Große Ziele

Was können wir 2016 von den Grand Tours erwarten? Richard Moore wirft einen Blick auf die aktuelle Rundfahrer-Szene.

 

Rundfahrten sind Zahlenspiele, und letztes Jahr lautete die Zahl vier. Sie bezog sich auf die Galácticos des Radsports – Chris Froome, Alberto Contador, Nairo Quintana und Vincenzo Nibali – und die Erwartung der Radsportfans, ein großes Gefecht bei der Tour de France zu erleben, schien gerechtfertigt, als alle vier topfit und gut vorbereitet in Utrecht eintrafen. Alle vier überlebten das Gemetzel der Auftakt-Etappen, doch der antizipierte Showdown sprühte keine Funken und war auf dem Gipfel des ersten Berges praktisch vergessen. Froome war in der ersten Woche taktisch clever und physisch stark, dann auf den ersten Bergetappen dominant. Contador und Nibali waren bloße Schatten – Contador erschöpft nach seinem Kraftakt, um den Giro zu gewinnen, Nibali unter seinem Niveau und offenbar unkonzentriert und unsicher. Nur Quintana zeigte sich der Situation gewachsen, kam aber zu spät. Der Kolumbianer erwachte in der letzten Woche zum Leben und startete eine Offensive, die ihm den Gesamtsieg eingebracht hätte – wenn die Tour einen Tag länger gewesen wäre und Froomes Gesundheit weiter gelitten hätte. Als Quintana auf dem Gipfel von Alpe d’Huez erkannte, dass ihm 24 Stunden vor dem Ziel in Paris die Straße ausging, brach er in Tränen aus. Er wusste, dass er nicht in den Bergen verloren hatte, sondern in der ersten Woche – am zweiten Tag, als Seitenwind in Holland ihn eine Minute und 28 Sekunden kostete. Am Ende sollte er die Tour um 1:12 Minuten verlieren. Was auch für Froome beunruhigend war: 2013, als dieselben Fahrer Erster und Zweiter waren, betrug der Abstand 4:20 Minuten.

Was haben wir also 2016? Die großen Zwei? Oder, wie Eddy Merckx es sieht, nur einen? „Auf dem Papier“, sagte Merckx im Dezember, „hat Froome eigentlich keine Rivalen.“ Vielleicht hat Merckx die letzte Woche der letztjährigen Tour verpasst oder übersehen, dass Froome 2016 schon 31 ist und Quintana 26 (immerhin war selbst er, der Größte aller Zeiten, erst 29, als er seine fünfte und letzte Tour gewann). Oder stehen wir vielmehr kurz vor einer aufregenden neuen Epoche, in der Froome, Contador und Nibali alle über 30 sind und, wenn noch nicht jetzt, so doch bald nachlassen werden? Und Quintana ganz oben Gesellschaft bekommen könnte von Fabio Aru und Tom Dumoulin und vielleicht auch von Mikel Landa und Rafał Majka? Aru, der in diesem Jahr sein Tour-de-France-Debüt geben wird, gehört als Grand-Tour-Sieger wohl schon in den Kreis der großen Vier, selbst wenn er für seinen Sieg bei der Vuelta a España nur einen Bruchteil des Lobes bekam, den Dumoulin dafür erhielt, dass er sie anführte, bis er am vorletzten Tag in die Knie ging. Andere Sterne sind am Firmament – Landa, jetzt beim Team Sky, fährt beim Giro d’Italia gegen Nibali, Dumoulin, Alejandro Valverde und Rigoberto Urán. Dann sind da Thibaut Pinot, der bei der letztjährigen Tour viel Pech hatte, aber mit einem Sieg in Alpe d’Huez sein Gesicht wahrte, und zwei weitere junge Franzosen mit großem Potenzial: Warren Barguil und Romain Bardet.

Der Giro wird faszinierend, aber wie immer ist die Tour das größte Rendezvous der Rundfahrer. „In den vier oder fünf Monaten vor der Tour de France denke ich an nichts anderes“, sagte Froome in diesem Winter. „Darauf konzentriere ich meine ganze Energie, deswegen achte ich auf all die kleinen Details und ich denke doch, dass das ein Pluspunkt für mich ist.“ Was neben dem zunehmenden Alter noch gegen Froome sprechen oder ihn zumindest ablenken könnte, ist, dass er eine neue Verantwortung hat: einen Sohn, Kellan, geboren am 15. Dezember. Andererseits sind auch Quintana und Nibali Väter. Ein bedeutenderes Omen ist, dass er die Vuelta 2015 nicht zu Ende fuhr, nachdem er auf der 11. Etappe gestürzt war und sich den Fuß gebrochen hatte. Eine schwere Vuelta war in der Vergangenheit ein wichtiger Bestandteil seiner Vorbereitung auf die nächste Saison. Froome war Zweiter der Vuelta 2011, dann Zweiter der Tour 2012, Vuelta-Vierter 2012 und Erster der Tour im folgenden Jahr; Zweiter der Vuelta 2014 und Erster der Tour 2015. Erkennt man das Muster, sieht man die Abweichung: 2013 ließ er die Vuelta aus und musste dann die Tour 2014 nach einem Sturz aufgeben. Obwohl Pech eine Rolle spielte, gab er später zu, nicht in derselben Form wie 2013 gewesen zu sein.

Für Froome spricht das Team, das Sky für 2016 aufgestellt hat. Es ist sicher das stärkste Aufgebot in seiner Geschichte, besonders in einer Abteilung. So sehr Dave Brailsford auch betont, dass sie eines der großen Eintagesrennen gewinnen wollen, so sehr legt seine Personalpolitik doch nahe, dass sein Herz weiter für die Rundfahrten schlägt. Sein Team ist gespickt mit Kletterern; das baskische Kontingent ist mit der Akquise von Landa und Beñat Intxausti von Movistar auf fünf angewachsen. Dass sie sich Intxausti geschnappt haben, einen Giro-Etappensieger, stellt einen Doppelschlag dar, der Sky stärkt und das Movistar-Team von Froomes Hauptrivalen Quintana schwächt. Es hätte schlimmer kommen können für Movistar: Brailsford war angeblich auch hinter mindestens einem der Izagirre-Brüder Ion und Gorka her, die allerdings bei dem spanischen Team geblieben sind. Intxausti und Landa gesellen sich zu ihren baskischen Landsleuten Mikel Nieve, David López und dem Veteranen Xabier Zandio – ein langjähriger Sky-Fahrer, der vor seiner letzten Saison steht und als Sportlicher Leiter in den Mannschaftswagen wechseln dürfte. Außerdem hat das britische Team mit Xabier Artetxe einen baskischen Trainer. Brailsford ist beeindruckt von der Bereitschaft dieser Fahrer, ihre eigenen Chancen zum Wohl des Teams zu opfern, wobei insbesondere Nieve sich als großartiger Helfer erwiesen hat, seit er Ende 2013 von Euskaltel-Euskadi kam. Froome ist ein Fan: „Ich kenne Landa und Intxausti nicht gut, aber wenn sie annähernd so sind wie Nieve, werden sie sehr wertvoll für das Team sein“, sagt er. „Nieve ist selbst ein so starker Fahrer, aber so bescheiden und immer bereit, für jemand anders zu arbeiten.“

Mit den beiden Kolumbianern Sergio und Sebastián Henao, ganz zu schweigen von Geraint Thomas, Wout Poels, Leopold König, Lars Petter Nordhaug und Ian Boswell, kann das britische Team in den Bergen aus dem Vollen schöpfen, wobei ihre Rekrutierungskampagne (die auch den Weltmeister von 2014, Michał Kwiatkowski, umfasste) von einem starken Pfund und einem schwachen Euro profitiert hat. Die Herausforderung wird sein, die Ressourcen auf zwei Ziele zu verteilen: Landas Ambitionen, den Giro zu gewinnen, und Froomes Vorhaben, die Tour als erster amtierender Champion nach Miguel Indurain (1995) zu gewinnen und damit zum dritten Mal für sich zu entscheiden (was stattdessen auch Contador nach seinen Siegen 2007 und 2009 schaffen könnte). Landa will nach eigenem Bekunden auch die Tour fahren und Froome helfen; wenn er in anständiger Form aus dem Giro kommt, könnte er so wichtig sein wie der mittlerweile abgewanderte Richie Porte 2013 und im vergangenen Jahr.

Die Hauptgefahr für Froome in Frankreich ist fast sicher Quintana, der die Berge lieben, mit den Zeitfahrprüfungen zurechtkommen und das Fehlen von Kopfsteinpflaster begrüßen wird. Und er wird die volle Unterstützung seines Teams haben, da Valverde sein Giro-Debüt geben soll. Valverde war Dritter der Tour im letzten Jahr, und zwar ein Alliierter von Quintana, doch die Frage bleibt, inwieweit er bereit war, seine eigenen Podiums-Ambitionen dem Sieg seines Teamkollegen unterzuordnen. Wenn Valverde die Tour fährt, wird es solche Fragen in diesem Jahr sicher nicht geben: Es wird alles auf Quintana gesetzt. Und trotz des Verlustes von Intxausti (der mit nur einer beendeten Tour ohnehin eine schwache Bilanz bei der Grand Boucle hat) mangelt es Quintana nicht an Unterstützung in den Bergen – wer würde die Leistung seines kolumbianischen Teamkollegen Winner Anacona in Alpe d’Huez vergessen? Auch Nibali will die Tour und den Giro bestreiten, was er für die beste Vorbereitung auf ein olympisches Straßenrennen in Rio hält, das den Rundfahrern liegen sollte. Nominell fährt er als Helfer für Aru, aber viele werden das erst glauben, wenn sie es sehen. Die beiden Italiener sind nicht die besten Freunde und so würde es die wenigsten wundern, wenn das Jahr 2016 damit endet, dass Nibali Astana verlässt. Was Aru angeht, ist eines seiner Ziele in diesem Jahr, außerhalb der großen Rundfahrten mehr zu zeigen, wobei Paris – Nizza und die Volta a Catalunya auf seinem Programm stehen sollten. Während Froome, Quintana, Contador und Nibali alle über die ganze Saison Beständigkeit bewiesen haben – sie dürften von Tirreno – Adriatico bis zum Critérium du Dauphiné vorne mitmischen –, scheint Aru eine Ausnahme zu sein: Er lässt sich bei den ersten Rennen der Saison nicht blicken und läuft zur Höchstform auf, wenn es darauf ankommt. Bei der Tour wären ein Etappensieg und ein Top-Five-Gesamtplatz ein Fortschritt für den 25 Jahre alten Aru. Dann ist da noch Contador, der am höchsten dekorierte der heutigen Rundfahrer-Generation. Er wird seine Karriere wahrscheinlich nach der Saison beenden und den Giro – anders als im letzten Jahr – nicht fahren, sondern alles auf die Karte Tour setzen. Er war 2015 in Frankreich schwach, aber seine Aussichten einzuschätzen ist schwer: Hätte er mit der Form, mit der er den Giro gewonnen hat (wobei er auch noch eine Schulterverletzung überwand), Froome im Juli schlagen können?

 

Wie Nibali bei Astana hat Contador bei Tinkoff interne Sorgen, wird man doch den Verdacht nicht los, dass Majkas Ambitionen nicht weit über Rafał Majka hinausgehen. Nachdem er Dritter der Vuelta 2015 wurde, ist es noch wahrscheinlicher, dass der Pole seinen Ohrstöpsel rausnimmt, wenn er angewiesen wird, auf seinen Kapitän zu warten – so wie er es angeblich tat, als Contador bei der letztjährigen Tour einen Plattfuß hatte. s ist kein unwichtiger Punkt. Obwohl die Rolle der Mannschaft überbewertet werden kann, ist es kein Zufall, dass von allen Rundfahrt-Favoriten die zwei stärksten – Froome und Quintana – auch das stärkste, am besten organisierte und geschlossenste Team hinter sich haben.



Cover Procycling Ausgabe 145

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