„Angriff ist die beste Verteidigung“

Besser hätte das Jahr für André Greipel kaum laufen können. Insgesamt 15 Saisonsiege stehen für den Mann aus Hürth zu Buche, darunter vier prestigereiche Erfolge bei der Tour de France. Mit Procycling sprach der „Gorilla“ über Höhepunkte und Rückschläge, die neue Euphorie für den deutschen Radsport und seine eigenen Vorbilder.

 

André, auch wenn die Antwort auf der Hand liegt: Wie schaut dein Saison-Fazit aus?
Ich denke, dass ich eine der erfolgreichsten Saisons meiner Karriere erlebt habe. Bis jetzt war jedes Jahr mit vielen Siegen gespickt, aber 2015 war das Nonplusultra.
 
Welches waren deine persönlichen Highlights?
Absolute Höhepunkte waren natürlich die vier Etappensiege bei der Tour, vor allem der Erfolg auf den Champs-Élysées – damit habe ich mir einen Kindheitstraum erfüllt. Dieser Sieg wird mir noch lange in Erinnerung bleiben. Aber am Ende denke ich, dass eigentlich die ganze Saison mit Highlights gepflastert war. Ich habe bei allen großen Rundfahrten, die ich bestritten habe, mindestens eine Etappe gewonnen. Darauf können wir sehr stolz sein, denn ich habe ja nicht alleine gewonnen. Die Mannschaft hat mir die Sprints und die Siege ermöglicht und deswegen sind das alles ganz klar Teamgewinne.
 
Bei allen Erfolgen – gibt es auch Rennen, die nicht nach Wunsch gelaufen sind?
Die Klassiker. Das war der einzige Monat, wo es bei uns mit Siegen ein bisschen mau aussah. Zwar waren wir in der Teambreite ziemlich stark, haben aber nicht das nötige Resultat gebracht. Das ist eigentlich das Einzige, was man besser machen kann.
 
Auch wenn die Topresultate im April gefehlt haben – vor allem bei der Flandern-Rundfahrt hast du eine starke Rolle gespielt und viel für deine Kollegen gearbeitet. Am Ende wurdest du 15.
Ich sage immer: Angriff ist die beste Verteidigung. Und damit habe ich vielleicht auch den Teamkollegen ein bisschen geholfen. Aber wenn wir so fahren, dann müssen die Resultate am Ende natürlich besser aussehen, als es dieses Jahr der Fall war. Das ist nun mal das, was das Team möchte – als belgische Mannschaft bei den belgischen Klassikern glänzen. Und zwar nicht bis kurz vor dem Ziel, sondern auch bis auf die Ziellinie.
 
In etwa vergleichbar war die WM Ende September in Richmond. Auch da wart ihr als Team sehr gut im Rennen. Du hast dich aufgeopfert, und dann ist im Endeffekt doch nichts Greifbares dabei rumgekommen.
Ich bin immer der Meinung, dass man für den besten Fahrer fahren sollte, so wie es der Kurs hergibt. Da war ich einfach professionell genug, um meine Chancen realistisch einzuschätzen. Klar hätte ich lange mitfahren können, aber so, wie das Finale gespickt war mit den drei Anstiegen, war es einfach kein Rennen, bei dem ich ein Resultat hätte einfahren können. Für John [Degenkolb] war der Parcours viel besser, deswegen haben wir uns ganz klar für ihn aufgeopfert.
 
In der letzten Ausgabe hat Dominik Nerz deinen Einsatz bei der WM in den höchsten Tönen gelobt.
Für mich ist das eine Selbstverständlichkeit. Im nächsten Jahr hoffe ich dann natürlich, dass auch acht Mann für mich dabei sind.
 
Nerz hat gesagt, dass eine derartige Einstellung nicht bei allen Fahrern und Nationen vorherrscht.
Ich bin halt so groß geworden. Als ich Neoprofi war, bin ich in die Attacken gegangen, von Kilometer null an, habe Führungsarbeit geleistet, habe Sprints angefahren und so weiter und so fort. Ich weiß also, wie es funktionieren soll, wenn man ein gutes Resultat erzielen möchte. Bei einer Weltmeisterschaft gibt es einen Plan A und den sollte man versuchen, zu 100 Prozent zu erfüllen. Das haben wir getan. Nicht nur ich, sondern auch alle anderen Fahrer.
 
Schauen wir nach vorne. Gerade ist der Kurs zur Tour de France 2016 vorgestellt worden. Deine Einschätzung?
Bei der Tour gilt generell: Egal, ob flach, ob Kopfsteinpflaster oder nicht – es gibt keine leichten Etappen. Es ist eigentlich immer für jeden etwas dabei gewesen. Und das wird auch im nächsten Jahr so sein. Ich denke, dass es sechs Möglichkeiten gibt, in einen Sprint zu kommen und ein Resultat einzufahren. Auf der anderen Seite sind natürlich viele harte Bergetappen dabei, wo es von Kilometer null direkt berg-hoch geht und man ums Zeitlimit kämpfen muss. Aus den Augen der Sprinter ist es auf jeden Fall eine sehr harte Tour de France.
 
Mit etwas Glück gibt es im Jahr darauf einen Grand Départ in Deutschland. Wie siehst du die Bewerbung von Düsseldorf?
Ich setze mich morgen [das Gespräch mit Procycling fand Ende Oktober statt] mit den verantwortlichen Personen in Düsseldorf zusammen, wir machen dort auch eine Pressekonferenz. Nach so vielen Jahren ohne Tour und Tourstart wäre es einfach ein Superzeichen, wenn so etwas 2017 wieder hier in Deutschland stattfinden könnte. Ich denke, der Radsport hat es mit den Erfolgen in den letzten Jahren verdient, dass man das drittgrößte Sportevent weltweit auch mal wieder nach Deutschland holt.
 
Und dann auch noch quasi vor deine Haustür.
Das freut mich natürlich umso mehr. Da kann ich sogar mit dem Rad anreisen.

 

Wo du die Entwicklung des deutschen Radsports erwähnst, zu der du ja auch einen großen Teil beigetragen hast – die ARD hat nach langer Zeit wieder die Tour de France übertragen. Hast du in diesem Jahr einen konkreten Unterschied durch die Fernsehpräsenz gespürt?
Bei all den deutschen Erfolgen kam die ARD gar nicht mehr daran vorbei, die Tour de France zu zeigen. Dementsprechend haben wir natürlich auch mehr Zuschauer gehabt. Früher war es Normalität, dass die Tour im Sommer im Fernsehen gelaufen ist und vom Kleinkind bis zum Großvater von allen geguckt wurde. Ich denke schon, dass wir dadurch stärker wahrgenommen worden sind.
 
Da passt es für dich natürlich perfekt, dass du bei dieser Tour einer der Hauptakteure warst. So etwas nimmt man ja auch gerne mit, wenn man sich schon so lange reinhängt.
[Pause]. Wer mich kennt, weiß, dass ich ungerne rede. Ich sage immer, dass ich nicht für die Medien Fahrrad fahre, sondern weil ich es einfach liebe. Natürlich freut es mich, wenn ich meinen Teil dazu beitrage, dass der Radsport wieder positiv wahrgenommen wird. Aber am Ende ist es für mich vor allem eine Genugtuung und auch eine Erleichterung, dass sich die Mühen der ganzen Jahre ausgezahlt haben. Es ist der Beweis, dass man seine Ziele erreichen kann. Und das sauber. Man darf sie nur nicht aus den Augen verlieren und muss immer daran glauben, dass man sie erreichen kann. Es war natürlich ein langer Weg.
 
Du bist jetzt 33. Wie lange wirst du diesen Weg noch gehen?
Man sagt immer, dass man im Alter schlechter wird, aber ich sehe da eigentlich keinen Abbruch. Im Gegenteil, ich versuche, mich von Jahr zu Jahr weiter zu verbessern.
 
Was glaubst du, wie sehr die aktuelle Generation deutscher Profis den heutigen Nachwuchs inspiriert?
Es ist die Frage, was diese ganze [Skandal-] Geschichte von 2006 bis 2010 wirklich für einen Abbruch bei der Nachwuchsförderung bewirkt hat. Wenn man heute Bundesliga-Rennen sieht, fällt schon auf, dass der Standard, der damals Normalität war, ein bisschen zurückgegangen ist. Dazu musste man die U23-Bundesliga wieder hochsetzen, ich glaube, das ist jetzt U27 oder U28, um ein größeres Starterfeld zu haben. Man muss einfach sehen und abwarten, wie sich die Nachwuchsförderung entwickeln wird. Ich hoffe natürlich, dass man die deutschen Farben bei den großen Rennen in der weiteren Zukunft vorne sehen wird. Aber neben Playstation und Smartphone sind die Jugendlichen im heutigen Zeitalter auch durch die Schule sehr eingespannt. Hobbys sind da natürlich nicht mehr so leicht zu realisieren, wie es früher der Fall war.
 
Was hat dich eigentlich damals inspiriert, Radrennfahrer zu werden?
[Überlegt] Was hat mich inspiriert? Ich bin eigentlich schon immer gerne Fahrrad gefahren. Als Profi ist das natürlich völlig anders, aber damals habe ich bei einer Mannschaftssportart immer das Problem gehabt, dass man zu sehr von seinen Teamkollegen abhängig ist. Mir hat einfach gefallen, dass man für sein Resultat selbst verantwortlich ist.
 
Gab es einen konkreten Fahrer, für den du dich begeistert hast?
Die Friedensfahrt ist immer vor meiner Haustür vorbeigegangen. Da war Olaf Ludwig ziemlich erfolgreich. 1993 habe ich das erste Mal die Tour im Fernsehen geschaut, auch da hat er ja Etappen gewonnen. Das hat mir natürlich gefallen. Wenn es auf eine Person zurückzuführen ist, dann ist Olaf Ludwig derjenige, der mich zum Radfahren gebracht hat.
 
Weißt du schon, wie dein Rennprogramm 2016 aussehen wird?
Ich habe mich damit noch nicht übermäßig beschäftigt, aber ich denke, dass es ähnlich aussehen wird wie in diesem Jahr.
 
Das heißt, du wirst im kommenden Januar nicht bei der Tour Down Under starten?
Nein, nach Australien fahre ich auf gar keinen Fall. Ich gehe mal davon aus, dass ich mit der Algarve-Rundfahrt einsteigen werde.
 
Du wirst im nächsten Jahr auf zwei alte Konkurrenten treffen, die für neue Teams fahren: Mark Cavendish und Marcel Kittel. Kannst du dir einen Grund für einen Wechsel von einem ProTour- zu einem ProContinental-Team vorstellen, wie Cavendish es macht [der Brite verlässt Etixx – Quick-Step und fährt 2016 für den MTN-Qhubeka-Nachfolger Team Dimension Data]?
Diesen Wechsel habe ich so nicht wirklich erwartet. Ein Fahrer wie er will bestimmt auch bei der Tour am Start stehen und dort brillieren, dabei ist der Tourstart von Dimension Data ja nicht unbedingt sicher. Wenn man sich jedoch die Fahrer anschaut, die MTN verpflichtet hat, dann gehe ich davon aus, dass sie eine Wildcard bekommen werden. Das Paket mit Mark Renshaw, Bernhard Eisel und Cav ist für ein Team wie MTN das Beste, was denen hätte passieren können. Von solchen Fahrern mit so viel Know-how können alle nur profitieren. Ich weiß jetzt nicht wirklich, wie groß Cavendishs Ambitionen sind, zu Olympia auf die Bahn zu gehen. Aber ich denke mal, dass das auf jeden Fall ein Team ist, wo er das realisieren könnte.
 
Über den Wechsel von Marcel Kittel zu Quick-Step war im Vorfeld viel spekuliert worden, bevor es offiziell so weit war. Hat dich sein Schritt überrascht?
Ich sage es mal so: Ich war schon überrascht, dass der Vertrag von Alpecin einfach so aufgelöst wurde. Mit Sicherheit sind da auch Gelder geflossen. Auf der anderen Seite freue ich mich natürlich, dass Marcel bei Quick-Step einen anderen Stellenwert haben wird, als das bei Alpecin der Fall war. Da waren die Fronten zuletzt ja schon etwas verhärtet. Ich hoffe, dass er dort die nötige Motivation findet, um wieder auf seinen normalen Standard zurückzukehren. Wenn das jemand schafft, dann sind das [die Teammanger] Rolf Aldag und Brian Holm. Die wissen schon, wie man mit Rennfahrern umgeht [der Wechsel von Rolf Aldag zu Dimension Data wurde erst nach dem Interview bekannt]. Es wäre natürlich auf jeden Fall schön für Marcel, wenn er wieder zu seiner alten Form zurückkehren würde.



Cover Procycling Ausgabe 142

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 142.

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