Guerillakrieg

Ein Sieg bei der Tour de France 2014 war der krönende Moment von Vincenzo Nibalis Rennfahrerleben, doch das darauffolgende Jahr war das schwerste seiner Karriere: Er hatte mit Formproblemen zu kämpfen, musste mit Querelen innerhalb seines Teams klarkommen und wurde aus der Vuelta a España ausgeschlossen. Obwohl er sich am Ende der Saison mit einem Sieg bei der Lombardei-Rundfahrt rehabilitierte, ist der Druck 2016 nicht geringer geworden.

 

Vincenzo Nibali ging eine Woche lang in seiner Villa in Lugano in sich, spürte aber das Verlangen, in den Süden zu reisen. Er rief seinen Vater Salvatore an. „Ich fliege runter“, sagte er. „Nimm dir ein paar Tage frei, du kannst mir mit dem Roller folgen.“ In den nächsten zehn Tagen sollte der Vater seinen Sohn mit dem Moped auf Trainingsfahrten im Hinterland von Messina begleiten. Es war Anfang September, der Beginn der einsamen Saison in Sizilien. Jeden Tag wurden die Strände an Orten wie Ganzirri und Giardini Naxos ein bisschen leerer. Jeden Abend ging die rote Sonne ein bisschen früher unter. Die Ferien waren vorbei. Nibali verließ Sizilien als Teenager, um seine Radsportkarriere zu verfolgen, und normalerweise kommt er zweimal im Jahr zurück, selten während der Saison und nie für längere Zeit. Aber damals schien es keinen besseren Ort zu geben, um sich die Wut und die Scham aus dem Körper zu fahren. Seine Disqualifizierung von der Vuelta a España, weil er sich an einem mit 70 km/h fahrenden Mannschaftswagen festgehalten hatte, als er nach einem Sturz auf Aufholjagd ging, schien der letzte würdelose Akt einer unter schlechten Sternen stehenden Saison zu sein. Ein Jahr zum Ausradieren. Das Frühjahr war überschattet von Fragezeichen hinter der WorldTour-Lizenz des Teams Astana und Zweifeln an Nibalis Form. Ein spätes Erstarken in den Alpen brachte ihm einen Etappensieg und den vierten Gesamtplatz bei der Tour de France, der einer ansonsten desaströsen Titelverteidigung einen respektablen und trotzigen Glanz verlieh. Jetzt, wo Nibali auf der Bank saß, drohte sein Teamkollege Fabio Aru – sechs Jahre jünger als er – ihm den Rang abzulaufen, indem er die Vuelta gewann.

Seit seinem Toursieg im Vorjahr hatte Nibali nur Termine und Druck gekannt, aber irgendwo in diesen unerwarteten, abgeschiedenen anderthalb Wochen in Sizilien verflüchtigte sich der Trübsinn. Es sollte der Auslöser für eine bemerkenswerte Glückssträhne im Herbst sein, die in einem furiosen Solosieg bei der Lombardei-Rundfahrt gipfelte. Die italienische Presse verwob Nibalis Aufenthalt in Sizilien pflichtgemäß mit der Geschichte vom glänzenden Triumph an den Ufern des Comer Sees. Sie griff die Vorstellung vom gefallenen Champion, der zu seinen Wurzeln zurückkehrt, sich privat reinigt und dann in der Öffentlichkeit rehabilitiert, dankbar auf. Als Nibali ein paar Monate später bei der Oman-Rundfahrt mit Procycling spricht, ist seine Version der Reise in seine Heimat weniger symbolisch, sondern eher prosaisch. „Es hat mir einfach gutgetan, nach der Vuelta nach Hause zu fahren“, sagt er mit einem Lachen. „Nach dem, was bei der Vuelta passiert ist, bin ich einfach nach Hause gefahren. Es gab nichts anderes zu tun. Was passiert ist, war vielleicht teilweise mein Fehler, aber ich war danach auch sehr wütend.“ Das Heimkehrmotiv wird sich 2016 fortsetzen, wenn Nibali zum ersten Mal wieder am Giro d’Italia teilnimmt, seit er das Rennen vor drei Jahren gewann. Es ist eine Herausforderung, die mit all den Erwartungen verbunden ist, welche einen Lokalmatador verfolgen, wenn er auf heimischem Boden antritt. Wie sein Teamkollege und Vertrauter Valerio Agnoli es ausdrückt: „In Italien kommt nach Pantani Vincenzo. Es gab niemanden zwischen ihnen.“ Die unausgesprochene Annahme in Italien ist, dass Nibali, wenn er im Mai auch nur annähernd in Bestform ist, im Rosa Trikot nach Turin fahren wird. In diesem Licht sind die Belastungen des Giro kaum geringer als die der Tour. „Was der Giro dir gibt, gibt die Tour dir nicht, und was die Tour dir gibt, gibt der Giro dir nicht“, sagt Nibali philosophisch. „Aber ich bin Italiener und ich bin ihn zwei Jahre nicht gefahren. Ich hatte das Bedürfnis, dort wieder anzutreten.“ Mit dem Giro im Hinterkopf ist Nibali jetzt besser über den Winter gekommen als seit Langem, und die Früchte seiner Arbeit sind bereits im Oman sichtbar. Er wirkte bei seiner Ankunft nervös, machte sich dann aber gut und der finstere Gesichtsausdruck des letzten Jahres verschwand. Heute Abend, vor der entscheidenden Etappe zum Green Mountain, scheint er schon sicher zu sein, dass diese Saison anders werden wird.

Während Nibalis holpriger Start in das letzte Jahr ein virtuelles Spiegelbild der vorausgegangenen Saison war, scheint es jetzt ein Glaubensgrundsatz bei Astana zu sein, seine Probleme mit dem Druck zu erklären, der auf einem amtierenden Tour-Champion lastet. „Es ist normal, dass du, wenn du das größte Rennen gewinnst, das man gewinnen kann, vielleicht ein Jahr brauchst, um alles zu verdauen und dich wieder einzukriegen“, sagt Teamkollege Jakob Fuglsang. In höherem oder geringerem Maße hatten auch die drei Männer, die Nibali in der Ehrentafel der Tour vorausgingen – Cadel Evans, Bradley Wiggins und Chris Froome  – mit ihrem neuen Status als De-facto-Galionsfiguren des Sports zu kämpfen. Eine Denkrichtung besagte, dass Nibali, seit seinem 17. Lebensjahr der Auserwählte des italienischen Radsports, besser damit klarkam als die meisten, aber die Wochen und Monate nach seiner Krönung sollten sich als ebenso anstrengend, der akkumulierte Stress als ebenso kräftezehrend erweisen. „In den Momenten nach dem Toursieg änderte sich etwas und das beeinträchtigte mich. Ich war vorher schon ziemlich bekannt, aber nach der Tour erkannten mich alle“, sagt Nibali.
Es überrascht jedoch, dass Nibalis am längsten währendes Lamento über seine schwere Saison 2015 seine Behandlung durch die Presse ist, vor allem angesichts der sehr herzlichen Beziehung, die er im Laufe seiner Karriere mit den Medien gepflegt hat. Ein Mann baut sich einen Kredit bei der Presse auf, wenn er zum Beispiel am Ende eines verregneten Mailand–San Remo anhält, um mit klappernden Zähnen eine Frage zu beantworten, oder wenn er aus dem Mannschaftsbus aussteigt, um ausführlich über das Ende seiner Tour-Hoffnungen zu sprechen, wie Nibali es in La Pierre-Saint-Martin im vergangenen Juli tat. Da die menschliche Natur ist, wie sie ist, gibt es oft eine Dividende, und Nibalis Lohn kam letztes Jahr in Form von unterstützender Berichterstattung in seinem Heimatland nach seinem Rauswurf aus der Vuelta. Trotzdem weiten sich seine dunklen Augen, als er beschreibt, wie verletzend er die Kritik in seinem annus horribilis empfand. „Natürlich war die Atmosphäre schwer im letzten Jahr aufgrund der Resultate, und die Moral lässt damit etwas nach. Aber einer der Faktoren, die mich am meisten gestört haben, waren die Medien. In der Saison haben sie mich von Anfang bis Ende massakriert“, sagt er und betont von dem letzten Wort jede einzelne Silbe: „Mas-sa-cra-to.“

Angesichts des Kollateralschadens an seinem Ruf könnte man erwarten, dass sich Nibali vehement zur Wehr setzt gegen die mediale Furore über die Reihe von Dopingfällen bei Astana, die den schweren Vorwurf der Gazzetta dello Sport beinhaltete, Michele Ferrari habe im Vorjahr heimlich das Trainingslager des Teams besucht – eine Geschichte, die einen Tag, bevor die Lizenzkommission der UCI das Urteil über den WorldTour-Status des Teams fällen sollte, veröffentlich wurde.
Aber Profisportler sehen die Welt durch eine andere Brille als die Öffentlichkeit, die ihnen folgt. Wenn es heute noch an Nibali nagt, dann offenbar vor allem, weil sein Stolz verletzt wurde durch die scharfe Kritik, die er für seine Leistungen auf der Straße bekam. „Ich meine es allgemein. Ich wurde von den Medien bombardiert“, sagt er. „Der Druck war sehr stark; es war fast so, als wäre alles gelöscht, was ich in den Vorjahren erreicht hatte. Ich war immer sehr offen, aber wegen dem, was 2015 passierte, als die Presse sehr, sehr hart mit mir umgesprungen ist, habe ich mich ein bisschen zurückgezogen, um mich zu schützen.“ In der Praxis wirkt Nibali so zugänglich wie immer, die natürliche Zurückhaltung wird ausgeglichen durch seine angeborene Höflichkeit. Mitunter jedoch hat er eine schärfere Kante gezeigt als zuvor. Als drohender Schneefall zur Absage des schwersten Etappe von Tirreno–Adriatico führte, unterstrich er seinen Unmut über RCS Sport, indem er andeutete, den Giro vielleicht auszulassen, während er im Januar aneckte, als er sich beklagte, bei der letzten Tour von den „falschen“ Teamkollegen umgeben gewesen zu sein. Die Gruppe um Nibali ist in diesem Jahr italienischer, um Abhilfe für die offenkundige Isolation von 2015 zu schaffen. Als wollten sie das beweisen, werden Michele Scarponi und Agnoli später durch den Hotelkorridor schlendern, als ihr Kapitän gerade vor der Procycling-Kamera posiert, sich hinsetzen, bis die Session beendet ist, und ihn zum Spaß ausbuhen. Agnoli kehrt nach zwei Jahren an der Peripherie wieder an seine Seite zurück, ebenso Alessandro Vanotti, sofern er gesund und fit ist, obwohl Nibali sich gegen den Vorwurf wehrt, genug Einfluss zu haben, um dafür zu sorgen, dass die ihm am nächsten stehenden Fahrer gar nicht erst rausgeekelt werden. „So ist das nicht mehr im Radsport“, sagt er. „Ein Kapitän kann einige Vorschläge machen, aber die Manager entscheiden heute alles.“ Vor allem wahrscheinlich bei Astana.

 Vincent Wathelet hat drei Mobiltelefone und mindestens ebenso viele Aufgaben in seinen diversen Rollen als Agent und Vermittler in der inzestuösen Welt des Profiradsports. Ein weißes Hemd tragend, das er nicht in die Hose gesteckt hat, hat sich der stämmige Belgier ein Telefon ans Ohr geklemmt, in das er ununterbrochen hineinspricht, als er an der Ziellinie der entscheidenden Etappe der Oman-Rundfahrt auf dem Gipfel des Green Mountain steht. Wathelet liefert an diesem drückend heißen Nachmittag eine Reportage vom Finale. Er steht auf Zehenspitzen und hat Probleme, die zwei Fahrer zu erkennen, die sich die letzten Meter der steilen Rampe hochkämpfen; dann fängt er vor Freude fast an zu tanzen, als er sieht, dass der erste Mann das Hellblau von Astana trägt. „Er hat’s geschafft, Wino! Er hat gewonnen!“, schreit Wathelet, als Nibali sich vor Romain Bardet über die Linie kämpft, und setzt seinen begeisterten Bericht fort, als der Sizilianer vom Masseur Michele Pallini zum Astana-Mannschaftswagen am Straßenrand begleitet wird. Als Nibali sich in einen Stuhl fallen lässt, um Luft zu holen, watschelt Wathelet zu ihm hin und drückt ihm das Telefon ans Ohr. Nibali strengt sich an, um die Stimme am anderen Ende zu verstehen, und murmelt dann höflich ein paar Worte des Danks. Alexander Winokurow ist nicht beim Rennen, aber da dieses langjährige Mitglied seiner Entourage im Oman zur Stelle ist, entgeht dem Astana-Teamchef nichts. Nibalis fliegender Start in die Saison 2016 scheint von einem Mann zu zeugen, der etwas klarstellen will, selbst wenn er das nicht so sieht. „Ich habe nicht das Gefühl, etwas beweisen zu müssen“, sagt er. Das mag so sein, aber der Leistungsdruck, der von Astana – und dessen sehr wachsamem Boss – ausgeht, ist so hoch wie immer, nicht zuletzt, weil sein Vertrag am Jahresende ausläuft. Das komplizierte Verhältnis zu Winokurow ist ein Thema, das sich durch Nibalis ganze Zeit bei Astana zieht. Bekannt wurden die Dissonanzen vor der Tour 2014, als berichtet wurde, Winokurow habe einen Warnbrief an Nibali geschrieben und ihn wegen seiner schwachen Ergebnisse im Frühjahr zurechtgewiesen.

Später stellte sich heraus, dass Winokurows Abmahnung an alle Fahrer verschickt worden war, und während Nibalis anschließender Toursieg die Atmosphäre entspannte, legte sich die Skepsis nie. „Kommunikation ist sehr wichtig, und wenn du nicht die richtigen Mittel oder Worte wählst, kannst es noch mehr Lärm verursachen“, sagt Nibali. „Na gut, man muss den Jungs Moral geben, aber in diesem Fall wurde es auf die falsche Art gemacht.“ Nibali und Winokurow sehen sich relativ selten, denn der Kasache überlässt das sportliche Management anderen, zuletzt Dimitri Fofonow. Trotzdem taucht der Boss bei den größten Rennen auf dem Kalender oft auf. Als Nibalis Tour-Titelverteidigung im vergangenen Juli in den Pyrenäen scheiterte, sagte Winokurow mit liebevoller Strenge: „Vincenzo braucht einen guten Mechaniker, weil etwas in seinem Kopf kaputtgegangen ist.“ Nibali lächelt, als wir fragen, ob der öffentliche Winokurow anders ist als der private. „Er ist genau, wie man ihn sieht! Genau so!“, sagt Nibali. Winokurow, der überführte Doper, spätere Olympiasieger und spätere Politiker ist allen ein Rätsel. „Wenn er etwas sagt, ändert er seine Meinung meistens nicht mehr“, sagt Nibali. „Er ist sehr respektvoll zu uns Fahrern, aber wenn er dir etwas zu sagen hat, sagt er es dir, ob es gut oder schlecht ist.“ Durch eine Laune des Schicksals koinzidierten einige von Nibalis schwersten Momenten bei Astana – die schwierige Vorbereitung auf die letzten zwei Frankreich-Rundfahrten, der Ausschluss von der Vuelta – mit den Höhepunkten von Fabio Arus junger Karriere. Nach zwei Podiumsplätzen in Folge beim Giro erwies sich Aru als Zukunft des italienischen Radsports, als er die Vuelta gewann – gerade als Nibali im vergangenen September an seinem Tiefpunkt war.

 

Die Idee einer internen Rivalität zwischen den zwei Stallgefährten ist verlockend, aber aufgrund der Politik bei Astana, den Rundfahrten-Kalender zwischen Nibali und Aru aufzuteilen, fahren sie selten zusammen und vermeiden es, sich in der Öffentlichkeit gegenseitig auf den Schlips zu treten. Als das Magazin BiciSport im letzten Jahr eine 30-seitige Reportage über das Thema brachte, war der zentrale Zwischenfall ein kleiner: Aru hatte offenbar einmal eine Trainingsfahrt ohne Nibali begonnen, als der Sizilianer fünf Minuten zu spät auf dem Parkplatz des Hotels war. „Seit ich Profi bin, hat die italienische Presse immer versucht, meinen Namen an den eines anderen zu koppeln“, sagt Nibali leicht gelangweilt. „Erst hieß es Nibali und Visconti. Dann Nibali und Riccò. Dann Nibali und Basso. Dann Nibali und Pellizotti. Und jetzt eben Nibali und Aru …“ Andererseits stehen sich die beiden privat nicht sehr nahe und Nibali wich von seiner üblichen diplomatischen Linie ab, als er sich im März gegenüber der Gazzetta dello Sport beschwerte, Aru sei „oft wütend und ungehalten“. Auf dem Papier wird Nibali die Tour in diesem Jahr als Helfer für Aru fahren, während der jüngere Mann den Gefallen bei Olympia erwidern wird. In Italien wurde das Arrangement zwangsläufig schon mit dem sogenannten Chiavari-Pakt zwischen Gino Bartali und Fausto Coppi vor der Tour 1949 verglichen. „In Italien hat der Radsport anscheinend immer von Rivalitäten gelebt, ob es Moser und Saronni oder Coppi und Bartali waren und so weiter“, sagt Nibali. „Aber so ist es nicht. Wir sind in zwei unterschiedlichen Phasen unserer Karriere und außerdem weiß ich nicht, wie gut wir beide sein werden, wenn Olympia ansteht.“ Bis dahin hat Nibali vielleicht schon seinen Wechsel erklärt. Trek-Segafredo hat sich im letzten Jahr um ihn bemüht, aber Manager Luca Guercilena hat sein Werben aufgegeben und Cyclingnews im April erklärt, er glaube, dass Nibali zu einem neuen Team gehen wird, das Prinz Nasser bin Hamad Al Khalifa von Bahrain aufmachen will. Offiziell kann ein Wechsel erst ab dem 1. August bekanntgegeben werden und fürs Erste beschränkt sich Nibali darauf zu betonen, Geld sei nicht der einzige Faktor. Er hofft, dass Männer wie Agnoli, Vanotti, Trainer Paolo Slongo und vielleicht sogar Fuglsang 2017 bei ihm bleiben werden, ob bei Astana oder anderswo.
 
Obwohl er einer von nur sechs Männern ist, die in ihrer Karriere alle drei großen Rundfahrten gewonnen haben, ist Nibali nie mit demselben Favoritenstatus in ein dreiwöchiges Rennen gegangen wie in den diesjährigen Giro. Tatsächlich scheint er in der Rolle des Underdogs, ob reell oder imaginär, aufzublühen. 2013 zum Beispiel führte er bei Tirreno–Adriatico und dem Giro genussvoll einen Guerillakampf gegen das Team Sky, schien sich aber weniger wohl zu fühlen, als er bei der Vuelta erfolglos versuchte, die überraschende Offensive von Chris Horner abzuwehren. Es war wohl auch kein Zufall, dass Nibalis siegreiche Tour 2014 eine Giro-ähnliche tückische erste Woche aufwies, die sich dazu anbot, seine Rivalen da zu attackieren, wo sie es am wenigsten erwarteten. Der Eindruck ist, dass er seine besten Ideen wie den Überraschungsangriff auf dem Weg nach Sheffield bei der Tour aus dem Stehgreif improvisiert und nicht Monate im Voraus plant. Nibali gibt zu, dass seine instinktive Fahrweise im Kontrast zu der analytischen Methode steht, die vom Team Sky verkörpert wird. „Ein Team wie Sky geht vielleicht mit einer bestimmten Strategie ans Werk, aber wenn sich mir unterwegs eine Möglichkeit zum Angriff bietet – und Alberto Contador ist auch so –, dann ergreife ich sie“, erklärt Nibali. „Ich kann es nicht einmal erklären. Es sind diese kleinen Momente, und du musst sie spüren. Es ist keine Frage der Taktik, es ist eine Frage des Einfallsreichtums.“ Es ist daher schade, dass Sky-Profi Chris Froome, seine scheinbare Antithese, nicht zu Nibalis Herausforderern beim Giro zählt, wo sie doch bei der Tour 2015 so öffentlich aneinandergeraten sind. Nibali grinst, als er sich erinnert, wie Froome auf den Astana-Bus zustürmte und eine Erklärung forderte, nachdem der Italiener im nervenaufreibenden Finale in Le Havre eine Wasserflasche nach ihm geworfen hatte. „Wir sind wie Dampfkochtöpfe, die bei einem solchen Rennen darauf warten zu explodieren“, sagt er diplomatisch. Aber sie könnten bei der Tour noch aufeinandertreffen und ihre Wege werden sich sicher beim olympischen Straßenrennen in Rio kreuzen. Anders als Froome, Contador und Nairo Quintana ist Nibali der einzige der sogenannten „Fantastischen Vier“, der bereit zu sein scheint, die Tour zu opfern, um in Rio nach Gold zu greifen – er nannte Paolo Bettinis Sieg 2004 als seine Inspiration. Da er jede Grand Tour und ein Monument schon auf seinem Palmarès stehen hat, würde ein Olympiasieg nur das Argument unterstreichen, dass Nibali der kompletteste Fahrer einer zur Spezialisierung neigenden Generation ist. Der Letzte seiner Art in gewisser Weise, obwohl er sich mit 31 noch keine Gedanken über sein Vermächtnis gemacht zu haben scheint. Wie möchte Vincenzo Nibali von der Nachwelt in Erinnerung behalten werden? „Ich weiß nicht“, sagt er nach einer Pause. „Ich fahre einfach Rad, weil es mir gefällt. Das ist es eigentlich.“ Ganz einfach – und dennoch ganz kompliziert.



Cover Procycling Ausgabe 147

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 147.

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