Monumentale Saison

John Degenkolb hat als erster Fahrer seit Sean Kelly 1986 Mailand – San Remo und Paris – Roubaix innerhalb einer Klassiker-Saison gewonnen. Es ist ein Double, das deutlich seltener ist als die Flandern-Roubaix-Paarung, die in dieser Zeit fünfmal komplettiert wurde. Trotz dieser Höhen lief Degenkolbs Saison nicht immer nach Plan. Procycling sprach mit dem 26-Jährigen, der uns die Höhen und Tiefen einer monumentalen Saison beschrieben hat.

 

Perfekte Klassiker-Saison
Dass John Degenkolb für die Klassiker auf Kurs lag, unterstrich er mit einem Sieg am Hatta Dam bei der Dubai Tour Anfang Februar, wo er auf dem 17 Prozent steilen Schlussanstieg keinen anderen als Alejandro Valverde schlug. Er hielt sich bei der Ruta del Sol, Paris – Nizza und auf den ersten 292,9 Kilometern von Mailand – San Remo bedeckt, um dann auf den letzten 50 Metern auf der Via Roma im Sprint an Alexander Kristoff vorbeizuziehen – der perfekte Coup. Drei Wochen später lieferte er bei Paris – Roubaix auf den letzten 20 Kilometern ein taktisches Meisterstück ab. Mit einer perfekt dosierten Energieleistung schaffte er es in die Spitzengruppe und konnte die sieben Mann, die das Finale unter sich ausmachten, dann mühelos übersprinten.
JD Es war ein großartiges Jahr – vor allem die Klassiker, die herausragend waren, aber auch der Rest. Die beiden Monumente waren etwas ganz Besonderes für mich. Ein Sieg in Roubaix war ein Traum für mich und jetzt habe ich den Pflasterstein zu Hause … und was das für ein Gefühl ist, ist schwer zu beschreiben – es ist einfach fantastisch. Im Moment stehen die Spezia [die Trophäe von Mailand – San Remo] und der Pflasterstein im Wohnzimmer, aber im Winter ziehe ich um und dann können wir uns überlegen, wo wir sie hinstellen und ihnen den Platz geben, den sie verdienen.
 
Geschichte schreiben
Nach Degenkolbs erster Profi-Saison 2011 sagte Brian Holm, sein Sportlicher Leiter bei HTC-Highroad, der Sport habe seinen neuen Tom Boonen gefunden. Holm war überzeugt, dass der junge Deutsche der künftige Mann für die Klassiker sei. Boonens Palmarès mit 26 Jahren – Degenkolbs Alter nach der Klassiker-Saison 2015 – war nicht vergleichbar: acht flache Monumente und andere Klassiker, während Degenkolb vier auf dem Konto hat. Trotzdem hat Degenkolb unter den aktiven Rennfahrern dieses Alters – Sep Vanmarcke, Alexander Kristoff, Ian Stannard und Greg Van Avermaet – die beste Bilanz. Fabian Cancellara hatte nur einen großen Sieg zu Buche stehen: Paris – Roubaix 2006. Das heißt, dass in puncto Alter und bisherige Errungenschaften Degenkolb die besten Aussichten hat, einen mit Boonen und Cancellara vergleichbaren Palmarès zu entwickeln.    
JD Ich schaue nicht nur auf diese Dinge. Ich will meinen Träumen folgen und sie verwirklichen. Der schönste Traum für nächstes Jahr wäre, Flandern zu gewinnen, denn dann habe ich die drei [flachen] Monumente komplett. Das wäre ein sehr schönes Ziel. Aber ich bin nicht in einer so schönen Situation, weil jetzt alle meine Saison an der letzten [2015] messen werden – wie viele Monumente ich gewinne. Dabei war das einzigartig. Es könnte sein, dass mir das nie wieder gelingt. Ich weiß es nicht. Ich will bei künftigen Rennen einfach mein Bestes geben und dann sehen wir, was passiert.
 
Eine enttäuschende Tour
Degenkolb ging als Teamkapitän in die Tour de France, weil das Team Giant-Alpecin an der Form seines Topsprinters Marcel Kittel zweifelte. Und trotz dreier Ankünfte, die Degenkolbs Stärken entgegenkamen, und weiterer fünf flacher Sprints blieb Degenkolbs Jagd nach seinem ersten Tour-Etappensieg erfolglos. Seine besten Ergebnisse waren zwei zweite Plätze und drei vierte. Er war jetzt fünfmal Zweitplatzierter einer Tour-Etappe.
JD Ich habe immer versucht, 100 Prozent zu geben. Das Wichtigste ist jetzt, glaube ich, geduldig zu bleiben und nicht den Hunger oder die Konzentration zu verlieren. Letztlich ist es nur eine Frage der Zeit; und eines Tages werde ich die Chance bekommen und sie nutzen – da bin ich mir sicher. Ich bin nicht frustriert deswegen. Ich werde es weiter probieren und ich war viele Male sehr nah dran. Mal sehen, was nächstes Jahr passiert
 
Neuer Plan bei der Vuelta
Degenkolb ging als Teamkapitän in die Vuelta, um seine Ausbeute von neun Etappensiegen, die er 2012 und 2014 erzielt hatte, zu erweitern. Aber da Tom Dumoulin seinen Durchbruch als Rundfahrer feierte – er verlor das Rote Trikot erst auf der vorletzten Etappe –, wurde Degenkolb über weite Strecken als Mannschaftshelfer eingespannt. Er musste bis zur letzten Etappe in Madrid warten, um seinem Vuelta-Konto den 10. Etappensieg gutzuschreiben.
JD Es war eine schöne Erfahrung, muss ich sagen, und etwas ganz anderes, in der letzten Woche einer großen Rundfahrt zu sein und eine wirklich gute Chance zu haben, das Trikot zu gewinnen. Ich habe wirklich alles getan, um Tom so gut wie möglich zu unterstützen, und das war sehr schön.
 
Neue Prioritäten bei Giant-Alpecin
Im Spätsommer ließen die Vertragsverlängerungen und Transferaktivitäten bei Giant-Alpecin darauf schließen, dass sich das Team neu orientiert und Etappenrennen ins Visier nimmt: die beiden jungen und vielversprechenden Rundfahrer Tom Dumoulin und Warren Barguil unterschrieben bis Ende 2017; der erfahrene holländische Kletterer Laurens ten Dam kommt von LottoNL  –  Jumbo; und nach einem mageren Jahr wechselt Marcel Kittel zu Etixx – Quick-Step. Das bedeutet mehr Druck für Degenkolb, der jetzt Hauptsprinter des Teams ist, und wirft auch die Frage auf, wie viel Unterstützung er bei Rundfahrten und in fernerer Zukunft vielleicht sogar bei den Klassikern bekommen wird.
JD Jetzt, wo Marcel nicht mehr im Team ist, wird die Aufmerksamkeit mehr auf mich gerichtet sein – das ist eine Tatsache. Aber ich bin auch älter und erfahrener als früher. Wir werden sehen, was in Zukunft passiert und wie sich das Team entwickelt – ob wir uns noch auf die Sprints und die Klassiker konzentrieren oder ob sich das Team wirklich zu einem Rundfahrer-Team entwickeln will. Das ist noch nicht klar. Die Situation mit Marcel ist nicht so leicht für mich, weil ich beide Seiten verstehe. Ich denke, für ihn war es besser zu gehen, und ich kann seine Position und die des Teams vollkommen verstehen. Ich denke, das Programm wird sehr ähnlich wie im letzten Jahr sein und wir haben noch nicht genau entschieden, mit welchen Rennen wir uns auf die Klassiker vorbereiten. Die Klassiker und die Monumente sind die großen Ziele und die Tour wird natürlich der zweite Teil sein. Am Ende der Saison würde ich gerne wieder die Eintagesrennen in Hamburg und Plouay fahren. Das wird eine gute Abwechslung zu den anderen Jahren, in denen ich die Vuelta gefahren bin.

 

Hitzköpfig bei der Weltmeisterschaft
John Degenkolb ging als Favorit in die Weltmeisterschaft und hatte eine klare Chance, das Straßenrennen als erst dritter deutscher Radprofi überhaupt und erster seit Rudi Altig 1966 zu gewinnen. Doch obwohl er auf den letzten Metern ein wichtiger Agitator war – er ging bei Zdenek Štybars Attacke am Libby Hill mit –, hatte er nichts mehr zuzusetzen, als Peter Sagan einen Hügel später auf der 23rd Street attackierte. Degenkolb fiel auf einen enttäuschenden 29. Platz zurück
JD Hitzköpfig. So würde ich meine Leistung beurteilen. Eigentlich war ich in guter Form und ziemlich zuversichtlich, ein gutes Finale fahren zu können und auf den letzten Anstiegen etwas ausrichten zu können. Vielleicht habe ich mich im Rennen zu gut gefühlt und war zu offensiv und habe zu viel Zeit an der Spitze des Rennens verbracht. Ich hätte mehr Energie sparen und Štybar nicht folgen sollen, als er attackierte. Es war eine große Verantwortung und eine große Herausforderung für mich, Kapitän des Teams zu sein, das hinter mir stand und mich unterstützte. Es ist immer eine große Freude, in der Nationalmannschaft zu sein und dein Land bei diesem Rennen zu vertreten – es ist etwas ganz anderes als all die anderen Rennen, die wir im Laufe des Jahres fahren – es ist cool. Ich glaube, gerade dieses Rennen kann mir im nächsten Jahr helfen, mit dem Druck und mit der Situation besser umzugehen, gerade bei den Klassikern.
 
Für drei fahren

Im Januar wurde Degenkolbs Sohn Leo geboren. Das Ereignis scheint seiner Motivation keinen Abbruch getan zu haben.
JD Es ist in mancherlei Hinsicht anders und du musst viel mehr Opfer bringen als vorher. Mit dieser Verantwortung als Vater siehst du vieles aus einer anderen Perspektive und ich habe es immer als zusätzliche Motivation empfunden. Ich muss auch sagen, dass meine Frau [Laura] mich perfekt unterstützt und sich um das Baby kümmert, wenn ich nicht da bin. Wenn sie nicht so stark wäre, wäre das [was ich erreicht habe] nicht möglich. Wenn du deinen Sohn siehst, ist Radsport nicht mehr wichtig. Für mich ist meine Familie das Wichtigste im Leben und selbst wenn ich wirklich enttäuscht bin nach einem Rennen, brauche ich sie bloß zu sehen, um wieder lächeln zu können.



Cover Procycling Ausgabe 143

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 143.

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