Amerikanischer Klassiker

Fast 30 Jahre sind vergangen, seit die USA zuletzt die Straßenweltmeisterschaft ausgerichtet haben, aber da Richmond 2015 vor der Tür steht, wird die Uhr bald wieder auf null gesetzt. Procycling besuchte die Stadt, um zu sehen, was sie auf Lager hat.

 

Wenn Sie etwas überrascht waren, als bei der Weltmeisterschaft in Kopenhagen 2011 die Wahl für die Titelkämpfe 2015 auf Richmond, Virginia, fiel, so waren die Richmonder selbst noch erstaunter. Die Stadt ist zwar kein unbeschriebenes Blatt in Sachen Profiradsport – die Tour de Trump und Tour Du Pont fanden hier in den späten 1980ern und 1990ern statt und das CapTech Classic wurde in den 2000ern einige Jahre in Downtown Richmond ausgetragen – aber die Weltmeisterschaft? So etwas passiert Orten wie Richmond einfach nicht. Das dachte zumindest Ben King. Der Cannondale-Garmin-Fahrer ist in der Stadt geboren und lebt jetzt im nahe gelegenen Charlottesville. Er fuhr dort als Junior viele Rennen und ist der Stadt, in der er Familie hat, noch sehr verbunden. „Ich wusste, welche Austragungsorte sonst noch im Rennen waren, und dachte: ‚Schön wäre es ja.‘ Aber als sie gewonnen haben, dachte ich: ‚Heiliger Bimbam!‘“ So ging es auch Lee Kallman. Der in Richmond geborene frühere Radamateur und unser ortskundiger Führer während unseres Aufenthalts war kurz zuvor erst wieder in die Stadt gezogen, als er von der Bewerbung erfuhr. „Ich weiß, dass es für die Radsportler hier fast zu groß war, um es sich vorzustellen.“ Kallman schloss sich dem Bewerbungskomitee 2010 an und ist jetzt Marketing- und Kommunikationsdirektor von „Richmond 2015“, der Non-Profit-Organisation, die gegründet wurde, um die Bewerbung zu präsentieren und die Weltmeisterschaft zu organisieren. Sein Geschäftspartner ist Tim Miller, der als Geschäftsführer tätig ist und früher in Richmond die Sportmarketingfirma Shadetree betrieb, welche die eigentliche Trieb-feder hinter der Bewerbung war. Miller verließ Shadetree und baute Richmond 2015 vor der erfolgreichen Bewerbung auf, um den Anschein eines Interessenkonflikts zu vermeiden, da Darach McQuaid, der Bruder des damaligen UCI-Präsidenten Pat, Gesellschafter von Shade-tree war. Aber als die Weltmeisterschaft – zum Zeitpunkt des Besuchs von Procycling – nur noch 100 Tage entfernt war, dachten Kallman und seine Kollegen nur noch an den 20. September und den Beginn der Titelkämpfe.
 
Mark Cavendish hat die Art von Starqualitäten, die den Verkehr zum Erliegen bringen. Im wörtlichen Sinne, wenn man nach seinem Abstecher in die Stadt im Anschluss an die Kalifornien-Rundfahrt im Mai gehen kann. Richmond ist für ihn die beste Gelegenheit seit Kopenhagen, ein zweites Regenbogentrikot zu gewinnen, und er und der britische Auswahltrainer Rod Ellingworth – der ihn 2011 in Kopenhagen zum Sieg führte – wollten sich den Kurs selbst anschauen. Im Mai war er der hochkarätigste Fahrer, der hier eine Streckenerkundung machte, sodass die Organisatoren zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen konnten – den roten Teppich für einen der größten Stars im Radsport auszurollen und der Polizei die Möglichkeit zu geben, den Geleitschutz für die Fahrer zu proben. Da einige Abschnitte falsch herum in Einbahnstraßen hineinführen – darunter die potenziell rennentscheidende, ansteigende Governor Street kurz vor dem Ziel –, dürfte Cavendish sich ein besseres Bild gemacht haben als seine Rivalen (und Procycling), die sich im pulsierenden Verkehr in Downtown Richmond herumtreiben mussten. Das Straßenrennen der Männer beginnt auf dem Gelände der Universität von Richmond und rollt von dort sechs Kilometer bis zum Rundkurs. Von dieser kurzen Strecke abgesehen, findet das gesamte Straßenrennen auf der technisch anspruchsvollen 16,2-Kilometer-Runde im Stadtzentrum statt. die Strecke ist gespickt mit 23 rechtwinkeligen Kurven plus zwei Haarnadelkurven und weist auf den letzten vier Kilometern drei kurze, knackige Anstiege auf: die gepflasterten Rampen des Libby Hill Park und der 23rd Street sowie die Governor Street. Ursprünglich sollte die 23rd Street, eine 110 Meter lange Rampe mit 19 Prozent Steigung, die drei Kilometer vor dem Ziel beginnt, nur auf der Strecke der Männer liegen, aber nach Reaktionen von Fahrern und Verbänden wird sie bei allen Rennen der Männer und Frauen auf dem Programm stehen. Die Männer fahren 16 Runden plus sechs Kilometer Anfahrt und kommen so auf insgesamt 265 Kilometer (2.560 Höhenmeter), bei den Frauen ist es die Hälfte. Da die Rennen vom 20. bis zum 27. September stattfinden, sollte die drückende Hitze und hohe Luftfeuchtigkeit, mit der wir bei der Strecken-erkundung Anfang Juli zu kämpfen hatten, nachgelassen haben. King glaubt trotzdem, dass das Wetter auch zu dieser Jahreszeit noch eine Rolle spielen kann, zumal es oft heftige Nachmittagsgewitter gibt – zu einer Zeit, wo das Straßenrennen der Männer ins Finale gehen wird.
 
Der Kurs des Straßenrennens beginnt und endet vor dem Richmond Convention Center auf dem flachsten Stück des gesamten Rundkurses. Von dort geht es nach Westen auf die flache, gepflasterte Monument Avenue, an deren äußerstem Ende eine spektakuläre 180-Grad-Kurve wartet. Fünf 90-Grad-Kurven folgen, bevor es auf der North 2nd Street leicht bergab und dann mit einem scharfen Knick auf die East Main Street geht. Bei den letztjährigen US Collegiate Championships in der Stadt, die als Generalprobe für die Weltmeisterschaft dienten, führte das Rennen an diesem Punkt die gepflasterte und abschüssige East Cary Street herunter, aber es wurde beschlossen, sie zu eliminieren, weil sie wenig zum Rennen beitrug und bei Nässe gefährlich war. Dann wird der Kurs auf der Dock Street an der Bahnstrecke entlang flacher, bevor es fünf Kilometer vor dem Ziel mit einer 180-Grad-Kurve auf die East Main Street geht. Einen halben Kilometer weiter beginnt das Klettern – erst auf dem breiten Highway 60, dann auf dem schmaleren und steileren Libby Hill, dem ersten Kopfsteinpflasterabschnitt. Der Start dieses 300 Meter langen Anstiegs, der mit seiner Fan-Zone einer der beliebtesten Abschnitte der Strecke sein wird, beginnt mit einer 90-Grad-Rechtskurve, die – wie Ben King glaubt – bei jedem Durchgang einen Kampf um die vorderen Positionen auslösen wird.
 
Das Kopfsteinpflaster von Libby Hill ist zwar nicht mit dem Wald von Arenberg zu vergleichen, hat es aber durchaus in sich. Am besten fährt es sich in der Mitte der Straße, während das Pavé an den Rändern holprig und ausgefranst ist. Die richtige Position wird alles sein. Es warten weitere vier scharfe Kurven allein am Libby Hill, sodass die Teams Wert darauf legen werden, ihre Kapitäne vorne zu halten, vor allem in den letzten Runden. Kurz hinter der Kuppe folgt eine steile Abfahrt, die auf halber Strecke eine 90-Grad-Linkskurve beinhaltet. Dann geht es wieder auf die breite East Main Street, bevor es über eine scharfe Rechtskurve auf die schmale 23rd Street geht. Diese ist anfangs flach, dann beginnt der Anstieg an der Kreuzung mit der Franklin. Die Straße wird auf dem Pavé noch schmaler, ist nur rund fünf Meter breit. Links liegt ein Grasstreifen, der sehr beliebt bei den Fans sein wird, wenn er ihnen offensteht. Als wir den Anstieg inspizierten, wurde die frisch herausgeputzte Straße offiziell von Richmonds Bürgermeister Dwight Jones eingeweiht, wobei die Feierlichkeiten  auch dem örtlichen Radsport-Club an der Armstrong High School galten. Armstrong ist kein Name, der in den letzten Jahren einen guten Klang gehabt hätte, aber hier ist es etwas anderes: Mit dem Radsport soll Kindern aus ärmeren Bezirken eine Perspektive geboten werden. Auch mit dem Kopfsteinpflaster der 23. Straße hat man es gut gemeint. Während Vereine in Nordfrankreich und Belgien die Pavé-Straßen der Klassiker davor bewahren, mit Asphalt übergossen zu werden, war es schön zu sehen, dass hier eine Straße mit nagelneuem Kopfsteinpflaster versehen wurde.

 

Der Bürgermeister hat viel dazu beigetragen, die Weltmeisterschaft in die Stadt zu holen. Erst musste er ein bisschen überzeugt werden, aber als er einmal mit an Bord war, arbeitete er hinter den Kulissen hart, um die Stadt auf das Ereignis vorzubereiten. Er hat sogar die letzten vier Weltmeisterschaften in Europa besucht, um das Einmaleins einer Sportart zu lernen, von der er vorher – wie er zugibt – keine Ahnung hatte. Jetzt kann er es kaum abwarten. Die Austragung der Weltmeisterschaft steht auch für den Wiederaufstieg der Stadt. Noch 2005 galt Richmond als eine der gefährlichsten Städte der USA; ein Bewohner sagt uns, Schüsse hätten hier zur normalen Geräuschkulisse gehört. Aber die Stadt kämpft sich zurück und Gegenden wie Church Hill, wo man sich früher nachts nicht alleine hintraute, blühen wieder auf und bezaubern mit Bistros, Cafés und Restaurants. Die Titelkämpfe sind eine Gelegenheit, dies einer breiteren Öffentlichkeit zu zeigen. Die Stadt hat keine großen Sportvereine, weswegen ein humoristischer Slogan für die WM lautet: „Das größte Ereignis seit dem Bürgerkrieg.“

Schlüsselstelle des Rennens dürfte die 23rd Street sein. Die Position, mit der ein Fahrer in den Anstieg hineinfährt, dürfte er bis zur Kuppe halten. Wenn dort oben also jemand angreifen will – was sich angesichts der Abfahrt nach der 90-Grad-Kurve anbietet – dürften die Fahrer, die weiter hinten sind, das Nachsehen haben. Nach dem höchsten Punkt der 23rd Street bleiben auf der letzten Runde noch 2,5 Kilometer. Zwei weitere Kurven liegen in der Abfahrt zur Main Street – mittlerweile dürften die Fahrer sie kennen, nachdem sie 365 davon durchfahren haben. Es geht leicht bergan zur Kreuzung mit der Governor Street, die letzte Erhebung des Rundkurses, die auf 400 Metern 24 Höhenmeter gewinnt. Der Zeitung Richmond Times Dispatch sagte Cavendish, dass dieser Hügel für ihn und das Peloton schwerer sei als die Kopfsteinpflasterrampen, bei denen die Positionierung wichtig sei, die aber technisch weniger anspruchsvoll seien. Die Straße wird zur Kuppe hin flacher und es geht durch eine Linkskurve auf die 710 Meter lange Zielgerade. Sie führt leicht bergauf, was an sich keine Herausforderung ist, aber den Sprint schwerer machen könnte.
 
Das ist der Kurs, doch nach wessen Geschmack wird er sein und wie wird sich das Rennen entwickeln? Mögliche Szenarien gibt es viele, was das wichtigste Eintagesrennen des Jahres so spannend machen kann. „Das ist das Tolle an diesem Rundkurs – dass man nicht weiß, was man erwarten kann“, sagt King. „Es könnte etwas für die Sprinter sein, aber auch für einen aggressiven Fahrer, der früh angreift. Es hängt von den Teams ab und wer das Rennen kontrollieren kann.“ King glaubt, dass es am Ende eine kleine Gruppe unter sich ausmachen wird. „Es wird ein sehr körperliches, technisches Rennen. Fahrer wie Sagan, Cavendish und Greipel sollten die Selektion schaffen, weil sie gut auf Position fahren können. Wenn das Rennen zwei Runden vor Schluss schwer wird, könnten sich einige Fahrer früh absetzen. Jungs wie Terpstra und Van Avermaet werden nicht [auf den Sprint] warten.“ King rechnet auch fest damit, dass die Norweger, die für den Flandern-Rundfahrt-Sieger Alexander Kristoff fahren, ein Wörtchen mitreden können. Mark Cavendish hielt die Strecke in Richmond nach seiner Erkundung für nicht mehr so knifflig, wie sie auf dem Papier wirkt. „Es ist ein flüssiger Kurs. Da er im Stadtzentrum ist, war ich etwas besorgt, dass es viele Nadelöhre geben könnte, aber die Straßen sind breit und münden flüssig in die Kurven.“ Und was sagt der Sieger des Collegiate Road Race dazu? Griffin Easter, der seinerzeit für das Fort Lewis College fuhr und jetzt beim amerikanischen Continental-Team Airgas-Safeway ist, setzte sich im Mai letzten Jahres durch. Es war ein ganz anderes Rennen – mit 109 Kilometern viel kürzer und ohne die 23rd Street –, aber er glaubt, dass die Position auf den Pavé-Rampen wichtig sein wird. „Ich glaube, die Ausreißergruppen und entscheidenden Angriffe werden hier kommen. Es braucht nur ein Fahrer zu stürzen oder zum Stehen zu kommen und die Spitzengruppe ist weg. Am wichtigsten wird es sein, dafür zu sorgen, dass der Teamkapitän auf jeder dieser Kopfsteinpflasterrampen zusammen mit einem Teamkollegen unter den ersten zehn bis 15 Fahrern ist.“

Und wenn er vorhersagen soll, wie das Rennen aussieht, wenn es auf die Zielgerade geht? Ähnlich wie King tippt er auf „eine kleinere Gruppe mit 30 Fahrern. Ich glaube nicht, dass die Governor Street schwer genug ist, um die Sprinter, die im letzten Anstieg noch mit von der Partie sind, zurückzuwerfen. Ich tippe auf einen schnellen Klassiker-Spezialisten wie John Degenkolb.“ Das wäre ein Ausgang, der viele Proycling-Leser freuen würde. 



Cover Procycling Ausgabe 140

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 140.

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