Mark Cavendish

Wenn er im Mai 30 Jahre alt wird, ist Mark Cavendish wohl schon der erfolgreichste Sprinter, den der Radsport je gesehen hat. Die Frage vor der Saison 2015 war, ob sich der Fahrer von der Isle of Man damit dem Ende seiner Karriere nähert oder ob ein neu aufgestelltes Etixx – Quick-Step-Team und die Rivalität mit einem gewissen Deutschen ihn zu ganz neuen Erfolgen anspornen kann. „Ich bin jetzt ein viel kompletterer Fahrer. Ich kann schwerere Rennen gewinnen. Ich kann jetzt klettern, richtig klettern“, sagt Cavendish.

 

Selbst in einer Karriere, die Mark Cavendish wie einen religiösen Kreuzzug führt, hat es Momente gegeben, wo der Fahrer von der Isle of Man und die Radsportgötter sich vor dem ungeheuren Ausmaß ihrer Aufgabe zu verneigen schienen. Als Cavendish im Januar 2007 bei T-Mobile Profi wurde, warf der Trainer des Teams, Sebastian Weber, einen Blick auf die Physis des neuen Rekruten, dann auf seine Wattzahlen und seufzte; Cavendish würde es nie zu etwas bringen, dachte er. Ein Teamkollege, der Spanier Vicente Reynes, dachte 2008, Cavendish müsse ein Günstling des Sponsors sein. Sowohl Weber als auch Reynes irrten sich – glücklicherweise sogar gewaltig –, aber das Gefühl, dass Cavendish der Tradition, der Logik und der Physiologie nur eine gewisse Zeit lang den Finger zeigen könne und dass früher oder später die Security einschreiten und den Eindringling rauswerfen würde, hielt sich, selbst als Rekorde und Rivalen purzelten.
Daher ist für Cavendish ein Hauch von Skepsis – oder sogar vorweggenommener Schadenfreude – unter den versammelten Reportern, die beim Trainingslager von Etixx – Quick-Step im Januar in Calpe mit ihm sprechen wollen, nichts Neues. Er durchforstet Foren oder Twitter vielleicht nicht mehr so wie einst, aber er weiß, dass Wölfe Blut riechen können. Auch wenn er die Saison 2014 mit zwölf Siegen abgeschlossen hat, konnte er zum ersten Mal seit 2008 keine „Grand Tour“-Etappe gewinnen und verlängerte eine ungebrochene Niederlagenserie in Sprints gegen Marcel Kittel, die 2011 begann.
 
Ein Pressetermin am Pool mit einem runden Dutzend internationaler Journalisten nimmt daher die Stimmung und den Tonfall einer Pattsituation an. Über den starren Blicken, einsilbigen Antworten und unangenehmen Momenten des Schweigens bleibt die einzige Frage, die wirklich zählt, unausgesprochen in der Luft hängen: Gehört Mark Cavendish, das dahergelaufene Wunderkind, das einst als bester und schnellster Sprinter aller Zeiten gefeiert wurde, mit 29 und dreiviertel Jahren wirklich schon zum alten Eisen? Jede andere Richtung der Nachfrage wäre reines Getue – und trotzdem traut sich keiner dorthin. Stattdessen signalisiert nach zehn unangenehmen Minuten für die Beteiligten ein kollektives, zerknirschtes Murmeln, dass alle ihren Job hier erledigt haben. Sollte Cavendish selbst glauben, dass er in den nächsten Jahren das ganze Mitgefühl braucht, das die Presse ihm geben kann – eine weiche Landung, um seinen Sinkflug zurück ins Sprinter-Fußvolk abzufedern –, so beginnt seine Charme-Offensive nicht in Calpe. Ein paar Minuten und ein paar Schlückchen Espresso später ist er in der relativen Ruhe der Hotelbar wieder gut aufgelegt. Das war sein bester Winter seit einigen Jahren, vielleicht seit 2008/2009. Spinnennetze aus blauen Adern malen sich schon unter seiner gebräunten Haut ab. „Ich bin ziemlich gut unterwegs“, ist alles, was er sagen muss. Cavendishs Manager Simon Bayliff sitzt ein paar Meter weiter und hört zu. Bayliff ist vor allem als Begleiter seines Klienten hier, aber auch er wird in den kommenden Wochen und Monaten wichtige Antworten suchen. Cavendishs Vertrag läuft, wie der ganze Radsport weiß, in dieser Saison aus, und der Unterschied zwischen einem guten und einem schlechten Start in die Saison 2015 könnte schließlich in Millionen Euro berechnet werden.

Ein guter Grund für ihn, bei Etixx – Quick-Step zu bleiben, ist die zunehmende Ähnlichkeit mit dem Team, bei dem er seine größten Erfolge feierte: Bob Stapletons Team Highroad. Gerade der Einfluss des früheren Highroad-Sportdirektors Rolf Aldag hat dazu beigetragen, den belgischen Rennstall von den Traditionen und Dogmen abzubringen, die sich anfangs nicht mit Cavendish vertrugen, als er 2013 zum Team kam. In der Mannschaft von 2013 waren 13 Belgier – seiner Meinung nach zu viele, die dem Kindheitstraum von Erfolgen bei den Kopfsteinpflaster-Klassikern, der Daseinsberechtigung des Teams, nachhingen. „Einige von ihnen würden lieber 17. bei Gent – Wevelgem werden, als sich für mich in Grund und Boden zu fahren und dann ein paar Kilometer vor dem Ziel die Beine hochnehmen“, sagte Cavendish damals. In den folgenden Monaten machte er den Etixx-Teamchef Patrick Lefevere darauf aufmerksam, dass das Team unausgewogen und vor allem überbesetzt mit Klassiker-Spezialisten war; Cavendish argumentierte, dass viele dieser Fahrer zu Beginn und in der Mitte von Rennen zum Einsatz kamen, für Aufgaben, die Männer mit einem viel breiteren Repertoire leicht ausführen konnten. Die Botschaft schien schließlich angekommen zu sein und es gab einige exzellente Ergebnisse: In der ersten Saison des Briten unter Lefevere feierte das Team 55 Siege mit zehn Fahrern, die insgesamt sieben Länder repräsentierten; im folgenden Jahr, dem vergangenen, verbuchten sie 62 Erfolge mit 18 Fahrern aus zehn verschiedenen Nationen. „Schau es dir an, in diesem Jahr haben wir fünf neue Fahrer, alle aus verschiedenen Ländern. Es wird wirklich wie HTC“, sagt  Cavendish uns in Calpe. „Wir haben das beste Material, den gleichen Fokus auf die Entwicklung junger Fahrer, Talentsucher … Es ist eine wirklich gute Atmosphäre. Das siehst du an der Anzahl der Rennen, die wir letztes Jahr gewonnen haben, und der Tatsache, dass über die Hälfte unserer Fahrer Rennen gewonnen hat. Das zeigt auch, dass es bei dem Team nicht nur um ein oder zwei Leute geht.

 

Die treibende Kraft hinter der „Highroadisierung“ von Etixx ist zweifellos Rolf Aldag. Nach der Auflösung des amerikanischen Teams Ende 2011 arbeitete der frühere T-Mobile-Fahrer ein Jahr für die World Triathlon Corporation, bevor er 2013 als technischer Verbindungsmann zwischen Specialized und dem damaligen Omega Pharma – Quick-Step anfing. Sein Aufgabenbereich wurde 2014 breiter, als er Sport- und Entwicklungsmanager des Teams wurde. Die zentralen Grundsätze des Highroad-Rezepts werden immer klarer: ein Fokus auf Talentsuche, verdeutlicht durch die Verpflichtung des früheren Mapei-, Lampre- und Saunier Duval-Sportdirektors Joxean Fernández Matxin einzig zu diesem Zweck; eine kosmopolitische Mannschaft – ein Faktor, den sowohl Aldag als auch Highroad-Eigentümer Bob Stapleton zur Verhinderung von Cliquen für wichtig hielten; eine Leidenschaft für die Entwicklung junger Fahrer; eine Lust auf neue Technologie. Auch wenn er Aldags Input – und den des ebenfalls von Highroad übrig gebliebenen Sportdirektors Brian Holm – anerkennt, versichert Lefevere uns, dass ein anderer Mann, Zdenek Bakala, mehr zur Transformation von Etixx – Quick-Step beigetragen hat. Der tschechische Milliardär kaufte sich 2010 mit 70 Prozent in Lefeveres Team ein, womit es sofort zu den finanzstarken Mannschaften gehörte. Als wir Lefevere an Cavendishs Probleme in der ersten Saison erinnern, räumt er ein, dass es eine Weile gedauert hat, dem Team eine neue Identität zu geben, und es bestehende Verträge zu erfüllen gab. „Es ist schön, in einem Drei-Sterne-Restaurant zu essen, aber dazu braucht man eine dicke Geldbörse“, grinst er. Er fügt hinzu: „Du kannst mit einem Budget von zehn Millionen Euro nicht an allen Fronten kämpfen, wenn Sky 30 Millionen hat. Aber als Bakala an Bord kam, habe ich in meinem Kopf einen Schalter umgelegt. Plötzlich konnte ich mir ein Team leisten, das von Januar bis Oktober Rennen gewann. Dann habe ich die richtigen Leuten geholt, um das zu erreichen: die Cavendishs, aber auch die Aldags, die Brian Holms …“ Lefevere erzählt uns, dass er mit Cavendishs ersten zwei Jahren beim Team ganz zufrieden sei. Die 36 Siege des Briten in dieser Zeit haben merkwürdig wenig Anerkennung gefunden. Aus zwei Gründen: erstens die stratosphärischen Maßstäbe, an die er uns bei Highroad gewöhnte; zweitens Kittels Überlegenheit in jüngster Zeit auf jener Bühne, die für Sprinter die größte ist: die Tour de France

 

Doch es ist klar, dass Cavendish seinem Etixx-Teamboss noch etwas beweisen muss – auf jeden Fall, wenn er weiter ein so üppiges Gehalt einstreichen will. Cavendish sagt uns in Calpe, er würde gerne „für drei weitere Jahre unterschreiben“. Und Lefevere würde ihn anscheinend auch gerne behalten – unter bestimmten Voraussetzungen und zu einem bestimmten Preis. „Jetzt brauchen wir noch nicht darüber zu reden“, sagt Lefevere. „Nach Gent – Wevelgem sehen wir weiter, dann noch einmal nach der Tour de France – denn das ist Marks Brotverdienst. Wenn Kittel ihn fünfmal schlägt, sieht es anders aus. Dann muss er mein Angebot vielleicht akzep-tieren … Wir mögen Mark hier alle. Er mag seine Teamkollegen, er ist großzügig zu ihnen und macht ihnen Geschenke, doch was zählt, ist, was er auf der Straße macht. Ich mag Champions, keine Pseudo-Champions.“ Es gibt einen Teil in Cavendish, dem es vielleicht bitter aufstößt, dass er sich beweisen muss – nach so vielen Lorbeeren, so vielen Erfolgen. Andererseits kennt er den Profiradsport gut genug, um zu wissen, dass es eine grausame Welt sein kann, eine, in der Gefühle und Loyalität weniger wichtig sind als die letzte Platzierung im Sprint. Das hat er bei Highroad lernen müssen, wo Stapleton ihn an einen langfristigen Vertrag band, den er an einem Ruhetag der Tour 2008 unterschrieben hatte, alleine, ohne Rücksprache mit einem Manager. Stapletons Weigerung, sein Gehalt zu erhöhen, als Cavendish in den folgenden drei Jahren seinen Marktwert verdoppelte, verdrei- und vervierfachte, führte schließlich zum kompletten Scheitern ihrer Beziehung. Man könnte auch sagen, dass es das Ende von Higroad vorwegnahm.
Aber das gehört alles der Vergangenheit an. Cavendish und seine Entourage wissen, dass die Verhandlungen mit Lefevere ein Selbstläufer sein werden, wenn er weiter gewinnt. Alle Parteien hofften, dass sein Sturz bei der letztjährigen Tour auf der 1. Etappe nach Harrogate eine Art Weckruf für ihn sein würde – und so war es. „Dadurch habe ich erkannt, dass ich die Tour nicht noch einmal verpassen will“, sagt Cavendish in Spanien über den Crash, den er sich anschließend „nur zwei Mal“ angeschaut haben will, bevor er ihn aus dem Gedächtnis löschte. Die Verletzungen hätten ihn leicht die ganze Saison 2014 außer Gefecht setzen können. Dass er bei der Tour de l’Ain im August wieder da war, dann zwei Wochen später bei der Tour du Poitou Charentes zwei Siege feierte, war teils, um Lefevere zu zeigen, aus welchem Holz er geschnitzt ist, und teils, um die Grundlagen für einen schnellen Start in die Saison 2015 zu legen.
Wenn er im Herbst noch mehr Motivation brauchte, so kam sie in Form der Bestätigung der Gerüchte, dass Mailand – San Remo wieder, wie Cavendish es nennt,  zu „seiner klassischen Route, der Route, mit der ich aufgewachsen bin“ zurückkehren würde. Kein Le Manie, keine Pompeiana – der Anstieg, der 2014 sein Debüt geben sollte, aber wegen eines Erdrutsches unpassierbar war – und einer Rückkehr zur Zielgeraden auf der Via Roma, die wegen logistischer Probleme nach 2007 gestrichen worden war. Nachdem er geglaubt hatte, seine letzte Chance mit einem erschöpften Sprint auf den fünften Platz im letzten Jahr verpasst zu haben, konnte Cavendish plötzlich wieder davon träumen, seinen Sieg von 2009 zu wiederholen. „Ich freue mich, dass sie es wieder geändert haben. Die Zielgerade auf der Via Roma ist näher am Fuß des Poggio, aber sie ist leichter, weil es weniger Kurven gibt“, sagt er. Cavendish glaubt, nie besser in der Lage gewesen zu sein, den schnellsten Rädern auf der Cipressa und dem Poggio zu folgen oder zumindest auf der jeweiligen Kuppe auf Sturzkampf-Distanz zu bleiben: „Ich bin jetzt ein viel kompletterer Fahrer. Ich kann schwerere Rennen gewinnen. Ich kann jetzt klettern, richtig klettern.“

Doch der Verdacht besteht, dass größere Vielseitigkeit und Ausdauer ihren Preis haben. Cavendish selbst sah die Veränderung schon 2008 voraus: „Ich bin einer dieser Sprinter, die eher auf schnelle Beine als auf Power angewiesen sind. Sprinter wie ich werden früher in ihrer Karriere langsamer.“ Dazu sprach der Brite auch von einer allmählichen Veränderung, die nicht physiologischer, sondern psychologischer Natur sei: „Viele Sprinter denken, wenn sie älter werden, mehr an die Folgen eines Sturzes – und machen bestimmte riskante Aktionen nicht. So etwas ist sehr, sehr selten. Viele Sprinter – Tom Boonen, Thor Hushovd – sind nur stark, wenn ihnen der Sprint gut angefahren wird. Aber Robbie McEwen und ich sind nicht stark; wir können uns im Wind nicht pushen. Wir müssen kämpfen und andere Mittel nutzen, andere Faktoren, was heißt, die besten Faktoren zu nutzen, um das beste Resultat zu holen. Das heißt, auf einen anderen Sprintzug aufzuspringen und den eigenen zu verlassen. Manchmal geht es schief, aber wenn du immer wieder wechselst, geht es die meiste Zeit gut.“

In den letzten drei Jahren, in denen Kittel Cavendishs Dominanz geschmälert und schließlich beendet hat, konnte man sich fragen, ob diese Phänomene Cavendish einen großen Dämpfer verpasst haben. Selbst er scheint diese Möglichkeit in Momenten zu erwägen, in denen er sich vorzustellen erlaubt, dass der Deutsche jetzt einfach unangreifbar ist, tief seufzt und über „den Zyklus des Lebens“ philosophiert. Doch eine Minute später reagiert er auf Fragen nach seinem deutschen Rivalen mit einer Knappheit, die nicht auf echte Abneigung, aber zumindest auf einen gewissen Ärger zurückzuführen ist. Wenn es irgendeinen Zweifel daran gibt, wie wichtig der Sieg immer noch für ihn ist, wie sehr er ihn immer noch will, brauchen wir uns nur sein vernichtendes Urteil über den Giant-Shimano-Anfahrer Tom Veelers anzuhören. Bei der letztjährigen Tour de France pries die niederländische Zeitung Algemeen Dagblad Veelers als „besten Anfahrer der Welt“. Seit einem Sturz auf den letzten Metern der Tour-Etappe nach Saint-Malo 2013 ist Cavendish anderer Meinung, die er auch lautstark äußert. „Ich kann Tom Veelers nicht ausstehen. Kann ihn nicht ausstehen“, brummt er. „Kittel, den mag ich. Ich respektiere ihn … Aber Veelers hat vor zwei Jahren diesen Sturz verursacht. Er fährt nicht einmal mehr den Sprint für Kittel an. Er hängt an seinem Hinterrad; er ist ein Ausputzer. Im letzten Jahr hat er Renshaw auf den Champs-Élysées am Arm gepackt, weil Mark versuchte, an Kittels Hinterrad zu kommen. Er glaubt, er hätte ein Recht, dort zu sein. Verdammter Idiot … Es war nicht mal ein Unfall [in Saint-Malo]. Er hat ihn verursacht und es dann mir in die Schuhe geschoben. Wenn er gesagt hätte, es war ein Unfall, in Ordnung. Aber er hat ihn verursacht und dann voll ausgeschlachtet. Darüber komme ich nicht hinweg.“ Wenn sie das hören, dürften die meisten Cavendish-Fans beruhigt sein. Die gleiche Sturheit, die gleiche Streitlust, die sein Geschimpfe immer befeuert hat, ist schließlich eine nahe Verwandte jener Leidenschaft, die mit dem Vorschlaghammer eine Schmerzgrenze durchbrechen kann. Bei Sky konnte Tim Kerrison, als er seine Wattzahlen sah, nicht glauben, dass Cavendish überhaupt fähig war, eine Tour de France zu Ende zu fahren. Rob Hayles, mit dem er vor zehn Jahren Weltmeister im Madison wurde und bis vor Kurzem im Training Motorpacing machte, sieht es ähnlich: „Seine Hartnäckigkeit ist ein Teil dessen, was ihn so gut macht. Wenn du siehst, was er im Training macht, und es vergleichst mit dem, was er bei Rennen macht, kannst du es nicht glauben …“ Aber kann das andauern? Sollen wir noch glauben, was Cavendish 2008 sage – dass „Leidenschaft der Kern von allem ist und Wissenschaft überhaupt kein Ersatz“?

 

Oder, anders herum, sollten wir uns Sorgen machen, dass die „Manx Missile“ die Methodologien, den  Vorsprung durch Technik, der Kittel und Giant-Alpecin jetzt antreibt, zu leichtfertig abtut? In Sachen Material ist er sehr wählerisch und anspruchsvoll, aber sein Trainingsplan kann immer noch bemerkenswert handgestrickt und ad hoc wirken. Während Kittel und sein Trainer Adriaan Helmantel intensiv mit Sprinttraining in der Höhe und sogar auf der Rennstrecke in Zandvoort experimentiert haben, hat Cavendish zurzeit gar keinen Coach und hält sich an keinen strukturierten Trainingsplan. Beim Etixx-Trainingslager im Winter geruhte er zum ersten Mal seit Jahren, sich einem VO2max-Test zu unterziehen – nur, um mittendrin abzusteigen. Der Test ist sinnlos“, sagt er uns in Spanien entschuldigend. Da würden einige seiner Bekannten sicher mit den Augen rollen. „Er hat immer recht, bis es zu spät ist“, bemerkt einer. Zumindest scheint Lefevere nichts dagegen zu haben: „Tom Boonen ist von Training und Tests auch nicht besessen. Mich interessiert nur, was bei den Rennen passiert, nicht im Training.“ Cavendish erzählt, dass es bei Gesprächen mit seinem früheren Mentor, dem Sky-Trainer Rod Ellingworth, jetzt um ihre jeweiligen Kinder gehe, teils auch wegen einer neuen UCI-Regel, wonach die Fahrer über Kontakte mit Mitarbeitern anderer Teams Buch führen müssen. Nach vier Niederlagen gegen Kittel bei der Tour 2013 hätte er vielleicht mit spezifischerem Sprinttraining experimentieren müssen, gibt er zu, aber für den Geschmack einiger Leute macht er immer noch zu wenig. „Vielleicht hat er 2014 etwas mehr gemacht als vorher und am Ende von Trainingsfahrten einen Sprint eingelegt“, sagt Hayles. „Ich weiß, dass er sich hin und wieder seine Höchstleistungen anschaut und sich ärgert, wenn sein Wattmessgerät nicht funktioniert, aber das ist alles. Ich weiß nicht, was er macht, wenn er mit dem Team unterwegs ist. Er kann auch einfach nicht dasselbe Training machen, das er vor acht Jahren gemacht hat, bei dem Lebensstil und der Verantwortung, die er jetzt hat. In der Saison, die er bei Sky war, war es erschreckend, wie viele andere Dinge er neben dem Radsport noch zu tun hatte …

Was alles alarmierend klingen könnte – wäre Cavendish nicht genau so rasant in die Saison gestartet, wie er es im letzten Herbst versprach. Eine kleine Änderung an seiner Saisonvorbereitung, die Teilnahme an den Sechstagerennen in Gent und Zürich, schien den gewünschten Effekt gehabt zu haben, das alte Muskelgedächtnis aus Bahnfahrer-Zeiten zu reaktivieren. „Ich fühle mich auf der Bahn mehr zu Hause als auf der Straße“, sagt er uns in Calpe. Sein überlegener Sieg in San Luis, zwei Etappen und die Gesamtwertung der Dubai Tour sowie ein Sieg bei der Clásica de Almería legen nahe, dass die Rückkehr auf die Bretter auch nennenswerte Fortschritte auf dem Asphalt gebracht haben. Aber in den nächsten Monaten werden wir vielleicht feststellen, dass es die wichtigsten Änderungen in seiner Mannschaft gegeben hat – oder zumindest an der Art, wie Cavendish sie nutzt. „Als er hier ankam, kannte er Iljo Keisse nicht, kannte Julien Vermote nicht, und jetzt sind sie die Jungs, die wirklich nützlich für ihn sein können“, sagt Lefevere. Die Sprint-Abteilung von Etixx ist auch gestärkt worden, würden Cavendish und Lefevere argumentieren, durch die Verpflichtung von Cavendishs gelegentlichem italienischen Trainingspartner Fabio Sabatini. Und durch den Weggang von Gert Steegmans und Alessandro Petacchi, die in den Jahren 2013 und 2014 beide fehl am Platze waren. Vor allem aber ist er jetzt bei Etixx etabliert genug, um seine Entscheidungen und seine Persönlichkeit durchzusetzen. „Im letzten Jahr war er wohl nicht selbstbewusst genug, um sich zu behaupten. Er hielt sich ziemlich bedeckt. In diesem Jahr sollte sich das ändern, und das Team könnte sein großer Vorteil werden“, sagt Hayles. Die meisten Experten würden einen entschlosseneren und engagierteren Etixx-Zug auf den letzten Kilometern der Rennen sicher lieber sehen. Oder, genauer gesagt, sie würden es lieber sehen, wenn der Zug zwei Kilometer vor dem Ziel explosiv und zielsicher in Aktion treten würde, ähnlich wie der von Giant-Alpecin. Als Cavendish uns sagt, dass Sprints wie 2007 als Neuprofi, wo er von Hinterrad zu Hinterrad schwirrte wie eine Biene zwischen Blumen, „jetzt einfach unmöglich sind, weil da so viele Züge sind“, erklärt er uns unbewusst auch, warum das stetige Crescendo seiner alten Highroad-Equipe nicht mehr funktionieren kann. Aber es gab Zeichen in den letzten Monaten und Wochen, dass Etixx endlich beginnt, mit der Zeit zu gehen. Generell hat Cavendish keine Option: Er hat die Wahl zwischen Evolution und Niedergang. Außerdem ist sein Ehrgeiz einer, der immer mehr mit Notwendigkeit als mit Wunsch zu tun hatte. Die nächsten Monate und Jahre werden zeigen, ob das so bleibt oder ob Reife und Familienleben zu einer Verschiebung der Prioritäten geführt haben. Fürs Erste sagt er lächelnd, dass er „nicht nur eine letzte Kirsche auf dem Kuchen, sondern eine ganze Tüte Kirschen und dann noch einen Kuchen“ haben will. Das würde wahrscheinlich noch einen Sieg bei Mailand – San Remo, die neun Tour-de-France-Etappen, die ihm fehlen, um den Rekord von Eddy Merckx einzustellen, ein zweites Regenbogentrikot in Katar 2016 und den ultimativen Triumph im Krieg mit Kittel abdecken. Die Debatte, wer der größte Sprinter aller Zeiten ist, wäre dann geklärt

 

Erst einmal wird Cavendish in zwei Monaten 30 Jahre alt und macht Witze über sein graues Haar und seinen bevorstehenden Zerfall, während er auch nüchtern über Veränderungen im Peloton in seiner achten Saison als Profi nachdenkt. „Ich war frech, als ich jünger war, aber ich hatte noch Respekt vor den Fahrern, die etwas erreicht haben. Jetzt gibt es keinen gentleman’s respect mehr …“ In solchen Momenten kann Cavendish sehr müde klingen, ganz anders als der draufgängerische Newcomer, der einst an etwas erinnerte, was Oasis-Gitarrist Noel Gallagher über seinen Bruder Liam sagte: „Er ist wie ein Mann mit einer Gabel in einer Welt voller Suppe.“ Der junge Mann hatte so viel Hunger und Durst, dass er immer einen Weg fand. Woraus folgt: Wenn er diese nicht verloren hat, ist es viel zu früh, um Mark Cavendish abzuschreiben.



Cover Procycling Ausgabe 136

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 136.

Heft Bestellen