Bradley Wiggins – seine größten Hits

Bradley Wiggins ist Großbritanniens größter Rennfahrer aller Zeiten und einer der vielseitigsten Athleten in der Geschichte des Radsports. Er hat mehrere Weltmeister- und Olympia-Titel auf der Bahn, ein Gelbes Trikot der Tour de France und einen Stundenweltrekord in seinem Palmarès. Procycling feiert die allerbesten Resultate mit Augenzeugenberichten von Autoren und Journalisten, die dabei waren.

 

Bahnweltmeisterschaften, Stuttgart, 31. Juli 2003
Das erste Bahn-Gold in der Elite
Von Jill Douglas, Moderatorin bei BBC Sport
 
Der Sommer 2003 war heiß. Gefährlich heiß in weiten Teilen Europas und unerträglich heiß in Stuttgart, der Stadt, die die Bahnweltmeisterschaft ausrichtete, welche wegen der Lungenseuche SARS vom chinesischen Shenzhen nach Deutschland verlegt worden war. Auf dem Parkplatz vor dem Stuttgarter Velodrom wurden die TV-Lkw der internationalen Fernsehsender regelmäßig mit Wasser abgespritzt, um sie bei Temperaturen über 40 Grad kühl und funktions-fähig zu halten. Es war mein erster Einsatz bei einer großen Radsportveranstaltung. Ich war in jenem Jahr von Sky zurück zur BBC gegangen und da Rugby mein Spezialgebiet war, freute ich mich darauf, mich mit dem Radsport – damals eine Sommersportart – zu beschäftigen. Bradley Wiggins war bereits Junioren-Weltmeister in der Verfolgung und hatte eine olympische Medaille in dieser Disziplin, als er in Deutschland ankam. Er wirkte selbstbewusst und hatte eine echte Präsenz. Und selbst für mein ungeübtes Auge hatte er eine schöne Haltung auf dem Rad. Je mehr ich über den Sport gelernt habe, umso mehr habe ich die Ästhetik zu schätzen gelernt. Er sah aus wie ein Champion; er brauchte bloß den Sieg, um das Bild zu vervollständigen. Wiggins hatte bereits eine Rivalität mit dem großen Verfolger Bradley McGee aufgebaut, der sein Teamkollege bei FDJ war. Aber der Australier trat in Stuttgart nicht an, und von dem Moment an, wo Wiggins die Bahn betrat, schien er das Heft in der Hand zu haben. Er fuhr in der Qualifikation mit 4:17 Minuten die schnellste Zeit, vier Sekunden schneller als der Australier Luke Roberts, der bei der Weltmeisterschaft 2002 Zweiter hinter McGee geworden war. Roberts war nach Stuttgart gekommen, um zu gewinnen, traf im Finale aber auf einen ebenso entschlossenen Wiggins. Der Brite hatte im Halbfinale keine Schwierigkeiten mit dem Russen Alexej Markow gehabt und sicherte sich dann – obwohl er nach halber Strecke zurücklag – seinen ersten Weltmeistertitel in der Elite mit einem souveränen Ritt in 4:18,576 Minuten – eine knappe Sekunde schneller als Roberts. Im kleinen mitgereisten Kontingent britischer Fans war auch Bradleys Freundin und heutige Ehefrau Cath, die ich auf ihrem Platz inmitten der Jubelszenen interviewte. Der Sieg war ein Durchbruch und das einzige britische Regenbogentrikot bei der Weltmeisterschaft. Zwei Tage später unterlagen die Mannschaftsverfolger, bestehend aus Wiggins, Rob Hayles, Bryan Steel und Paul Manning, den Australiern im Finale, aber wir freuten uns schon auf Athen und einen Showdown zwischen Wiggins und McGee.
 
 
Tour de France, Juli 2009
Verwandlung zum Rundfahrer
Von Daniel Friebe, Europa-Korrespondent, Procycling
 
Von einer plötzlichen Metamorphose zu sprechen, wäre falsch, denn in den drei Wochen der Tour de France 2009 waren abwechselnd der alte Bradley Wiggins und eine ganz neue Version von ihm zu sehen. Jahre später sollte Chris Froome bemerken, dass Wiggins ein superber Schauspieler sei und andere überzeugender verkörpere als sich selbst. In dieser Hinsicht leitete die Tour 2009 keine Transformation ein, sondern unterstrich die lebenslangen Züge eines unverbesserlichen Chamäleons: In einem Moment schrie er Fotografen an, die ihm hinter der Ziellinie in Andorra den Weg versperrten, im nächsten Moment attackierte er seinen alten Teamkollegen Mark Cavendish, dessen gemurmeltes „F**king Frenchies“ an einem Flughafen es in die Meldungsspalte der L’Équipe geschafft hatte. „Da kommt das Gründungsmitglied der Isle-of-Man-Gruppe des Ku Klux Klan!“, krähte Wiggins, als Cavendish vor dem Start der 12. Etappe am Garmin-Bus vorbeifuhr.
Wo Wiggins sich auf jeden Fall geändert hatte, war auf der Straße. Bei seinen zwei vorherigen Tour-Teilnahmen 2006 und 2007 hatte er die Desorientierung des Briten im Ausland gegen den mittlerweile tief sitzenden Defätismus seiner französischen Teamkollegen eingetauscht. Er war die Tour weniger im Rennmodus gefahren, sondern mehr durch sie hindurch gedriftet und hatte sich gefragt, ob und wie er dort hineinpasste. Aber irgendetwas hatte klick gemacht, als er die Bergetappen des Rennens 2008 mit dem britischen Bahn-Auswahltrainer Shane Sutton anschaute, während er sich auf Olympia in Peking vorbereitete, und Sutton ihm sagte: „Das könntest du auch.“ Wiggins musste sich erst überzeugen lassen, aber bald war der Plan aufgestellt, bis zum nächsten Grand Départ in Monaco zehn Kilo Oberkörper-Muskulatur und Fett loszuwerden. In Andorra kündigte sich die radikale Neuerfindung an, als Wiggins in erlesener Gesellschaft auf den zwölften Platz fuhr. Am zweiten Ruhetag war er schrecklich aufgeregt, als er die Fragen der Reporter beantwortete, und trotzdem behielt er in den Alpen und am Mont Ventoux die Nerven und sicherte sich einen vierten Gesamtplatz, den sich drei Wochen zuvor niemand hätte vorstellen können. Und ohne Armstrong hätte er natürlich auf dem Podium gestanden. „Ich sage nicht, dass ich in den nächsten vier Jahren die Tour de France gewinnen kann, aber kann ich die Vuelta gewinnen? Warum nicht?“, sagte Wiggins in Paris. Drei Jahre später ertönte „God Save The Queen“ auf den Champs-Élysées – der alte Bahnspezialist war ein neuer Rennfahrer geworden, wenn auch kein neuer Mann.

Stundenweltrekord in London, 7. Juni 2015
Wiggins pulverisiert den Stundenweltrekord
Von Edward Pickering, Redakteur, Procycling
 
Bradley Wiggins ist nicht unbedingt ein geselliger Mensch. Und dabei hat er diese unglaubliche Wirkung auf Leute. Ich war bei Bergankünften der Tour, Ziellinien der Weltmeisterschaft und auf dem Marktplatz in Geraardsbergen bei der Flandern-Rundfahrt, als ein belgischer Champion gewann, aber man kann die Atmosphäre und den Lärm dieser drei miteinander multiplizieren und es ist immer noch nicht vergleichbar mit dem, was ich hörte und fühlte, als Wiggins den Stundenweltrekord knackte. Es gab praktisch keine sportliche Spannung bei Wiggins’ „Stunde“. Wir wussten, dass er den Rekord brechen würde. Wir wussten, als sich sein Tempo auf 54,6 km/h eingependelt hatte, dass er ungefähr so weit fahren würde. Warum also die Aufregung? Warum war der Lärm im Lee Valley Cycling Centre noch lauter, wie einige sagten, als bei den Olympischen Spielen? Ich stand in der Mitte der Bahn am Ende von Wiggins’ Ritt und da stand ein Mann zwei Meter weiter, der Anfeuerungsrufe schrie. Die Sehnen an seinem Hals schwollen an, die Adern an seiner Stirn traten hervor, aber ich konnte seine Stimme nicht hören – sie ging im allgemeinen Getöse unter. Wiggins hat etwas an sich, das die Leute weit über den Radsport hinaus fasziniert. Bei den Puristen unter den Radsport-Fans ist er nicht universell beliebt, aber je weiter man das Netz auswirft, umso populärer wird er. Wiggins kann etwas schwierig sein. Er überspielt seine Nervosität in der Öffentlichkeit mit Witzeleien und derben Sprüchen. Vor großem Publikum ist seine Körpersprache schüchtern. Von Angesicht zu Angesicht ist er besser – wenn er niemanden beeindrucken muss, versucht er das auch nicht und ist ein nachdenklicher Redner, vor allem, wenn das Thema eine seiner Leidenschaften ist wie Radsport oder Musik. Aber wenn er nichts zu sagen hat, schweigt er. Ich saß einmal in einem Pub mit ihm, und statt einen Smalltalk zu halten, schnappte er sich eine Zeitung und fing an zu lesen, leckte sich gedankenverloren jedes Mal die Finger, wenn er eine Seite umblätterte, mit der Leichtigkeit eines entspannten Eigenbrötlers. Insgesamt ist er ein meist gelassener, Witze reißender und manchmal zu Gefühlsausbrüchen neigender Typ, wie dein Kumpel in der Kneipe oder dein Onkel. Der Stundenweltrekord war Wiggins’ letzte große Vereinigung mit dem britischen Publikum. Es gibt Weltmeisterschaften im selben Velodrom im nächsten Jahr, aber Wiggins wird dort ein Fahrer unter vielen sein. Es wurde viel diskutiert nach Wiggins’ Stunde, ob 54,526 Kilometer schlagbar sind, und das sind sie wahrscheinlich. Aber für mich war die Distanz das Uninteressanteste dabei. Als ich das schrieb, musste ich die Zahlen noch einmal nachschauen, aber an den tosenden Lärm in diesen letzten Minuten zu denken – das war es, wobei ich Gänsehaut bekam.

Berichte zu weiteren Meilensteinen in Wiggins’ Karriere in Procycling 08/2015



Cover Procycling Ausgabe 138

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 138.

Heft Bestellen