. Ulrich, Piancavallo und Asiago wurde er in die Zange genommen. Dumoulin ächzte und schwankte, doch er brach nicht ein. „Ich habe einfach nicht aufgegeben, als ich in der letzten Woche schlechte Beine hatte“, sagt Dumoulin. „Ich habe einfach weitergemacht, und das war die wichtigste Lektion. Du machst immer weiter, du kämpfst immer; dann ist es sogar mit schlechten Beinen und schlechter mentaler Verfassung immer noch möglich, wirklich gut zu fahren.“

Natürlich war die Toilettenpause, der Poep-Zwischenfall auf der 16. Etappe, auch der Moment, in dem der Giro zum Thriller wurde. Zahlreiche Euphemismen sind aus dem Boden geschossen für die berühmteste Darmentleerung mitten im Rennen seit Jan Ullrichs Verwendung einer casquette bei der Tour, und Dumoulin hat sie alle gehört. Die Frage danach ist ihm nicht peinlich. „Ich habe deswegen kein schlechtes Gewissen“, sagt er. Ein ähnlich dringendes Bedürfnis hatte Dumoulin am Fuß des Col de Peyresourde bei der letztjährigen Tour. Am folgenden Tag gewann er die Etappe nach Arcalís. Damals gab es ein Wohnmobil mit Privatsphäre; beim Giro nur einen Schweizer Straßengraben und einen Kameramann, der so viel Anstand hatte, ihn nicht weiter zu filmen. Trotzdem ist es das zweite Mal passiert. Verschiedene Gründe wurden angeführt, warum Dumoulin so dringend musste: die Höhe, auf die das Rennen geführt hatte (sie hatten gerade das 2.757 Meter hohe Stilfser Joch überquert); was er gegessen hatte. „Ich glaube, es war eine Kombination aus all diesen Dingen“, sagt er und fügt noch hinzu: „Alles in mir war müde, es ist die dritte Woche und der Körper ist schon sehr belastet. Vielleicht habe ich mehr Gels als sonst gegessen. Und gleich nach dem Stilfser Joch, wo mein Körper unter voller Belastung stand, aß ich einen Riegel, den ich vielleicht nicht hätte essen sollen. Aber mir war nicht schlecht“, sagt er mit Nachdruck. „Ich muss einfach mehr darauf achten, was ich esse und dass ich das Richtige esse.“ Bis zum Fuß des Umbrailpasses hatte Dumoulin keine Zeit eingebüßt, außer bei Quintanas explosiver Vorstellung auf dem Blockhaus und einer Gutschrift für den Kolumbianer in Bergamo auf der 15. Etappe. Aber nachdem die Unentschlossenheit seiner Rivalen zu Beginn des Umbrailpasses vorüber war, war die Jagd eröffnet. „Meine Rivalen haben es gesehen und alles versucht, um mich zu knacken“, sagt Dumoulin. Fast fünf Tage am Stück wurde er gehetzt und zermürbt. Die 18. Etappe nach St. Ulrich fühlte sich an wie ein Sieg. „Sie haben mich von allen Seiten angegriffen, aber ich fühlte mich gut.“ Die folgende Etappe nach Piancavallo auf vermeintlich moderatem Terrain war sein jour sans. „Ich hatte furchtbare Beine an dem Tag. Ich hätte fast das Trikot verloren, weil ich in der Abfahrt zu weit hinten war. Ich fühlte mich den ganzen Tag schlecht und konnte meinen Verlust auf gut eine Minute begrenzen. Das war der wichtigste Tag.“

Nach dem Giro zu urteilen, fährt Dumoulin gut unter Stress. Er vermied den Fehler von Fahrern wie Cadel Evans bei der Tour 2008 und Thomas Voeckler bei der Tour 2011, als sie in Panik gerieten und Angreifer verfolgten. Wie Dumoulin sagt: „Ich bin kein emotionaler Mensch“ – eine Äußerung, die jedem Interviewer das Blut gefrieren lässt, aber er ist nicht stumpf oder reserviert, er spricht nur von seiner Geduld. „Ich werde nicht schnell wütend oder traurig, daher kann ich mit vielen Situationen umgehen. Aber in der letzten Woche war ich auch wütend.“ Es gab mindestens drei Zwischenfälle, die seine Stimmung eintrübten: Ärger über den Verlust von Wilco Kelderman, seinem zuverlässigsten Berghelfer, am Blockhaus nach einem offenbar vermeidbaren Unfall mit einem schlecht geparkten Begleitmotorrad. Er war auch frustriert über die Tortur auf dem Umbrailpass, die ihn „unnötige“ Minuten kostete. Aber er rastete wirklich aus und schimpfte über Nibali und Quintana, als sie Ilnur Zakarin und Thibaut Pinot, die auch ihre Rivalen waren, auf der 18. Etappe nicht verfolgten. „Ich hoffe, dass sie ihre Podiumsplatzierungen verlieren, weil sie sich nur auf mich konzentrieren“, sagte er. „Weiß er, was Karma ist?“, entgegnete Nibali drohend. Dumoulin bedauert seine Bemerkung, aber der Grund ist bezeichnend. „Eine Stunde später … Es war nicht nötig. Ich habe mich einfach über Nibali und Quintana geärgert, aber es hat mir nicht mehr Energie gegeben, ein solches Interview zu geben. Es hat mich Energie gekostet. Natürlich haben die Medien das aufgegriffen, und einen Tag lang war es der große Nibali-Dumoulin-Streit. Sie konnten Blut riechen. Es hat mich nicht beeinflusst, aber es hat mir nicht mehr Energie gegeben.“ Die fällige Versöhnung für die Kameras kam am folgenden Tag, und alle drei schafften es auf das Podium, aber es sah nicht so aus, als wären viele Brücken gebaut worden.

Dumoulin war nicht isoliert. Spontane Alliierte tauchten in seinem schwierigsten Moment auf. Auf der 19. Etappe schickte LottoNL–Jumbo Männer an die Spitze seiner Verfolgergruppe, obwohl eigentlich das Rosa Trikot die Verantwortung hätte übernehmen müssen. Am folgenden Tag in Foza und auf den welligen 15 Kilometern nach Asiago halfen ihm Adam Yates, Bauke Mollema und vor allem Bob Jungels, eine Lücke zu Quintana nicht größer werden zu lassen. „Sie kämpften nicht mehr um die Gesamtwertung, weil sie ihre Plätze schon fest hatten – sie haben definitiv mir geholfen“, sagte er. „Ich bin sehr froh darüber und sehr dankbar.“ So blieb nur noch das abschließende Zeitfahren nach Mailand über 29 Kilometer, wo die 53 Sekunden und drei Positionen, die ihn vom Rosa Trikot trennten, eine Formalität waren. Am Ende war das Rennen gleich nach der ersten Zwischenzeit vorbei, als Aike Visbeek, der Sportdirektor des Teams, sich das Funkgerät griff und Dumoulin anwies, sich zurückzuhalten. „Keine Risiken“, kam das Kommando. Dumoulin würde diesen Punkt zurückweisen, weil er nichts auf seine Mannschaft kommen lässt, aber sein Sieg war ein sehr individueller. Seinen Vorsprung hat er gegen die Uhr herausgefahren. Er verteidigte den Vorsprung stoisch, wobei seine Teamkollegen häufig abwesend waren. Womit war er zufriedener? Wie er Zeit he-rausfuhr oder wie er sie verteidigte? „Mit beidem“, sagt er zweideutig. „Der Angriff in Oropa war körperlich das Beeindruckendste, aber wie ich in der letzten Woche klargekommen bin, obwohl ich an einigen Tagen nicht die besten Beine hatte, wie ich damit umgegangen bin, das ist eigentlich der größte Schritt, den ich bei diesem Giro gemacht habe.“ Man weiß einfach: Dumoulin ist ein guter Mann in der Krise.



Cover Procycling Ausgabe 162

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