Gigant auf dem Vormarsch

Tom Dumoulin feierte bei der Vuelta 2015 seinen Durchbruch als Rundfahrer und wurde mit Lob überschüttet. Vergleiche mit früheren Champions, insbesondere mit Miguel Indurain, machten während des Rennens die Runde. Wie geht er selbst damit um?

 

Es ist viel Zeit vergangen, seit sich die Wege von Tom Dumoulin und Miguel Indurain das erste Mal kreuzten. Eine Lebenszeit, um genau zu sein. Vor 20 Sommern war Dumoulin ein kleines Kind auf einem Campingurlaub in Frankreich. „Anscheinend haben wir uns die Tour angeschaut, aber es hat mich nicht so beeindruckt, dass ich mich daran erinnern könnte“, sagt er lachend zu Procycling. „Wir haben ein paar Fotos gemacht“, erzählt er weiter. „Auf einem stand ich an der Straßenseite und auf der anderen siehst du eine Reihe von Rennfahrern und einer davon ist Indurain.“ Wir springen zwei Jahrzehnte weiter, zur Pressekonferenz am zweiten Ruhetag der Vuelta a España 2015, wo Indurains alter Sportdirektor Eusebio Unzue, immer noch Manager des Movistar-Teams, das in direkter Linie von Indurains Banesto-Mannschaft abstammt, die Gemeinsamkeiten der beiden unterstrich. Unzues Meinung nach – und man hätte eine Stecknadel fallen hören können, als er den Vergleich zog – besitzt Dumoulin dieselbe Gabe wie Indurain: ein Talent als Zeitfahrer bei großen Rundfahrten mit unerwartet starken Vorstellungen in den Bergen zu kombinieren. „Morgen [beim Zeitfahren in Burgos]“, fuhr Unzue fort, „werden wir sehen, ob er etwas von seiner Stärke als Zeitfahrer verloren hat, nachdem er sich in den Bergen gesteigert hat.“ Dumoulin wies den Vergleich zurück: „Ich habe im Vergleich zu ihm nichts erreicht“, sagte er. Aber seine eigentliche Antwort war eine à la Indurain: Er ließ die Beine sprechen. Als er über die welligen 39 Kilometer in Burgos schnurrte, fuhr der Giant-Alpecin-Fahrer mehr als eine Minute auf den Zweitplatzierten Maciej Bodnar und fast zwei Minuten auf seinen ärgsten Rivalen im Gesamtklassement, Fabio Aru, heraus. Obendrein brachte er das Rote Trikot des Spitzenreiters, das er eine Woche zuvor in Andorra verloren hatte, wieder in seinen Besitz. Dass er darauf hingearbeitet hatte, bei der Vuelta mit den besten Kletterern mithalten zu können, hatte Dumoulins Zeitfahrer-Qualitäten keinerlei Abbruch getan.

Dabei hatte Unzue mit seiner Bemerkung gar nicht sagen wollen, was er Dumoulin zutraut. Er sagte ihm keine fünf Tour-Siege in Serie voraus, wie Indurain sie zu Buche stehen hat. Vielmehr bezog er sich auf den Stil des Holländers, und nach Burgos konnte man – auch wenn Dumoulin nichts davon wissen wollte – kaum anderer Meinung sein. Es gibt weitere Ähnlichkeiten zwischen dem „Big Tom“ von heute und dem „Big Mig“ der 1990er. Beide sind sehr groß, und wie Indurain ist Dumoulin der Presse gegenüber stets höflich und verbindlich, egal, wie groß sein Sieg oder seine Niederlage bei der Vuelta ist, die für ihn zur Achterbahnfahrt wurde. Der fünffache Tour-Champion wollte nie aus Spanien wegziehen und sich im schicken Monaco oder anderen Steuerparadiesen niederlassen. „Eines meiner Beine gehört dem spanischen Finanzamt“, scherzte Indurain einmal. Auch Dumoulin hat keine Absichten, sein heimatliches Maastricht zu verlassen. Wenn Dumoulin eine Trainingsfahrt mit Anstiegen will, steht er um sechs Uhr morgens auf, fährt mit dem Auto zur belgischen Grenze, packt das Rad aus und fährt nach Süden in die Ardennen.Während sie einen sehr ähnlichen Stil haben, ist die auffälligste Parallele zwischen Dumoulin und Indurain, dass sie viel Wert darauf legen, normal zu bleiben. „Ich hoffe, ich kann noch durch die Stadt laufen, weil ich nicht auf dieses Rockstar-Getue stehe“, sagt Dumoulin zu Procycling. „Warten wir’s ab. Ich hoffe, ich kann immer noch derselbe Tom Dumoulin sein.“ Wie bei Indurain ist Dumoulins Familie sein Anker. „Sie sorgt dafür, dass ich auf dem Teppich bleibe“, sagte er auf seiner Pressekonferenz am Ruhetag lächelnd, wo er uns auch verriet, dass seine Freundin nach Madrid kommen würde. „Ob ich Erster oder 100. werde, sie mag mich trotzdem“, sagte er.

Dumoulin erreichte die spanische Hauptstadt auf der letzten Vuelta-Etappe schließlich als Gesamt-Sechster, nachdem sein knapper Vorsprung von sechs Sekunden auf Fabio Aru an einem einzigen elektrisierenden Renntag in der Sierra de Madrid zunichtegemacht worden war. Natürlich hat er gemischte Gefühle, was den Ausgang seines Rennens angeht, und als er am letzten Tag der Vuelta von Procycling interviewt wird, ist er noch dabei, diese Emotionen zu verarbeiten.
„Es wird eine Weile dauern, bis ich alles sortiert habe und auch stolz auf diese Vuelta sein kann, denn im Moment bin ich einfach nur enttäuscht. Aber in ein paar Tagen oder Wochen müsste ich definitiv sehr stolz sein“, sagt er.
Aber ungeachtet der Rückschläge hat Dumoulin, der in Spanien ohne erklärte Top-Ten-Ambitionen gestartet war, beeindruckende Fortschritte gemacht. Er kam mit dem Ruf, ein brillanter Zeitfahrer zu sein, und ging als potenzieller Rundfahrtsieger. Dabei hatte Dumoulin lange gebraucht, um sich mit dem Radsport anzufreunden. Bis er Teenager war, bestand sein Hauptinteresse am Radsport vor allem darin, die Helikopter über dem Finale des Amstel Gold Race kreisen zu sehen. Aber seine natürliche Begabung zeigte sich, als er mit 15 Eishockey und Fußball aufgab und bei Amateurrennen startete. 2010, als er 19 war, nahm er an einem Zeitfahren bei der Trofeu Cidade da Garda, einem portugiesischen Elite/Amateur-Etappenrennen, teil und gewann. Dabei schlug er Nelson Oliveira, der 2010 bei der U23-Zeitfahr-Weltmeisterschaft Silber holte (und eine Etappe der Vuelta 2015), während Nairo Quintana Zehnter wurde. Das allein war schon beeindruckend – aber nicht so sehr wie die Tatsache, dass es sein allererstes Zeitfahren war. „Es war nicht einmal meine eigene Maschine. Ich hatte sie von einem Freund ausgeliehen und ein bisschen anders eingestellt“, erinnert sich Dumoulin grinsend. „Ich war vorher Gesamt-Zweiter, ich hatte keine Ahnung von“ – er betont das Wort – „Zeitfahren, also legte ich einfach los. Ich hatte vorher ein Mannschaftszeitfahren bestritten, aber nie ein Einzelzeitfahren, und ich gewann. Als ich herausfand, wer Oliveira ist, dachte ich: ‚Gut, das ist etwas, das ich kann.‘ Es ist immer noch einer meiner schönsten Siege.“

Ein Jahr später, in seiner letzten Saison als Amateur, wurde Dumoulin Achter bei der U23-Zeitfahrweltmeisterschaft. Und drei Jahre später, 2014, hatte Dumoulin in dieser Disziplin bereits eine Bronzemedaille bei den Senioren gewonnen und saß auf der Pressekonferenz in Ponferrada plötzlich neben Bradley Wiggins und Tony Martin. Wiggins staunte über Dumoulins Jugend und sagte: „Ich habe meine erste Medaille bei der Weltmeisterschaft vor 16 Jahren geholt, wie alt warst du da? Sechs, sieben Jahr alt“, rechnete Wiggins vor. Er fügte schelmisch hinzu: „Tom hat sich in den letzten zwei Jahren gesteigert und er wird immer stärker. Er braucht nur noch beim Team Sky zu unterschreiben und abgehen wie eine Rakete.“
Aber Dumoulin scheint sich sehr wohl zu fühlen bei Giant-Alpecin, wo er einen Vertrag bis Ende 2016 hat. Wenn es in seinen vier Profijahren ein Problem gegeben hat, dann, dass er an zu vielen Fron-ten Fortschritte macht. Wie 2014: Vor der WM-Bronzemedaille war er Gesamt-Fünfter der Tour de Suisse – mit erst 23 Jahren –, was ein Talent für Etappenrennen erkennen ließ. Bei den kanadischen WorldTour-Rennen machte er den Spezialisten für hügelige Klassiker das Leben schwer und wurde Sechster in Montreal sowie Zweiter in Quebec, was nahelegte, dass Eintagesrennen auch ein möglicher Karriereweg für ihn sind. Gegen die Uhr holte Dumoulin unterdessen einen zweiten Platz beim abschließenden Zeitfahren der Tour de France, einen Landesmeistertitel und Etappensiege bei der Eneco Tour sowie dem Critérium International.

Während Dumoulin bei Eintagesrennen in dieser Saison keine weiteren Fortschritte machte, zeugte sein dritter Gesamtrang bei der Tour de Suisse von einer zunehmenden Beständigkeit bei den Rundfahrten. Und sein Sieg auf einem brutal hügeligen Kurs in Aia im April im Baskenland bestätigte, was ein größeres Publikum bei der Vuelta sah: Jahr für Jahr ist Dumoulin in den Bergen schneller geworden. Zu den Enttäuschungen zählte, dass er das kurze Auftakt-Zeitfahren der Tour auf heimischem Boden in Utrecht knapp verlor. Dabei hatte er vorher, wie er sagte, „wochenlang 17-Minuten-Intervalle“ trainiert.  Dann stürzte er auf dem Weg nach Huy unweit seines heimatlichen Maastricht schwer und zog sich eine Schulterluxation zu. Es war der Tiefpunkt der Saison. „Ich war eine Woche zu Hause und schaute zu, wie die Tour ohne mich weiterging“, sagt er. „Es war ein schwerer Moment.“ Aber ähnlich wie bei Wiggins, der Dritter der Vuelta 2011 wurde, nachdem er sich bei der Tour das Schlüsselbein gebrochen hatte, hielt die Form, die Dumoulin für den Sommer aufgebaut hatte, bis in den Frühherbst. Ein zweiwöchiges Höhentrainingslager in Livigno und eine schnell verheilende Schulter leiteten das Comeback des Holländers ein. Als Nicolas Roche und Esteban Chaves sich auf der 2. Etappe des Rennens im Anstieg nach El Caminito del Rey absetzten, ging Dumoulin mit ihnen mit. Dieser wenig bekannte Berg im Hinterland von Málaga war praktisch der Start einer großen Reise ins Unbekannte für Dumoulin bei der Vuelta, größer noch als Wiggins’ eigene 2011. Der Brite konnte die Tour 2009, bei der er seinen Durchbruch gefeiert hatte, als Referenz vorweisen. Als Dumoulin in der ersten Woche ins Rote Trikot fuhr und auf den Bergetappen auf Schlagdistanz blieb, hatte er keinerlei Bezugspunkte.

 

Doch drei Wochen später hatte er sein Talent für große Rundfahrten entdeckt. Dumoulin wiederholt bewusst den Satz, mit dem er seinen ersten Zeitfahr-Sieg in Portugal beschrieb, um seine Vuelta zu beschreiben: „Das ist etwas, das ich kann.“ Ob er das auch will, ist eine andere Frage, zumindest für 2016. „Ich weiß nicht, ob ich das jedes Jahr mache“, sagt er, „und schon gar nicht, ob ich zwei große Rundfahrten in einem Jahr bestreite. Ich werde mir meine Ziele gut aussuchen. Im nächsten Jahr ist zum Beispiel [das Zeitfahren in] Rio mein großes Ziel und ich werde meine Saison darauf ausrichten. Daher weiß ich nicht, ob ich nächstes Jahr bei einer großen Rundfahrt auf die Gesamtwertung fahre. Es ist nicht so, dass mir dies plötzlich die Augen geöffnet hätte und ich mir vorstellen könnte, von jetzt an jedes Jahr eine große Rundfahrt gewinnen zu wollen. In Zukunft werde ich es definitiv häufiger probieren, aber im Winter werden wir das besprechen.“ Es sind sehr viele Daten, die Dumoulin und sein Team zu verarbeiten haben. Bisher hat sich Giant-Alpecin auf die Klassiker und Sprintentscheidungen konzentriert. Rundfahrten sind (und das zeigte sich bei der Vuelta) weitgehendes Neuland für sie. „Ich hatte in dieser Saison etliche Höhen und Tiefen. Ich habe viel gelernt – aus meinen Niederlagen, aber auch aus meinen Siegen“, blickt Dumoulin zurück. „Ich habe zum Beispiel viel aus meinem Sieg in Cumbre del Sol gelernt. Am meisten habe ich gelernt, als ich Chris Froome schlug. Es war definitiv eine sehr schwere Ankunft, eigentlich weiß ich gar nicht, wie ich das gemacht habe. Ich bin immer noch ziemlich gut in diesen [hügeligen] Zehn-Minuten-Finals, und jetzt habe ich ein bisschen Gewicht verloren und klettere ein bisschen schneller und habe anscheinend noch dieselbe Power. Ich hatte eine gute Taktik, weil ich auf dem leichteren Abschnitt etwas Zeit herausgefahren hatte und diese Kletterer Vollgas fuhren, dann Stopp, Vollgas, Stopp. Wenn du siehst, wie ich geklettert bin – das war ein gleichmäßiges Tempo, weil ich in den steilen Abschnitten ein bisschen rausgenommen habe. Ich hatte kein Wattmessgerät, weil es an meinem Ersatzrad war, aber ich kann mir vorstellen, dass ich immer die gleiche Wattzahl getreten habe, und das ist ein großer Vorteil. Froome und Rodríguez haben auf dem letzten Kilometer zehn Sekunden auf mich verloren und so eine Lücke auf solch einem Anstieg zu schließen, kostet sehr viel Kraft. Ich bin einfach in meinem eigenen Tempo gefahren und das hat mir geholfen.“

Man kann sich fast vorstellen, wie Wiggins und Indurain bei dieser Strategie, die auch ihre wäre, zustimmend nicken. Doch Dumoulin gibt sich zugeknöpft auf die Frage, ob er wie Wiggins an die großen Rundfahrten herangehen kann. „Er ist definitiv ein sehr besonderer Fahrer, aber ich würde mich nie mit einem anderen Fahrer vergleichen wollen. Wir haben einige Ähnlichkeiten, aber ich weiß nicht, wie es sich für mich entwickeln wird. Ich bin erst 24 und er war ein bisschen älter, als das alles passierte.“ Dass Dumoulin sich nicht zu früh auf das Grand-Tour-Spiel einlassen will, mögen die holländischen Medien nicht so recht akzeptieren. „Sie haben mich nur danach gefragt“, sagt Dumoulin mit leichtem Bedauern, wobei „sie“ die zahlreichen holländischen Journalisten sind, die ihn einige Minuten vor Procycling interviewt haben. Und das ist vielleicht verständlich, immerhin war Dumoulin nur zwei Tage davon entfernt, der erste niederländische Grand-Tour-Sieger seit Joop Zoetemelk (Tour de France 1980) zu werden. Je mehr es danach aussah, als wäre die 35-jährige Durststrecke bald beendet, umso zahlreicher wurden die holländischen Reporter in der letzten Woche der Vuelta; die Presseräume mussten mit zusätzlichen Tischen und Stühlen ausgestattet werden, um alle unterzubringen. Aber vielleicht müssen die Holländer noch warten, so wichtig, wie Rio für Dumoulin ist. „Das sind Olympische Spiele“, sagt er in dem Bewusstsein, dass das für sich selbst spricht. „Die gibt es nur alle vier Jahre und ich weiß nicht, ob es noch einmal so einen guten Kurs für mich gibt. Davon habe ich schon als Kind geträumt. Frankreich-Rundfahrten gibt es öfter.“

Da die Tour auf Dumoulins Prioritätenliste für 2016 weiter unten rangiert, werden die, die ihn als neuen Miguel Indurain ausgemacht haben, wohl noch etwas warten müssen, bis sich zeigt, ob hinter der Ähnlichkeit echte Substanz steckt. Oder doch nicht? Es wird häufig vergessen, dass das letzte Ausrufezeichen in Indurains Karriere sein Triumph beim olympischen Zeitfahren 1996 war. 2016 könnte Dumoulin auf eine Art in die Reifenstapfen des Spaniers treten, die nichts mit großen Rundfahrten oder Familienfotos zu tun hat. Oder wie Dumoulin, bodenständig wie immer, wahrscheinlich über das Zeitfahren in Rio sagen würde: „Das ist etwas, das ich kann.“



Cover Procycling Ausgabe 141

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 141.

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