Auf der Jagd nach Grün

Alexander Kristoff geht als Favorit auf das Grüne Trikot in die Tour de France.  Seine Form spricht für ihn und der Norweger hat sich als formidabler Klassiker-Jäger erwiesen – doch kann er die Frühjahrserfolge im Hochsommer fortsetzen?

 

Als die Teams sich die Ankünfte der Tour in der ersten Woche anschauten, waren sie überrascht von der Vielfältigkeit der letzten Kilometer. Auf wenigstens drei Etappen kann der Wind von der Nordsee ins Spiel kommen, eine Etappe endet 500 Meter nach einem 850-Meter-Anstieg, der bis zu sieben Prozent steil ist. Warum machte man, wenn das Ziel war, die reinen Sprinter zu favorisieren, viele der designierten Flachetappen so kniffelig? Wenn Sie darüber nachdenken, wer die Nutznießer dieser Veränderungen sein könnten, klingt ein Name vielleicht länger nach als die anderen: Alexander Kristoff. Der Norweger war 2014 in der Punktewertung abgeschlagener Zweiter hinter Peter Sagan – mit einem massiven Rückstand von 149 Punkten –, aber Kristoffs fulminanter Start in das Jahr 2015 kontrastiert so stark mit den stotternden Sprints vieler Kontrahenten, dass der (zugegeben voreilige) Schluss naheliegt, er sei der Favorit für die Sprintankünfte. Marcel Kittel hat zu kämpfen, seit er sich auf dem Rückweg von der Tour Down Under erkältet hat, Peter Sagan steht offenbar unter zu hohem Erwartungsdruck und lediglich Mark Cavendish lässt seine Brillanz von 2013 und den Jahren davor gelegentlich aufblitzen. In der Tat hat Kristoff seit dem Ende der letztjährigen Tour nur dreimal gegen seine großen Rivalen im Massen-sprint verloren: gegen Cavendish bei Kuurne – Brüssel – Kuurne, gegen John Degenkolb bei Mailand – San Remo und gegen André Greipel bei Paris – Nizza. Rechnet man die Podiumsplatzierungen hinzu, scheint Kristoffs gegenwärtige Dominanz noch größer, obwohl es eine Reihe von Resultaten ist, die auch widerspiegelt, wie selten die Topsprinter aufeinandertreffen. Der Katusha-Fahrer dürfte daher in Utrecht mit viel Selbstvertrauen an den Start gehen.
 
Anfang April hatte der 27-Jährige sein größtes Saisonziel schon erreicht: den Sieg bei der Flandern-Rundfahrt. Alle anderen außer Degenkolb müssen in diesem Jahr noch etwas beweisen. Für Kristoff krönte Flandern eine bemerkenswerte Reihe von elf Siegen, die er mit drei Erfolgen in der Wüste von Katar im Februar eröffnet hatte. Unterwegs zeigte der Norweger die ganze Bandbreite seines Talents, am saubersten aufgegliedert bei den Drei Tagen von De Panne, wo er Sprintsiege in drei Disziplinen erzielte: aus einer kleinen Gruppe heraus, im Massensprint mit Zug und im Massensprint ganz allein. In Flandern, wo er seinen Fluchtbegleiter, mit dem er sich 28 Kilometer vor der Linie abgesetzt hatte, im Sprint schlug, unterstrich er die Eigenschaft, die ihn definiert: außergewöhnliche Ausdauer, gepaart mit bisher ungeahntem Ideenreichtum. Egal, wie die Würfel in der Punktewertung fallen, Kristoff geht mit dem meisten Schwung in diesen Wettbewerb. Nach Paris – Roubaix kehrte Kristoff in sein heimatliches Stavanger zurück und machte die Schotten dicht. Er trat bei keinem Rennen mehr an, bis am 20. Mai die Norwegen-Rundfahrt begann, rund fünf Wochen nach dem Ende der Kopfstein-Klassiker-Saison. Dort gewann er sofort wieder und holte sich zwei Etappensiege. Und dabei war er nur in einer Phase des Formaufbaus für die Tour. Doch das Grüne Trikot war nicht immer auf seinem Radar. Die Weltmeisterschaft in Richmond mit ihrem flämisch anmutenden Kurs ist ihm wichtiger, aber wie Kristoff Procycling Anfang des Jahres sagte, passen die Termine der Vuelta a España nicht in seinen penibel geplanten Trainingskalender. „Zuerst dachten wir daran, vielleicht die Vuelta zu fahren, aber jetzt, wo sie das Rennen eine Woche vorverlegt haben, ist es vielleicht ein bisschen schwerer, in Topform in die Weltmeisterschaft zu gehen“, erklärte er.
 
Also griff Kristoff wieder auf das Programm von 2014 zurück, was ihm eine Chance gibt, um das Grüne Trikot mitzufahren und seinen Kontostand von zwei Etappensiegen zu erhöhen. „Es wäre ein Traum, das Grüne Trikot einmal zu tragen“, sagte er. Und während er über seine Chancen speziell in diesem Jahr nicht reden wollte, war klar, dass er darüber nachgedacht hatte. Er stellte fest, dass er davon profitieren könnte, dass Peter Sagans Team sich auf das Gelbe Trikot konzentriert, und fragte sich laut, wie sich die Neuerungen im Punktesystem auf seine Chancen auswirken würden. „Es begünstigt die Fahrer, die viele Etappen gewinnen – dann sind da für Kittel oder Cavendish natürlich viele Punkte zu holen“,  sagte er. Solche Spekulationen sind untypisch für Kristoff, obwohl sie zeigen, dass er zum ersten Mal ernsthaft daran denkt, sich das Grüne Trikot zum Ziel zu setzen. Sein Trainer und Stiefvater Stijn Ørn erzählte, Kristoff denke ungern über Eventualitäten nach. Er überlege nicht, was seine Rivalen tun, oder stelle sich nicht vor, wie ein Rennen ausgehen könne. Stattdessen ist seine Methode näher an der eines Zeitfahrspezialisten: die Arbeit erledigen, dann den Lohn einstreichen – oder anders ausgedrückt: Wenn man sich um die Leistung kümmert, stellen sich die Resultate von alleine ein. „Wir arbeiten an einem Prozess“, sagte Ørn. „Der Punkt ist, seine Kapazitäten anzuheben, und die Folge einer besseren Leistung ist, dass du sowohl um Etappensiege als natürlich auch um das Grüne Trikot kämpfen kannst, aber das wird eine Folge davon sein. Der Fokus war nie, ein bestimmtes Resultat zu erzielen, sondern sich darauf zu konzentrieren, seine Kapazitäten zu erhöhen.“
 
Es hat sehr gut funktioniert für Kristoff – kein anderer Sprinter hat eine solch stählerne Ausdauer entwickelt wie der Norweger. Die allmähliche Akkumulation physiologischer Veränderungen, die ihn so stark macht, hat mehr als 15 Jahre ständiges Training erfordert: die zusätzlichen Kapillaren in seiner Beinmuskulatur zum Beispiel oder der hochgetunte Stoffwechsel, der auch auf sehr schnellen Etappen Fett verbrennt und das Glykogen für den Sprint aufhebt. Das unterscheidet ihn vom Rest der „Boy Racer“: Er hatte anfangs nicht die Dynamik von Cavendish 2007 oder die Wucht von Marcel Kittel 2011, sondern brauchte im Profi-Peloton fünf Jahre langsamen Wachstums, um seine Reife zu erreichen. Für einige, wie BMC, die seinen Vertrag  2012 nicht verlängerten, weil er nichts gewann, war seine Entwicklung zu langsam. Aber wie alle seine Sprint-Rivalen wird Kristoff mit der natürlichen Entschleunigung klarkommen müssen, die alle Sprinter eines Tages trifft. „Ich glaube, meine Kraft insgesamt ist ein kleines bisschen besser“, sagte er, „aber wenn wir nur über den Sprint reden, fühle ich mich sogar langsamer als mit 16 in Topform. Ich glaube, alle werden langsamer, wenn sie älter werden“, fügte er hinzu. „Sie werden in jungen Jahren schneller gemacht, dann werden sie stärker, wie André Greipel, und er kann immer noch Sprints gewinnen, die nur über pure Kraft laufen. Aber wenn es schwerere Rennen wie die Klassiker sind, gewinnen die älteren Fahrer sie normalerweise immer noch. So oder so, ich werde noch gut sprinten können, wenn ich älter werde.“

 

Weder Kristoff noch Ørn geben sich mit dem Erreichten zufrieden, denn sie wissen, dass die physiologische Entwicklung, die sich in den letzten beiden Jahren als so fruchtbar erwiesen hat, nicht mehr so viel bringen wird. „Ich denke, wir haben ein Niveau erreicht, wo die physischen Gewinne viel marginaler sind“, sagte Ørn, „aber wir können die Effektivität und seine Fähigkeit, kontinuierliches Training auszuhalten, noch verbessern. Du verbesserst eigentlich nicht so sehr deine Maximal-kapazität, sondern die Fähigkeit, die Leistung zu wiederholen“, erläuterte der Trainer. Und das heißt, dass Aerodynamik jetzt in den Fokus von Coach und Fahrer gerückt ist. „Alle konzentrieren sich auf die physischen Kapazitäten, aber wenn du 30 Watt einsparen kannst, ist das mehr, als 30 Watt durch Training zu gewinnen, weil du dann tatsächlich 30 Watt aufwenden musst“, erklärte Ørn. „Wenn du 30 Watt sparen kannst, hast du tatsächlich einen größeren  Vorteil.“ Im Winter und als die Saison schon begonnen hatte, Ende April, arbeiteten die beiden mit Drag2Zero im Windkanal des Mercedes-AMG-F1-Teams in Northamptonshire und tüftelten an seiner Position. Ørn zufolge machten sich einige Verbesserungen sofort bei der Katar-Rundfahrt bemerkbar, wo Kristoff sich nicht nur zum Angstgegner von Sagan entwickelte und ihn in jedem Sprint schlug, den sie austrugen, sondern „in der Spitzengruppe mit 450 Watt mitrollen konnte, während er sich letztes Jahr nicht einmal mit über 500 Watt in der ersten Gruppe halten konnte“. Als Kristoff im Zeitfahren bei den Drei Tagen von De Panne Dritter wurde, 18 Sekunden hinter dem Zeitfahrweltmeister Bradley Wiggins auf einem Kurs, der 400 Meter länger war als das Auftakt-Zeitfahren in Utrecht, schien sogar die entfernte Möglichkeit zu bestehen, dass Kristoff ins Gelbe Trikot schlüpft – wenn die Zeitgutschriften und vieles andere zusammenkommen. Aber wie immer bei Kristoff geht es wieder um den Prozess. Die Aerodynamik-Tests und das Zeitfahren bei De Panne deuten alle Kristoffs künftige Richtung an: eines Tages vielleicht kürzere Etappenrennen zu bestreiten. „Ich arbeite immer mindestens in Zwei-Jahres-Zyklen“, erklärte Ørn. „Wenn du bei kürzeren Rundfahrten gut abschneiden willst, musst du gut im Zeitfahren sein. Langfristig denken wir daran.“

Bei allen Klassiker-Erfolgen von Kristoff sind die Sprints bei großen Rundfahrten fast eine andere Disziplin: Sie sind normalerweise schneller und die Mannschaft ist ebenso wichtig, wird aber anders eingesetzt. Während Katusha bei der Tour mit Joaquim Rodríguez das Gesamtklassement anpeilt, wird das russische Team Kristoff jede Unterstützung zukommen lassen, nachdem er im April seinen Vertrag verlängert hat. Der Norweger sagte, sein Erfolg sorge für Zuversicht im Team und schmiede Bande der Loyalität und des Vertrauens, dass er die Ergebnisse liefern kann. „Sie glauben wirklich, dass ich gewinnen kann, weil ich es immer wieder gezeigt habe. Das gibt ihnen Moral. Als wir in Katar waren, hatte ich das Gefühl, dass das Team auf einem höheren Niveau war, und das liegt vielleicht daran, dass sie wissen, dass sie einen Kapitän haben, der gewinnen kann“, sagte Kristoff. Und wenn die generell höheren Geschwindigkeiten der Etappen explosiveren Rivalen besser liegen, scheint die Vielfalt der Finales ideal auf Kristoff zugeschnitten zu sein. Nach seinen Siegen in Katar ist er eine bewährte Kraft, wenn der Wind auf der 2. Etappe nach Zeeland und der 5. Etappe nach Amiens aufdrehen sollte. Die 4. Etappe bietet Kopfsteinpflaster, und wenn Kristoffs Bilanz bei Paris – Roubaix nicht ganz so sehenswert ist, ist dies ein Pavé-light-Parcours über 223,5 Kilometer, auf dem er seine Ausdauer ausspielen kann. Das schwere Finale auf der 6. Etappe nach Le Havre mit einem kurzen Anstieg, dessen Kuppe 500 Meter vor der Ziellinie liegt, ist im Bereich seiner Möglichkeiten. Seine Kletterbeine werden auf der 13. Etappe im Bergaufsprint in Rodez getestet, während sein Durchhaltevermögen und seine Kraft im Flachen – und die Wirkung besagter aerodynamischer Verbesserungen – bei den unkomplizierten Ankünften der Etappen 7, 15 und 21 geprüft werden, die den PS-starken Sprinter-Teams Giant-Alpecin und Etixx – Quick-Step liegen. Aber fürs Erste sind das Spekulationen, auf die er sich nicht einlassen will. Vielmehr wollen Kristoff und Katusha „sehen, wie diese Veränderungen sich auswirken, Punkte sammeln und nach einer Woche nachzählen und sehen, wie es läuft“. Es könnte das Rezept sein, das Kristoff schließlich sein erstes Grünes Trikot bringt.



Cover Procycling Ausgabe 137

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 137.

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