Die Kunst des Abfahrens

Rennorganisatoren und Fernsehproduzenten lieben Abfahrten wegen des Spektakels, der Spannung und ihres Potenzials, die Gesamtwertung durcheinanderzuwirbeln. Das macht die Radbeherrschung immer wichtiger. Bernhard Eisel erklärt uns, wie es geht.

 

Bernhard Eisels linkes Bein ist voll ausgestreckt, das rechte Knie angewinkelt. Sein rechter Ellbogen berührt die Innenseite seines Oberschenkels und sein Kinn ist nach vorn gereckt, damit er die Kurve so weit wie möglich überblicken kann. Sein Körpergewicht ist über seine Arme größtenteils auf das Vorderrad verlagert. Seine Hände ruhen entspannt im Unterlenker. Zwei Finger hat er am Bremshebel, nur für den Fall. Er ist in Schräglage nach rechts, aber bringt mit seinem ausgestreckten linken Bein Gewicht aufs Pedal, um die Reifen auf der Straße zu halten. Er zieht einen geschmeidigen Bogen durch die Kurve. Die Bergwand huscht an ihm vorbei, seine Augen sind fest auf den Asphalt gerichtet. Er setzt sich wieder aufrecht hin und tritt voll in die Pedale – 70, 80, 90 km/h sind auf seinem Tacho zu lesen. Die Karenzzeit wartet auf niemanden. In die nächste Kurve, die nächste und die nächste, die endlosen Windungen einer Abfahrt bei einer großen Rundfahrt. Jede Kurve könnte die letzte sein, wenn etwas schiefgeht. Aber das Abfahren ist ihm so in Fleisch und Blut übergegangen, dass er es fast unbewusst macht. „Wenn ich jemandem erklären müsste, wie man abfährt, könnte ich es nicht“, sagt Eisel. „Nimm einfach das kurveninnere Pedal hoch und folge mir.“ Die Abfahrten sind der spektakulärste und gefährlichste Bereich des Radsports. „Wir verlagern das Gewicht so sehr aufs Vorderrad, dass das Hinterrad manchmal den Asphalt nicht mehr berührt und dich in der Kurve überholen will. Dann weißt du, dass es knapp war“, sagt Eisel mit einem rauen Lachen, aus dem man heraushört, wie sehr er es liebt, bergab ans Limit zu gehen.

Neue Kampfzone
Anstiege scheinen das Gesamtklassement immer weniger zu sortieren. Anstiege werden, vor allem bei der Tour, immer berechenbarer. Sean Yates brachte es bei der Tour 2016 auf den Punkt, als er erklärte, warum das Hochgebirge nicht für die K.-o.-Schläge gesorgt hatte, die die Fans sehen wollten. „In den wichtigen Anstiegen“, sagte er Velonews, „setzt sich Sky an die Spitze und fährt ein sehr hohes Tempo. Alle sind am Anschlag, und wenn du sehr gute Fahrer hast, die am Anschlag rund 450 Watt fahren, musst du, um zu attackieren, in den roten Bereich gehen, und dafür bekommst du die Quittung.“ Daher müssen sich die Fahrer nach anderen Möglichkeiten umsehen. Abfahrten sind eine davon. Chris Froome nahm seinen Rivalen bei der Tour 2016 auf dem Weg nach Luchon 13 Sekunden ab – in einem dieser Momente, wegen denen man sich in 20 Jahren noch an die Tour erinnern wird. Die gewonnene Zeit war gering, aber das meiste, was er seinen Rivalen außerhalb der Zeitfahren abnehmen konnte. Vincenzo Nibali gewann die Lombardei-Rundfahrt 2015 mit einer gewagten Abfahrt vom Civiglio. Man könnte auch sagen, dass er den Giro 2016 gewonnen hat, indem er Steven Kruijswijk in der Abfahrt vom Colle d’Agnello auf der 19. Etappe unter Druck setzte. Gute Abfahrer sind im Vorteil, und die Organisatoren bieten ihnen entsprechende Strecken. Die atemberaubende Abfahrt der Tour vom Col d’Allos 2015 wurde im nächsten Jahr mit einer Reihe von Tal-ankünften nach schwierigen Abfahrten wiederholt. Und während die Klassementfahrer, die aus einem bestimmten Holz geschnitzt sind, die Lorbeeren ernten, sind sie weiter hinten im Feld immer schon abgefahren wie die Teufel. Wie Dan McLay bemerkte, der britische Sprinter von Fortuneo–Vital Concept: „Wenn du den Berg nicht schnell hochkommst, musst du sehr schnell runterkommen.“ Eisel ist ein Klasse-Abfahrer, aber er weiß nicht, wer die besten sind – die Kletterer, die auf den Sieg aus sind, oder die Sprinter und Domestiken, die das Zeitlimit nicht verpassen und einen weiteren Tag in der Hölle genießen wollen. Aber er sagt: „Da wir vom Sprinten kommen, bremsen wir definitiv später als andere Fahrer und haben mehr Radbeherrschung.“
 
Schneller denken
Es gibt wenige Abfahrten in Europa, die der mittlerweile 35 Jahre alte Eisel nach 16 Profijahren nicht kennt. Vielleicht nicht in- und auswendig, wie die beiden Seiten des relativ unkomplizierten Tourmalet, aber selbst wenn er sie nur einmal gefahren ist, hat er knifflige Kurven, gefährliche Stellen oder besonders enge Serpentinen abgespeichert. Wenn er zum zweiten Mal in eine Abfahrt geht, weiß er, wo er lieber Vorsicht walten lassen und kein Risiko eingehen sollte. Streckenkenntnisse sind ein Plus. Die Fähigkeit zu antizipieren, was auf einen zukommt, spielt beim Abfahren ebenso eine Rolle wie Radbeherrschung, die Wahl der richtigen Linie und Risikobereitschaft. Neben seiner persönlichen Erfahrung sind die Motorräder eine wichtige Orientierungshilfe für Eisel. Der Österreicher, der Mark Cavendish über die Berge eskortieren muss, „verlässt sich voll“ auf die Motorradpolizisten, die bei der Tour bergab voraus-fahren. „Wenn nur noch Mark und ich da sind, ist ein Motorradpolizist vor uns, und die können fahren“, betont er. Sie wählen die besten Linien und bremsen spät. „Wenn ihre Bremslichter aufleuchten, bremse ich.“ Aber das gilt nur, wenn sie einem Motorrad folgen. Wenn das Terrain es zulässt, schaut er den Abhang herunter, um zu sehen, was andere Motorräder Hunderte Meter weiter vorn auf der Strecke machen. „Du siehst, wie lange seine Bremslichter vor einer Kurve an sind. Wenn du siehst, dass die Bremslichter gleich wieder ausgehen, weißt du, dass er Vollgas fährt.“ Eisel arbeitet gern mit den voranfahrenden Motorradpolizisten. Gegenseitiger professioneller Respekt ist ein Grund. „Aber du siehst, dass es ihnen auch Spaß macht. Sie genießen die Zeit hier. Sie müssen sich sechs Stunden konzentrieren, aber du kannst sehen, dass es ihnen Spaß macht, auf den abgesperrten Straßen der Tour unterwegs zu sein. Die Leute reisen um die halbe Welt, um mit dem Motorrad über eine Passstraße zu fahren, und sie machen es und werden dafür bezahlt – wie wir!“

 

Ein kurzer Blick in den Abgrund kann noch mehr verraten: Das Aufblitzen einer Windschutzscheibe, eine Fahne oder ein Picknicktisch. „Und das heißt Fans, und daher weißt du, dass eine Serpentine oder so etwas kommen muss.“ Das alte Gesetz der Zuschauer gilt in den Abfahrten ebenso wie in den Anstiegen: Man stellt sich dorthin, wo die Fahrer am langsamsten sind und man sie daher am längsten sieht. Fans unterscheiden sich wie die Straßenqualität von Land zu Land. In Frankreich bei der Tour gehen sie mit den Nachzüglern meist respektvoll um. „Aber beim Giro ist es manchmal wirklich krass“, erzählt Eisel. „Sie lassen Tausende von Fahrern mit dir in gleicher Richtung abfahren. Du hast eine rollende Verkehrsinsel vor dir.“ Dies sind die vorübergehenden, sich bewegenden und beweglichen Anzeichen für Kurven und Schikanen. Es gibt einen weiteren, brutaleren Hinweis, so Eisel: das permanente Straßenmobiliar. „Wenn ich weiß, dass es keine Absperrung gibt, fahre ich einfach runter, so schnell ich kann.“ Es kann sein, dass eine Weide oder anderes Terrain für eine heftige, aber beherrschbare Entschleunigung sorgt. Wenn es eine Leitplanke gibt, bedeutet das dünne Luft, also gar keine Entschleunigung, oder Felsen und Bäume, die töten können. „Wenn es eine Leitplanke gibt, steht sie aus einem Grund da. Dann muss man stürzen, bevor man auf sie prallt. Du verlierst viel Haut und du weißt, dass du gegen diese Leitplanke prallst, aber wenigstens bleibst du auf der Straße.“ Während es viele Hinweise darauf gibt, wo die Straße entlangführen wird, können die Fahrer kaum wissen, wie ihre Oberfläche beschaffen sein wird. „Du kannst deinen Reifen vertrauen“, sagt Eisel, „sie sind gut“, aber selbst sie sind der Straßenoberfläche ausgeliefert. Eine potenzielle Gefahr für die Griffigkeit sind die Bitumenbänder zwischen Asphaltabschnitten, so Eisel. An heißen Sommertagen können sie geschmolzen sein. „Wenn du sie mit 70 oder 80 km/h erwischst, rutschst du weg. Es ist egal, ob du aufrecht oder in Schräglage fährst, du rutschst weg. Es ist unvorhersehbar – vielleicht bleibt dein Vorderrad in der Spur, aber dein Hinterrad rutscht seitlich weg – deswegen musst du immer aufpassen, vor allem, wenn du in einem Winkel darüberfährst. Du wirst zwischen zwei und fünf Zentimeter aus der Spur getragen. Das klingt nicht viel, aber wenn du mit 70 oder 80 km/h durch eine Kurve fährst, ist das sehr viel. Es ist immer noch alles unter Kontrolle, aber du weißt nie.“ Das andere Hindernis sind kleine Steinchen, die von vorausfahrenden Mannschaftswagen aufgewirbelt wurden, die in Eile waren und die Kurven angeschnitten haben.
 
Risiko versus Gewinn
„Ein guter Abfahrer ist einer, der auch bei Problemen die Kurve noch kriegt“, sagt Eisel. „Er schliddert ein bisschen, korrigiert seinen Fehler und fährt eine andere Linie.“ Thor Hushovd genießt Eisels Respekt als einer der besten Abfahrer, mit denen er je gefahren ist, weil er sich immer noch knapp retten konnte. „Dann siehst du welche, die fast die Hände vom Lenker nehmen“, fügt er hinzu. Um sie macht er einen weiten Bogen. Und manchmal geht es wirklich schief. Im schlimmsten Fall endet es tragisch. Fabio Casartellis Tod bei der Tour 1995 am Portet d’Aspet verfolgt den Radsport noch immer, ebenso wie der von Wouter Weylandt beim Giro am Passo del Bocco 2011. Aber meistens sind gebrochene Knochen, abgeschürfte Haut und angeknackste Egos die Folgen von Stürzen. Für Eisel war der schlimmste Zwischenfall in einer Abfahrt, als er eine Kurve auf der Nordseite des schweren Col de la Madeleine komplett verpasste. Er fuhr fast geradeaus, und da es keine Leitplanke gab, sauste er in eine Kuhweide und ging über den Lenker. „Ich hatte nicht viele Kratzer, aber ich war ganz grün und bin in einen Kuhfladen gefallen!“ Eisel saß gleich wieder auf dem Rad und nahm die Verfolgung der Gruppe auf, aus der er sich herauskatapultiert hatte. Es bleib kein Zeit zum Nachdenken oder Entwickeln von Selbstzweifeln – was wahrscheinlich gut war. Als Eisel bei der Tour of Dubai im letzten Jahr [2016] in einer Verpflegungszone schwer stürzte, „habe ich zuerst mein Vorderrad, dann mein Hinterrad gecheckt, um zu sehen, ob sie sich sauber drehen, und dann hieß es weitermachen – und ich konnte die Enden des Knochens knacken hören.
Unsere Sportart ist so krank, dass ein Mannschaftsarzt dich fragen kann, wo du bist, wie du heißt und wann du geboren bist. Wenn du zweieinhalb Fragen beantworten kannst, kannst du weiterfahren. Weinen kannst du später, aber erst wieder auf den Sattel und zurück in die Gruppe. Wir flicken dich später zusammen“, erklärt er die Mentalität von Radrennfahrern.

Dabei werden die Fahrer im Laufe der Saison sicherer. Zu Beginn sind sie in den Abfahrten scheuer und nervöser. Zum einen können Straßen, gerade italienische, nach dem Winter wie Spiegel sein. „Du schaust runter und siehst dich in ihnen“, sagt Eisel und fügt hinzu, dass der Poggio in der Schlussphase von Mailand–San Remo besonders schwer herunterzufahren ist. Aber die Fahrer müssen auch erst wieder ihren Rhythmus finden. „Nach einer Woche in den Bergen bist du wirklich eins mit deinem Rad. Wenn du nach zwei Tagen Tour deinen ersten Bergpass herunterfahren müsstest, würdest du nicht so schnell fahren wie in der letzten Woche. Es ist einfach ein Gefühl. Du hast mehr Vertrauen zu allem – du bist wirklich eins mit deinem Rad.“ Eisels Risikobereitschaft hat mit jeder Saison nachgelassen. Als zweifacher Vater trägt er eine Verantwortung, die darüber hinausgeht, im Zeitlimit anzukommen. Aber die Erfahrung, versichert er, kompensiert die geringere Bereitschaft, Kopf und Kragen zu riskieren. Trotzdem liebt er rasante Abfahrten immer noch. Der Cocktail aus Geschwindigkeit und Gefahr ist so stark wie eh und je. Während die Anstiege ihren geheimnisvollen Nimbus verlieren und von der Wissenschaft zu einem Krieg der Wattzahlen reduziert werden, sind es die Abfahrten, die verhindern, dass die Berge ein schönes Ödland ohne Drama werden.



Cover Procycling Ausgabe 156

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 156.

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