Neuanfang

Krankheiten, Rennabsagen, Platzierungen hinter den Erwartungen: 2015 war für Marcel Kittel ein Jahr zum Vergessen. Nach seinem Wechsel zu Etixx – Quick-Step soll in dieser Saison nun alles besser werden.

 

365 Tage, ein Jahr. Ein Zeitraum, in dem sich alles verändern kann. Zum Besseren, aber auch zum Schlechteren. Bei der Tour de France 2014 war Marcel Kittel noch der große, umjubelte Held: Vier Etappen hatte der Arnstädter damals gewonnen – darunter den prestigeträchtigen Schlusspunkt auf den Champs-Élysées. Ein Jahr später waren diese Erfolge jedoch verblasst. Nach einer von Krankheitsausfällen geprägten ersten Saisonhälfte traute die Teamleitung von Giant-Alpecin dem Weltklassesprinter keinen Start in Frankreich zu – zu unsicher war man sich über seine Form. Die Duelle um Etappensiege, die Jagd um Gelb – sie fand ohne den Erfolgsgaranten statt. „Die Nichtnominierung war die mit Abstand schwierigste Phase meiner Karriere“, erinnert sich Kittel heute. Es war das erste Mal in fünf Profijahren, dass Kittels Karriere einen großen Dämpfer erhielt. Als Juniorenweltmeister und U23-Europameister im Zeitfahren begann er 2011 seinen Weg zu den Berufsradfahrern mit einem Paukenschlag: 17 Siege in Massensprints – selten legte ein Neoprofi einen derartigen Blitzstart hin. Von Beginn an mischte der damals gerade einmal 23-Jährige in der Riege der Weltbesten mit. In der folgenden Saison nicht weniger erfolgreich, setzte er 2013 endgültig zum Tigersprung an: Kittel gewann die Auf-takt-etappe der 100. Tour de France und sicherte sich das Gelbe Trikot – es war sein erster von insgesamt vier Tageserfolgen. Unwiderstehlich erschienen seine Antritte, das Grüne Trikot verlor er nur deshalb an Peter Sagen, weil dieser ein besserer Allrounder war. 2014 wiederholte Kittel das Spiel: Sieg und Gelb zum Auftakt, Sieg zum Schluss. Bis hierhin lief alles nach Wunsch und so gab es kaum jemanden, der im Vorfeld des Jahres 2015 nicht auf den schnellen Mann aus den Reihen von Giant-Alpecin gesetzt hätte. Doch die vergangene Saison begann anders, als Kittel und die Experten es sich vorgestellt hatten: Eine hartnäckige Virus-infektion kostete ihn das gesamte Frühjahr, auch die Comeback-Versuche im Mai und Juni endeten mit vorzeitigen Rennaufgaben oder Platzierungen hinter den Erwartungen. Zehn Tage vor dem Start der Tour platzte dann der Traum, doch noch in Frankreich mit dabei sein zu können. „Ich war sehr enttäuscht, weil ich in den Wochen vor der Tour alles Mögliche gegeben hatte, um rechtzeitig fit zu werden.“ Doch auch im Sommer fand er die Form nicht mehr. Einem Lichtblick in Form eines Etappenerfolgs bei der Polen-Rundfahrt folgten weitere Rennaufgaben. Weit weg waren die Siege am Fließband. Was 2014 so leicht erschien, klappte 2015 nicht mehr. „Es war definitiv das Jahr, welches ich aus sportlicher Sicht als Rückschlag bewerten muss. Ein Jahr zum Vergessen“, sagt der Topsprinter heute.
 
Am Scheideweg
Eine Erklärung für das Dilemma zu finden, fiel Kittel lange schwer. Heute weiß er, dass es der Virusinfekt im Zusammenspiel mit einem zu frühen Trainingseinstieg war, der eine negative Kettenreaktion auslöste. „Falscher Ehrgeiz zum falschen Zeitpunkt spielte sicher eine Rolle. Meine Form war ja zeitweise bei null. Eine Ursache war aber wohl auch, dass die letzten Jahre mit den vielen Erfolgen wie eine Achterbahnfahrt waren. Wenn man so im Rampenlicht steht, bedeutet das auch Stress – und der hat mich vielleicht auch vom Wesentlichen abgelenkt“, glaubt Kittel. Es kommt nicht von ungefähr, dass er seine Medienpräsenz in den letzten Monaten zunehmend verringerte. „Ich arbeite jetzt wieder an der Basis, an einer guten Trainingsvorbereitung – das zählt.“ Kittel benötigt diesen Fokus. Und er benötigt die volle Unterstützung seines Umfelds – ein Faktor, der auch dazu beitrug, dass er sich vor allem in der zweiten Hälfte des letzten Jahres nicht mehr so wohlfühlte wie früher. Bereits nach der Nicht-Nominierung zur Tour schien das Verhältnis zur Teamleitung zerrüttet. Neben dem starken Vuelta-Auftritt Tom Dumoulins und seinem damit verbundenen Aufstieg zum Kapitän für große Landesrundfahrten deutete sich zudem bereits im Sommer an, dass bei der bisher vor allem auf Klassiker und Sprints spezialiserten Giant-Alpecin-Equipe früher oder später mehr auf Etappenrennen gesetzt werden würde. Die Luft würde für Kittel dünner werden – vorbei wären die Zeiten einer komplett auf ihn ausgerichteten Mannschaft. Es kam deshalb nicht überraschend, dass Kittel das Management von Giant-Alpecin im Herbst um die Freigabe aus seinem Vertrag bat. Fünf Jahre hatte er in der ursprünglich niederländischen Mannschaft verbracht – seine bisher komplette Profikarriere. „Es ist menschlich sehr schade für uns, dass er nicht mehr dabei ist“, sagt sein ehemaliger Teamkollege John Degenkolb über den Wechsel. „Marcel ist ein cooler Typ, der super in die Mannschaft gepasst hat. Aber ich bin sicher, dass er seinen Weg gehen wird.“ Ein klares Statement möchte Kittel zu den Teamquerelen nicht abgeben. Er will das Seuchenjahr am liebsten vergessen, nach vorne schauen: „Ich habe mich in den letzten Wochen gar nicht mehr mit 2015 beschäftigt. Für mich zählt die Zukunft.“
 
Ein neues Kapitel
Sein Neuanfang führt ihn nach Belgien. 2016 trägt Kittel das Trikot von Etixx – Quick-Step – einer Equipe, die nach dem Weggang von Mark Cavendish einen Topsprinter wie ihn gesucht hatte. „Das Team zu wechseln war sicherlich auch ein Faktor, um einen echten Neustart wagen zu können“, glaubt Kittel. Doch warum ausgerechnet die Belgier? Bei seinem Palmarès war das Angebot nicht das einzige, das dem Weltklasse-Athleten vorlag. „Es sind mehrere Faktoren. Aber einer ist sicherlich, dass mir das Team ein großartiges und hoch professionelles Umfeld bietet, um mich weiterentwickeln zu können. Und es hat durch die Vergangenheit mit Mark Cavendish eine große Erfahrung mit Sprintern.“
 Ein weiterer Grund für den Wechsel ist ein alter Bekannter: Tony Martin. Mit dem Cottbusser fuhr Kittel bereits im Jahr 2007 gemeinsam beim Thüringer Energie Team – Martin stand gerade kurz vor seinem Sprung zu den Profis, Kittel in seinem ersten Jahr als U23-Fahrer. Über ihren gemeinsamen Manager Jörg Werner stehen beide bis heute in freundschaftlichem Kontakt zueinander. „Es war sicherlich gut, mit Tony auch im Vorfeld mal reden zu können. So habe ich viel darüber erfahren, wie die Abläufe in der Mannschaft sind, wie die Atmosphäre ist“, so Kittel, der diesen Faktor nach seinen Erlebnissen in der Abschiedssaison bei Giant-Alpecin besonders hervorhebt. „Es ist immer ein Plus, wenn jemand aus eigener Erfahrung sagen kann, was gut und was schlecht ist. Tony hat mir sehr dabei geholfen, mir ein genaues Bild vom Team machen zu können.“ Dass die Entscheidung bis dato die richtige zu sein scheint, zeigen die ersten Eindrücke: Im Teamtrainingslager im spanischen Calpe erlebte man den 27-Jährigen lachend und flachsend mit seinem neuen Mannschaftskameraden Tom Boonen. Ein lockerer, entspannter Marcel Kittel – Bilder, die 2015 Seltenheitswert hatten. „Fahrer, Betreuer – es waren alle mit dabei. Und ich habe wirklich ein gutes Feeling von jedem“, strahlt er. Auch gegenseitig scheint die Chemie zu stimmen: Sein neuer Teamkollege Fabio Sabatini – einer derjenigen, die Kittel die Sprints vorbereiten sollen – lobte den achtfachen Tour-Etappensieger nach den ersten Tagen mit der Mannschaft als „hoch konzentriert und hoch motiviert“. Kein Wunder, dass sich Kittel bisher in seiner Entscheidung bestätigt sieht: „Im Moment bin ich sehr zufrieden, wie alles gelaufen ist. So ein Wechsel ist ja auch nicht immer ganz einfach.“

 

Rückkehr zur Tour?
Auch in Sachen Fitness fühlt sich Kittel wieder auf dem aufsteigenden Ast, sein Wintertraining verlief ohne Zwischenfälle. „Ich habe keine lange Pause gemacht und früh mit dem Training begonnen“, berichtet er. Im November testete er bei Specialized in Kalifornien seine neue Rennmaschine, im Dezember folgte das Trainingslager mit dem Team. Sein erster Einsatz im neuen Etixx-Trikot soll die Dubai Tour Anfang Februar werden. „Das Ziel für 2016 ist, den Sprintzug in der Mannschaft aufzubauen und den Spaß nicht zu verlieren“, sagt Kittel, für den eine Rückkehr zum „Highlight im Sommer in Frankreich“ ganz oben auf seiner Liste steht. Geplant sind auch Starts beim Giro und – wenn es die Situation zulassen sollte – bei der Straßen-WM. Der flache Kurs in Katar könnte schließlich auch etwas für das Sprint-Ass sein. „Es ist schon so, dass mir das Streckenprofil entgegenkommt“, grinst er. Anders, als man es nach einem derartigen Seuchenjahr vermuten könnte, wirkt Kittel nicht verunsichert. Er tritt souverän auf, gereift. „Ich will aus dem Tiefpunkt lernen und dann stärker werden“, lacht er. „2015 ist nun mal so passiert und andere Fahrer haben auch keine Kristallkugel, um so etwas vorherzusehen. Heute weiß ich, an welchen Schrauben ich drehen muss, um eine solche Krise möglichst zu verhindern.“ Weniger Medienrummel, weniger Stress. Vor allem die Gesundheit soll in Zukunft an oberster Stelle stehen – nach einem einfachen Prinzip: Trainieren, Essen, Schlafen. Immer wieder und wieder. „Das sind meine Wurzeln, dahin will ich wieder zurück.“ Es ist ein anderer Marcel Kittel, der in die Saison 2016 startet. Ganz anders als noch im Juli, als er bei der Tour der France, dem Ort seiner größten Erfolge, zuschauen musste – enttäuscht, auf der Suche nach der Form. „Ich bin schon länger wieder optimistisch. Ich hatte einen guten Start mit meinem Team und deshalb freue ich mich auf das Jahr.“ Kittel sagt das nicht einfach so. Er weiß, dass sich in 365 Tagen vieles verändern kann. Die Voraussetzungen stehen also gut, dass sich für ihn nach dem Seuchenjahr 2015 alles zum Besseren wendet. Wenn er im Juli bei der Frankreich-Rundfahrt am Start steht und erfolgreich um Etappensiege kämpft, wäre genau das der Fall. Es wären dann die Erinnerungen an die Tour 2015, die verblassen würden. Nur eben 365 Tage später.



Cover Procycling Ausgabe 144

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 144.

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