MK II

Er gewinnt Sprints wie nie zuvor. Procycling fragt: Warum ist Marcel Kittel so gut?

 

Mark Cavendish meinte es Ende März nur halb im Spaß, als er sagte, er würde sich vielleicht ein Jahr freinehmen, das hätte Marcel Kittel ja auch nicht geschadet. Er verlieh seiner eigenen Theorie prompt mehr Gewicht, als er seinem großen Rivalen beim Halbklassiker Scheldeprijs unterlag. Kittel hatte knapp die Nase vorn und bleibt so im direkten Duell mit Cavendish weiter ungeschlagen. Cavendish ist zwar schon an Kittel vorbeigezogen, aber nie im Kampf um den ersten Platz. Nur ein Fahrer kam in dieser Saison bei einem Massensprint an Kittel vorbei: Elia Viviani auf der 2. Etappe der Drei Tage von De Panne. Ansonsten hat Kittel zehn Rennen gewonnen – neun mehr als in der gesamten letzten Saison. Und die Niederlage gegen den Italiener im März war ein Ausrutscher. Zwei Monate später, als Kittel beim Giro d’Italia zwei Etappen in Folge gewann, war es sein Bezwinger, Viviani, der aussprach, was alle dachten, als sie den Deutschen die Opposition nicht schlagen, sondern vernichten sahen. „Ich glaube, er ist der stärkste Sprinter, den ich in meinen sieben Jahren als Profi gesehen habe“, sagte Viviani, kurz nachdem er auf der 3. Etappe im holländischen Arnhem mit deutlichem Abstand auf dem zweiten Platz gelandet war. „Heute habe ich viel Energie aufgewendet, um an sein Hinterrad zu kommen, aber wenn er den Sprint eröffnet, kann ich sein Hinterrad nicht halten. Ich denke nie daran, an ihm vorbeizukommen, sondern nur daran, an seinem Hinterrad zu bleiben. Er ist unglaublich“, fuhr Viviani fort. „Im Moment ist er der stärkste Sprinter der Welt. Im Moment kannst du, wenn du sein Hinterrad erwischst, Zweiter werden“ – aber nicht mehr. Zu seinem Sieg bei De Panne sagte Viviani großzügig: „Ich habe gewonnen, aber er ist keinen perfekten Sprint gefahren. Wenn Kittel alles perfekt macht, ist es im Moment unmöglich, ihn zu schlagen.“ Ein anderer Sprinter, Giacomo Nizzolo, sagte Ähnliches: „Gegen diesen Kittel kommt man kaum an.“

Mit „diesem“ Kittel ist die Version von 2016 gemeint, nicht das letztjährige Modell mit den Fehlzündungen. Dass er in dieser Saison eine Wiederauferstehung erleben würde, deutete sich schon im Januar an, bei einem Trainingslager mit seinem neuen Team Etixx – Quick-Step im südspanischen Calpe. Selbst für einen Fahrer, der mit den Medien immer locker und liebenswürdig umgeht, schien Kittel extrem entspannt. Er war sehr gefragt, natürlich. Alle erkundigten sich nach seinem desaströsen 2015, als er krank war, nicht in Form und im Clinch mit seinem Team Giant-Alpecin lag, kaum Rennen fuhr und für die Tour de France übergangen wurde. In Calpe ging Kittel mit der ganzen Aufmerksamkeit in gewohnter Manier um. Er war verbindlich, höflich und geduldig. Als abends die Sonne in dem Badeort unterging und es kühler wurde, saß er noch am Swimmingpool, mampfte einen Apfel und plauderte mit ein oder zwei Journalisten, die sich noch dort aufhielten. In der Nähe wurde das Arrangement, das für die Pressekonferenz aufgebaut worden war, auseinandergenommen. Als die Pressesprecherin des Teams einen Karton hochhob, sah Kittel sie, sprang auf und bot ihr an, ihn zu tragen. Sie lehnte ab, doch der Eindruck war so verblüffend wie sein akkurat sitzendes blondes Haar. Und sehr vorteilhaft natürlich. Trotzdem sagte Kittel in rund vier Stunden Unterhaltung alles in allem sehr wenig darüber, was letztes Jahr genau schieflief. Nicht, dass daran irgendetwas merkwürdig wäre – es kann natürlich sein, dass er es selbst nicht wirklich weiß und nie wissen wird. Dass Kittel wieder in Form war und schon Anfang Februar die 1. Etappe der Dubai Tour gewann, ließ die Fragen nicht verschwinden. Er gewann weiter – noch einmal in Dubai, dann bei der Algarve-Rundfahrt, De Panne, Romandie und dann natürlich beim Giro –, und laufend wurden Fragen gestellt.

„Ich habe es bestimmt schon eine Million Mal gesagt“, erklärte er nach seinem zweiten Etappensieg beim Giro, mit dem er das Rosa Trikot übernommen hatte. Aber statt es weiter auszuführen, begab er sich auf sichereres Terrain und lobte sein neues Teams, insbesondere die Unterstützung, die es ihm biete. „Wir haben gut gearbeitet und ich bin in wirklich in guter Form, das ist ein weiterer Grund, warum ich so schnell bin“, erklärte er. „Wenn ich das mit Irland vergleiche [wo der Giro d’Italia 2014 begann und Kittel ebenfalls zwei der ersten drei Etappen gewann], ist es anders und jetzt schwer zu beurteilen, weil meine Erinnerungen an den Giro 2014 gut und schlecht sind.“ Denn damals erkrankte er und ging nicht mehr an den Start, als der Giro in Italien weiterging. Dieses Jahr blieb er gesund, schaffte es vom Start in den Niederlanden bis in den Süden Italiens und stieg nach der 8. Etappe aus. Damit hat Kittel vier Etappen des Giro gewonnen und das Rosa Trikot getragen, doch seine beste Platzierung auf italienischem Boden war ein 95. Platz auf der 4. Etappe in diesem Jahr. Aber das sind Fußnoten. Die wichtigste Lektion des Giro – und die wichtigste Erkenntnis für Kittel selbst – war die einfache Tatsache, dass er bei einem klassischen Massensprint dominant war. Seine Rivalen kämpften entweder verzweifelt um sein Hinterrad oder kratzten sich am Kopf und gaben zu, dass er derzeit unschlagbar ist.

Kittels Erfolg hat die Laune von Patrick Lefevere verbessert – zumindest kurz. Der aufbrausende Belgier, dessen Etixx-Team mit leeren Händen aus seinen geliebten Frühjahrsklassikern hervorgegangen war, war hocherfreut über Kittels Siege, hatte aber trotzdem etwas zu beanstanden. „Ich verstehe die anderen Teams nicht“, sagte Lefevere nach Kittels zwei Siegen in zwei Tagen. „Keiner will arbeiten und sie pokern und sie sind Gefahr gelaufen, die heutige Etappe zu verlieren. Uns hätte ein zweiter oder dritter Platz [für das Rosa Trikot] gereicht, aber wir wollen gewinnen. Da sind viele Sprinter, aber keiner arbeitet. Und du wirst nicht belohnt, wenn du nicht arbeitest.“ Vielleicht antizipierte Lefevere eine ähnliche Situation bei der Tour de France – dass von Etixx erwartet wird, die volle Verantwortung für die Kontrolle der Flachetappen zu übernehmen, ähnlich wie Cavendishs HTC-High-Road-Team von 2008 bis 2011, als ausnahmslos Cavendish gewann. Ein Mann, der in dem Team und auch bei Etixx eine zentrale Rolle spielte, zumindest am Steuer des Mannschaftswagens, ist Brian Holm. Der Däne hat eine entspanntere Haltung als Lefevere. „Wir haben [bei HTC] alles alleine gemacht und werden es wieder tun, aber ich glaube nicht, dass das nötig sein wird“, sagt Holm. „Wenn du heute mit einem Sprinter zur Tour de France gehst, solltest du ihn unterstützen. Wenn nicht, sieht es aus, als hättest du kein Vertrauen zu ihm.“ Selbst wenn es an Etixx hängen bleibt, glaubt Holm, dass alle Fahrer davon profitieren, auf den Flachetappen für einen Kapitän wie Cavendish oder Kittel zu arbeiten. „Was zum Teufel sollen die Domestiken den ganzen Tag machen, wenn sie nicht arbeiten? Sie wollen an dem Rennen teilnehmen, sie wollen arbeiten – wenn sie keine Aufgabe haben, sind sie danach ein bisschen deprimiert. Deswegen ist es immer gut, sie arbeiten zu lassen.“
 
Ziele
Holm kann Kittels Probleme 2015 auch nicht erklären, aber er war immer sicher, dass er wieder die Energie finden würde, mit der er vier Etappen der Tour 2014 gewann. „Ich habe den Klatsch eh nicht geglaubt, dass die Leute sagten, dass er es nicht mehr bringt. Im modernen Radsport kannst du auch mal ein schlechtes Jahr haben. Ich glaube, er war krank, wie er gesagt hat. Wenn du den falschen Weg einschlägst, ist es schwer, mitten in der Saison zurückzukommen. Du brauchst eine richtige Pause und musst den Motor dann wieder anlassen, und genau das hat er getan. Ich war im Februar mit ihm in Dubai“, sagt Holm weiter, „und ich würde nicht sagen, dass er nervös war, aber es war sehr schön, dass er mit einem Sieg in die Saison startete.“ Holm war im Januar auch in Calpe und schätzte, dass Kittel bereit war – angeblich hatte er Tony Martin bei einem Labortest im Winter geschlagen. „Natürlich ist es im Nachhinein immer einfach zu sagen, dass er wieder in der Spur war“, sagt Holm. „Aber seien wir ehrlich: Wenn jemand beim ersten Trainingslager der Saison scheiße aussieht, haben wir ein Problem. Sie sollten gut trainiert und fit sein. Wichtiger war, dass er sich im Team wohlfühlte. Du konntest sehen, dass er sich gut einfügte.“

Holm hat immer noch viel engere Bande zu Cavendish, für den er mehr als ein Sportlicher Leiter war. Die beiden waren bei HTC und bis letztes Jahr bei Etixx wie Vater und Sohn und viele waren überrascht, dass Rolf Aldag, nicht Holm, zu Beginn der Saison 2016 mit Cavendish zu Dimension Data ging. Daher ist der Däne bestens vertraut mit den zwei dominanten Sprintern der letzten Dekade, nachdem er nun mit beiden gearbeitet hat. Es gibt Ähnlichkeiten, sagt Holm – aber auch Unterschiede. „Sie brauchen jeder dieselbe Unterstützung. Cavendish war sehr gut darin, bei Team-besprechungen die Kontrolle zu übernehmen und zu sagen, wie er was haben wollte. Kittel ist genauso: sehr sicher, er weiß genau, was er will, sagt den Leuten einem nach dem anderen, was er will.“ Wo sie sich unterscheiden, sagt Holm, ist bei den Rennen, die sie sich zum Ziel setzen können. Er zweifelt nicht daran, dass Kittel eine klassische Sprintetappe gewinnen würde: „Wie eine Etappe nach Bordeaux, komplett flach, die gewinnt Kittel immer.“ Aber Cavendish hat sich selbst in seinem Zenit nie nur solche Etappen vorgenommen; er war vielseitiger und opportunistischer. „Mit Cav haben wir unmögliche Sachen gemacht: Etappen mit Seitenwind wie 2009 [3. Etappe nach La Grande Motte] und 2013 [13. Etappe nach Saint-Amand-Montrond] oder den Giro 2013, wo wir den ganzen Tag in welligem Gelände Tempo gemacht haben, oder 2009 bei der Tour [19. Etappe nach Aubenas]. An diese Tage werde ich mich den Rest meines Lebens erinnern. Mit Kittel machen wir so einen Scheiß nicht. Er ist ein reiner Sprinter. Mit Cav hatten wir diese Selbstmordkommandos. Beide sind Weltklasse, aber Cav kann, wenn er diesen Fremdenlegionärs-Blick aufsetzt, alles erreichen, was er will. Er kann es nicht jedes Mal, aber es ist, als würde er seinen Körper verlassen: Er hat so viel Energie. Wohingegen Kittel einfach seinen Sprint abzieht und 400.000 Watt tritt.“ Abzüglich der leichten Übertreibung hat Kittel Power – anders ausgedrückt. „Er ist ein reines Kraftwerk“, sagt Holm. „Er ist wie Tschernobyl, bevor es explodierte.“

 

Theoretisch sollte es Etixx mit ihm leichter haben als mit Cavendish: Man bringt ihn auf die Zielgerade und er erledigt den Rest. Aber natürlich ist es nie leicht. Mit Neuzugang Dan Martin hat das Team eine weitere Karte auszuspielen; es ist schwer (oder gar nicht) vorstellbar, dass der Ire eine Rolle im Sprintzug übernimmt. Dann gibt es da noch Julian Alaphilippe, einen weiteren starken Kletterer, der die Tour fahren möchte. „Wenn man Kittel hat, wäre es verrückt, ihn nicht zu beschützen“, sagt Holm. „Mit ihm hat man, wie mit Cav in der Vergangenheit, eine Garantie für einen Etappensieg. So, wie wir fahren – dass das Team die Flachetappen kontrolliert und bei Seitenwind zur Stelle ist –, halten wir alle unsere Fahrer aus Schwierigkeiten heraus. Das hilft Kittel und auch Dan [Martin]. Das haben wir in HTC-Zeiten gemacht und [Kim] Kirchen ist in die Top Ten der Gesamtwertung gekommen [7. 2008]. Wenn wir fahren, um Kittel zu unterstützen, wird es Dan helfen. Und wenn Kittel gewinnt, hilft es Dan auch.“ Kittel und Cavendish sind unterschiedliche Charaktere. Kittel wirkt ruhig, während Cavendish, wie Holm bereits sagte, intensiver und emotionaler sein kann. Holm lässt auf Cavendish nichts kommen. „Okay, bei Cav gab es mehr Getöse, aber Cav ist ein Gentleman“, erklärt er. „Kittel hat denselben Charakter wie [André] Greipel und Tony Martin und sie erinnern mich alle an Olaf Ludwig. Ludwig war ein knallharter Sprinter, aber der netteste Mensch, den ich je kennengelernt habe. Kittel ist genauso: immer beherrscht, und ich war überrascht, wie höflich und ruhig er ist. Er sieht aus wie ein Filmstar, hat aber nicht die Attitüde eines Filmstars.“
 
Weltmeisterschaft
Es war schade, dass Kittel den Giro verließ, bevor André Greipel so richtig in Fahrt kam. Nachdem er sich in Holland schwergetan hatte, gewann Greipel drei Etappen auf italienischem Boden, bevor auch er vorzeitig ausstieg, um sich auszuruhen und zu regenerieren, zumal „andere Ziele“ – die Tour und eine Weltmeisterschaft in Katar, die für Sprinter maßgeschneidert ist – auf seinem Programm stehen. Das führt zu einer faszinierenden Spannung im deutschen Lager – bei einem Rennen über 260 Kilometer, wo Seitenwind eine Rolle spielen könnte … unterstützen sie da den schnellsten reinen Sprinter der Welt, Kittel? Oder Greipel, einen Fahrer, der stärker zu werden scheint, je schwerer das Rennen und je länger die Distanz ist? Nicht zu vergessen John Degenkolb, der ebenfalls endschnell und ein Mann für die großen Rennen ist – und nach seinem schweren Trainingsunfall im Januar langsam wieder in Form kommt. Wie Greipel staubtrocken sagte, als er darauf angesprochen wurde, „ist die Weltmeisterschaft im Oktober“. Aber die Tour wird sicher mit darüber entscheiden, wer Deutschland in Katar anführt. „Es ist mein Ziel für das Ende der Saison und ich will dort als Sprinter mit dem deutschen Team antreten“, sagte Kittel beim Giro, als er nach der Weltmeisterschaft gefragt wurde. „Aber ich fange jetzt nicht an, darüber zu diskutieren, ob ich Kapitän sein werde oder nicht, weil es noch ein halbes Jahr hin ist und die Auswahl im Sommer getroffen wird. Derzeit kann ich nur gute Gründe liefern, warum ich im Team sein sollte.“ Zwei hat er in den Niederlanden geliefert. Und als wäre die Tour nicht schon wichtig genug, sorgen Kittels Wiederauferstehung, Greipels unverminderte Stärke und Degenkolbs Comeback für eine unwiderstehliche Nebenhandlung zu den Geschehnissen in Frankreich im Juli. Von Mont Saint-Michel bis hin zu den Champs-Élysées, wo er 2014 triumphierte, wird Kittel beweisen wollen, dass er wieder der schnellste Sprinter der Welt ist. Und, was vielleicht genauso wichtig ist, der schnellste Deutsche.



Cover Procycling Ausgabe 149

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 149.

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