Der letzte Kreuzzug

Sir Bradley Wiggins will zum Abschluss seiner bemerkenswerten Straßen-Karriere Paris – Roubaix gewinnen. Kann der vielseitige Sky-Fahrer, der die volle Unterstützung seines Teams hat, sich wieder einmal neu erfinden?

 

Nachdem es fast zehn Jahre lang unentdeckt im Internet geschlummert hatte, tauchte kurz nach Bradley Wiggins’ Tour-de-France-Sieg 2012 ein Video auf, das alles über seine Referenzen als Klassiker-Fahrer zu sagen schien. In dem Film lobt Wiggins’ damaliger Sportlicher Leiter bei La Française des Jeux, Martial Gayant, sein Cyclocross-Trainingslager als gute Schule für Radbeherrschung und Rennen bei schlechtem Wetter, als Wiggins seinen Auftritt hat: Hinter Gayants Schulter sehen wir drei Fahrer einen matschigen Weg in Richtung Kamera hinunterschlittern. Zwei von ihnen rollen geschmeidig an ihrem Sportdirektor vorbei, dann kullert ein dritter, Wiggins, wie im Comic in einen Graben. „Verdammt!“, flucht der Brite und haut frustriert auf den Boden. „Da haben wir einen Bahnfahrer“, lächelt Gayant in die Kamera. Wenn man Wiggins’ Sinn für Humor kennt – „très british“, wie Gayant zu sagen pflegte –, sieht es verdächtig nach einem inszenierten Missgeschick aus. Aber nur im Nachhinein. Damals hätte niemand auch nur einen einzigen Franc darauf gewettet, dass „Colonel Wiggo“ eines Tages mit Siegambitionen bei Paris – Roubaix antreten würde – am allerwenigsten Gayant oder sein Chef, der zweifache Paris – Roubaix-Sieger Marc Madiot. Doch seit über einem Jahr ist die „Hölle des Nordens“ Wiggins’ Obsession. Viele werden überrascht sein zu hören, dass er 2015 zum siebten Mal antritt. Erst 2006 erreichte er die legendäre Radrennbahn in Roubaix, nach Stürzen in den Jahren 2003 und 2004 und einem vorzeitigen Ausstieg 2005, weil die Geburt seines Kindes bevorstand. Er sollte das Rennen 2006 als 49. beenden (6:49 hinter dem Sieger Fabian Cancellara) und dann zwei Auflagen auslassen, bevor er 2009 auf einen soliden 25. Platz fuhr (6:32 hinter Tom Boonen).
 
Was Wiggins nie fehlte, war eine große Wertschätzung für den Mythos Roubaix. Noch vor ihrer ersten Begegnung mit dem gefürchteten Pavé schließen sich viele Fahrer Bernard Hinaults häufig zitiertem Urteil an, Paris – Roubaix sei ein „course de merde“ – ein „Scheißrennen“. Davon sind sie erst recht überzeugt, wenn sie feststellen, dass die Pflastersteine von Roubaix größer und gröber sind und mehr auf die Knochen gehen als alles, was man beispielsweise bei der Flandern-Rundfahrt antrifft. Aber als Wiggins aufwuchs, fantasierte er vom Wald von Arenberg, dem Carrefour de l’Arbre und Roubaix-Legenden wie Roger De Vlaeminck und Francesco Moser – wie jeder junge Connaisseur der Radsportgeschichte. Als Wiggins zu La Fran-çaise des Jeux kam, war Jacky Durand überrascht, dass ein englischer Neuprofi mehr über seinen Sieg bei der Flandern-Rundfahrt 1992 in Erinnerung hatte als Durand selbst – sogar die Beschaffenheit, Farbe und Riemen seiner Schuhe. Es sollte bis 2014 dauern, dass Wiggins ernsthaft darüber nachdachte, in die Reifenspuren der Titanen auf dem Pavé zu treten, über die er so viel gelesen hatte. Nach einer schwachen Saison 2013 abgeschrieben, erklärte er Roubaix zu seinem ersten Ziel des vergangenen Jahres. Zum Erstaunen fast aller Beobachter hätte er beinahe triumphiert. 6,2 Kilometer vor dem Ziel führte eine elfköpfige Gruppe, in der auch Wiggins war, an der Peripherie von Roubaix das Rennen an, als Niki Terpstra sich aus dem Staub machte. Wiggins war der Sky-Mann, der Terpstra bewachen sollte, aber ein Moment des Zögerns erwies sich als fatal. „Ich bin ein bisschen enttäuscht. Ich hatte wirklich die Beine, selbst im Finale fühlte ich mich stark. Ich habe mich selbst ein bisschen gezwickt, ich gebe es zu“, sagte Wiggins später, nachdem er Neunter geworden war.
 
Kann er den Jackpot 2015 knacken? Fabian Cancellara zum Beispiel schien ihm das vor einem Jahr nicht zuzutrauen und sagte trocken: „Alle sind willkommen, sogar Quintana.“ Aber wer Wiggins kennt und selbst gesehen hat, wie unbeirrbar er ein Ziel verfolgen kann, wird kaum Zweifel haben. Die Skeptiker könnte man zudem auf die phänomenale Leistung hinweisen, die er im letzten Herbst beim WM-Einzelzeitfahren ablieferte. Shane Sutton, Wiggins’ langjähriger Trainer, hält seinen Ritt in Ponferrada für seine beste Referenz im Vorfeld von Paris – Roubaix. „Ich habe immer gesagt, dass Paris – Roubaix ein sehr zeitfahrorientiertes Rennen ist“, sagt Sutton zu Procycling. „Wenn du Paris – Roubaix anschaust und den Wald von Arenberg nimmst, da siehst du keinen, der am Hinterrad fährt. Da kämpft jeder für sich, und Brad hat im letzten Jahr gezeigt, dass er darin der Beste in der Branche ist. Die Weltmeisterschaft im letzten Jahr hat auch unterstrichen, dass Brad, wenn er sich wirklich auf etwas konzentriert – so wie jetzt –, sein eigenes Ding machen und unglaublich methodisch sein kann. Jetzt hat er auch ein Team hinter sich – mit [dem Sportlichen Leiter] Servais Knaven, und sie ziehen alle Register. Sie haben die Strecke inspiziert und ihre Hausaufgabe gemacht. Ich kann mir nichts anderes vorstellen als einen guten Ausgang.“ Sutton weist zu Recht auf die Rolle von Knaven hin, der Paris – Roubaix 2001 gewann. Am Ende seiner Radsportkarriere im Jahr 2010 hatte der Holländer Raymond Impanis’ Rekord von 16 Starts eingestellt. Knaven, der Wiggins im vergangenen April vom Sky-Mannschaftswagen aus instruierte, hat im Dezember einen neuen Schlachtplan ausgearbeitet. Der designierte Kern des Sky-Klassiker-Teams – Luke Rowe, Ian Stannard, Bernard Eisel – begleitete Wiggins und Knaven auf ihrer ersten Streckeninspektion vor Weihnachten. Eine weitere folgte Anfang Februar, diesmal mit Christian Knees. „Es ist sehr wichtig, alle 19 Pavé-Sektoren hinter Denain zu kennen. Davor ändert sich der Kurs manchmal, aber nach Denain ist es immer dasselbe“, erklärt Knaven. „Wir versuchen sie mit verschiedenen Geschwindigkeiten zu fahren, weil du manchmal aus irgendeinem Grund Tempo rausnehmen und dabei im Sattel bleiben musst, und manchmal fährst du mit 50 km/h. Du musst beides beherrschen.“

 

Knaven muss ebenso wenig wie Sutton von Wiggins’ körperlicher Eignung für die Strapazen von Roubaix überzeugt werden. Was keiner der beiden und auch Wiggins nicht garantieren kann, ist das perfekte Zusammenspiel von guten Beinen, Taktik und – vor allem – Glück, das den meisten Veteranen zufolge unerlässlich ist, um aus der „Hölle“ ein Paradies zu machen. Aber Knaven ist überzeugt, dass man „dafür sorgen kann, dass man gute Karten hat“. Wie er uns im Februar sagte: „Das Wichtigste ist, wirklich gute Beine zu haben. Wenn du körperlich in Topform bist, reagierst du meist schneller: Die Fahrer, die den Crashs und den Stellen, wo man sich einen Plattfuß einfangen kann, aus dem Weg gehen, sind die Jungs mit den besten Beinen. Das sind auch diejenigen, die wieder zurückkommen, wenn sie tatsächlich stürzen oder ein mechanisches Problem haben sollten.“ Mit „guten Karten“ meint Knaven auch, all die marginalen Gewinne zu nutzen, die gleichbedeutend mit dem modus operandi des Teams Sky sind, das wohl mehr Ressourcen in die Optimierung des Materials und die Vorbereitung steckt als jedes andere Team im Peloton. Weitere Strecken-Erkundungen waren für das Frühjahr geplant, zusätzlich zu einem maßgeschneiderten Rennprogramm, das Wiggins’ Ausdauer und Pavé-Beherrschung verbessern soll: Omloop Het Nieuwsblad, E3 Harelbeke, Drei Tage von De Panne und die Flandern-Rundfahrt. Shane Sutton weiß, dass es nicht einfach wird, aber er weiß auch, wie gefährlich es ist, Wiggins abzuschreiben. „Vor zwei Jahren hat Sky einen Dokumentarfilm über Brad und die Tour gedreht, und da sage ich, dass ich glaube, dass er seine Chance verpasst hat, als er 2011 nicht gewann. Dann stand ich natürlich dumm da, als er im folgenden Jahr hinging und gewann. Wenn ich jetzt an Roubaix denke, wäre ich geneigt, das Gleiche zu sagen – dass letztes Jahr seine große Chance war –, aber hoffentlich macht er es wieder genauso und belehrt mich eines Besseren.“



Cover Procycling Ausgabe 134

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 134.

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