Beste Feinde

Vor 50 Jahren entfachte eine zutiefst italienische Rivalität die Liebe des Landes zum Radsport neu. Procycling spricht mit einem der Protagonisten und fragt, was hätte sein können.

 

Vor der Saison 1964 begann der italienische Radsport zu erstarren. Die Rivalität zwischen Coppi und Bartali war eine blasse Erinnerung, und ihre Nachfolger konnten nicht annähernd dieselbe Leidenschaft auslösen. Hinzu kam, dass Fahrräder damals aus der Mode waren; an ihre Stelle traten öffentliche Verkehrsmittel und Motorroller, zumal die Italiener mehr und mehr in die Städte zogen. Dann löste Fußball die Radrennen als Favorit der Nation ab und der Radsport dümpelte vor sich hin. Unser Gesprächspartner ist Gianni Motta, und das war, grob gesagt, der Kontext für sein Debüt als Profi. Er war ein enorm talentierter und eleganter Fahrer, und doch hatte seine Amateurkarriere polarisiert. Sie war nicht nur von seiner Brillanz, sondern auch von einer Dickköpfigkeit geprägt, mit der er im traditionsbewussten Italien aus dem Rahmen fiel. „Ich habe viele Rennen gewonnen“, sagt er uns, „und wurde gebeten, Italien beim Mannschaftszeitfahren bei der Weltmeisterschaft und bei der Friedensfahrt zu vertreten. Das wollte ich nicht, denn die meisten Fahrer, die dieses Programm absolviert hatten, waren verbraucht, als sie Profi wurden. Sehr wenige von ihnen haben es je geschafft, also lehnte ich ab. Ich war nicht besonders beliebt – zur Strafe wurde ich für das Straßenrennen übergangen –, aber ich wollte mich nicht verheizen lassen.“
 
Mit der Ablehnung der maglia azzurra outete sich Motta als Querdenker und brachte einen Großteil der konservativen italienischen Radsport-Hierarchie gegen sich auf. Gegen Ende seiner ersten Saison jedoch sollte seine Scharfsicht belohnt werden. Sechs Wochen nach seinem 21. Geburtstag schickte Molteni ihn in den Giro, um ihren Klassementfahrer Guido De Rosso zu unterstützen. Jacques Anquetil sicherte sich das Rosa Trikot, Motta jedoch wurde Fünfter und gewann die schwere vorletzte Etappe nach Biella in großer Manier. Endlich war ein echter italienischer fuoriclasse aufgetaucht. Unterdessen setzte der junge Italo Zilioli als Zweitplatzierter ein Ausrufezeichen, ein junger Mann aus der Toskana namens Franco Bitossi kletterte zu vier Etappensiegen und Michele Dancelli aus Brescia trug einen Tag das Rosa Trikot. Anquetil hatte sich durchgesetzt, doch endlich hatte eine neue, couragierte Generation italienischer Rennfahrer die Bühne betreten. „Ich hatte nach dem Giro eine Grippe, dennoch gewann ich im August die Coppa Bernocchi und den GP Molteni. Vor der Lombardei-Rundfahrt, meinem großen Ziel, lief es wirklich gut.“ Der Holländer Jo de Roo hatte die beiden vorausgegangenen Auflagen des Herbstklassikers für sich entschieden, während seit elf Jahren kein Italiener mehr Mailand?–?San Remo gewonnen hatte. Aber dieses Mal, auf dem hügeligsten und schwersten Lombardia-Kurs aller Zeiten, war Motta nicht zu stoppen. Auf dem Passo d’Intelvi, 60 Kilometer vor dem Ziel der 266 Kilometer langen Strecke, attackierte er. Nur der Brite Tom Simpson konnte ihm folgen – bis ihn Motta in Moltrasio, 20 Kilometer vor dem Ziel, einfach stehenließ. Beim Giro hatte er seine Rundfahrer-Qualitäten gezeigt, die Lombardia indes war ein Triumph seines einzigartigen Talents, das ihm in die Wiege gelegt war. Das italienische Publikum, das so lange auf einen solchen Sieg gewartet hatte, war hingerissen.
 
Während Gianni am Comer See die Besten der Welt schlug, verpasste ein anderer junger Italiener namens Felice Gimondi in Tokio Olympia-Gold. Er war sechs Monate älter als Motta und kam aus Bergamo jenseits der Adda, während Motta auf der linken Flussseite in Martesana lebte. Sie waren seit Jahren gegeneinander Rennen gefahren und die Besten ihrer Generation. Sie waren so unterschiedlich wie Tag und Nacht und ihre Rivalität war ebenso regional wie persönlich. Doch während Motta es nicht abwarten konnte, Profi zu werden, hatte sich Gimondi noch ein Jahr Zeit gelassen. Auf dem Weg nach Tokio hatte er die Tour de l’Avenir gewonnen und einen Vorvertrag mit Salvarani unterschrieben. „Felice und ich kannten uns gut. Wir waren zwei Hähne im selben Hühnerstall und beide extrem ehrgeizig. Er war kein Loser und riskierte Kopf und Kragen für einen Sieg. Er hatte wahrscheinlich mehr Mut als ich, aber ich glaube, ich hatte mehr Stil. Jedenfalls war meine Debüt-Saison ein großer Erfolg gewesen und plötzlich gab es eine neue Gruppe junger Italiener. Alle waren begeistert, dass Gimondi Profi wurde, und man hatte das Gefühl, dass es mit dem Radsport wieder bergauf ging.“
 
Mit 13 Kilometern und vier Prozent Steigung ist der Col des Mosses keine legendäre Passstraße und die Tour de Romandie wahrlich nicht das berühmteste aller Radrennen. Und doch sollte am 7. Mai 1965, als die Fahrer sich auf den Giro vorbereiteten, ein Zwischenfall auf diesem Anstieg eine profunde und nachhaltige Wirkung auf die Geschichte des Radsports haben. Gimondi, der beim Flèche Wallonne Zweiter geworden war, war im Profilager angekommen. Er trug das Grüne Trikot des Spitzenreiters, als Motta sich auf der Etappe nach Bassecourt aus dem Staub machte. Am Col des Mosses rammte ihn ein Pressewagen und rollte über sein linkes Bein. Er stieg wieder auf und beendete die Etappe, aber bis dahin war sein schmerzendes Knie so dick, dass an ein Weiterfahren nicht zu denken war. Es wäre besser, sagten sie ihm, sich vor dem Giro zehn Tage auszuruhen. „Man konnte zusehen, wie es anschwoll, und ich wusste, dass ich beim Giro auf keinen Fall dabei sein würde. Ich saß im Mai mit Gipsbein zu Hause. Vittorio Adorni gewann das Rennen für Salvarani und Gimondi war Dritter.“ Die Tour de Romandie kostete ihn einen Monat und wahrscheinlich eine maglia rosa. Er saß beim Midi-Libre wieder auf dem Rad (und gewann eine Etappe – er war dermaßen gut) und ging als Kapitän des kombinierten Molteni-Ignis-Teams in die Tour. Da Jacques Anquetil fehlte, rechnete man damit, dass Raymond Poulidor, Frankreichs „ewiger Zweiter“, endlich in Paris Gelb tragen würde. Nur dass er das nicht tat. Gimondi, der bei Salvarani als gregario für Adorni arbeiten sollte, versprach, zehn Tage dabeizubleiben und dann abzureisen. Das Problem war, dass er nicht zu stoppen war und nicht anders konnte. Er war auf der 2. Etappe in der Ausreißergruppe und am folgenden Tag wieder. So fuhr er ins Gelbe Trikot und sah sich nun verpflichtet, es bis nach Paris zu verteidigen. Gimondi, der sehr italienische Junge von nebenan, hatte eine großartige Tour de France gewonnen, der erste italienische Sieg seit sieben Jahren. Er war Poulidor in die Parade gefahren und das italienische Publikum mochte nichts lieber als einen geschlagenen Franzosen. Unterdessen rundete Motta, der charismatische Steve-McQueen-Doppelgänger, das Podium „auf einem Bein“ ab.
 
„Wir werden es nie wissen, aber ich bin überzeugt, dass ich das eine oder andere gewonnen hätte, wäre das bei der Romandie nicht passiert. Es ist realistisch: Wenn du dir meine Zeiten anschaust, hätte ich die Tour de France gewonnen.“ Gimondis Sieg war ein Glücksfall für den italienischen Radsport, ebenso wie die Rivalität zwischen den beiden. Auch wenn sie es herunterspielen wollten, war ihre Feindschaft echt und für alle erkennbar. Egal, wie man es verpackt, ist gegenseitiger Antagonismus der größte Magnet in dieser und anderen Sportarten und ihrer kurbelte das Interesse gewaltig an. Statt ins Abseits zu geraten, war der Radsport wieder im Kommen. Die Fans liebten Bitossi und den neuen Landesmeister Dancelli, doch richtig am Knistern war anderswo. Motta und Gimondi?… Am 17. April 1966 lieferte Gimondi eine unglaubliche Leistung ab. An einem verregneten Nachmittag fuhr er bei Paris?–Roubaix allen davon und gewann mit über vier Minuten Vorsprung. Bei der Tour de Romandie hingegen, dem letzten Zwischenstopp, ließ Motta seine Klasse aufblitzen. Auf dem Weg nach Lausanne schüttelte er Bitossi, Gimondi und Adorni ab, der Albtraum des Vorjahres war vertrieben.
 
Der Giro d’Italia 1966 wurde mit so viel Spannung erwartet wie seit zehn Jahren nicht mehr. Motta und Gimondi waren 23, sehr talentiert und ambitioniert. Zilioli, mittlerweile zweimal Zweiter, war mit 24 fast schon ein Veteran, Bitossi eine Gefahr, wenn er drei Wochen am Stück solide fuhr. Ansonsten musste man Balmamion und Adorni, beides frühere Sieger, auf der Rechnung haben. Doch sie und der Rest mussten ein bisher unlösbares Problem überwinden: Jacques Anquetil trat wieder beim Giro d’Italia an. Mittlerweile war der Normanne 32, doch nichts wies darauf hin, dass sein Stern zu sinken begann. Die italienische Presse hatte den Gimondi-Motta-Showdown genüsslich hochgeschrieben, doch nun kam ein Mann, der fünf Frankreich–Rundfahrten und zwei Giri gewonnen hatte. Anquetil war nicht Poulidor, der langen Rede kurzer Sinn: Er hatte seit vier Jahren keine große Rundfahrt mehr verloren.
 
„Ehrlich gesagt habe ich gar nicht darüber nachgedacht“, sagt Motta uns. „Ich war 23, ich war es gewohnt zu gewinnen und rechnete damit zu gewinnen. In dem Alter verstehst du die langfristigen Implikationen dessen, was du tust, nicht richtig. Im Rückblick erkenne ich Anquetils Größe natürlich an, aber als junger Rennfahrer bist du so nicht programmiert. Was mich angeht, so wollte ich den Giro d’Italia gewinnen und er war einer der Fahrer, den ich schlagen musste, um das zu tun.“ Nach jahrelanger Durststrecke sollte der Giro 1966 vielleicht mehr als jeder andere die Entwicklung des Rennens bestimmen. Anquetil, der auf einer harmlosen Abfahrt zurückfiel, brachte es fertig, auf der Eröffnungsetappe drei Minuten zu verlieren. Einige sagten, er hätte verdorbene Schnecken gegessen, andere mutmaßten, er hätte es mit dem Champagner übertrieben, wieder andere behaupteten, er hätte die maglia rosa an Salvarani verkauft. Diese Meinung vertrat vor allem Marcello Mugnaini, der im Vorjahr Vierter geworden war. Er hatte in der Anquetil-Gruppe gesteckt und der Franzose hatte kein Tempo gemacht. Die Tour stand bevor, räsonierte er, und er hatte einfach den Giro gegen Adornis und Gimondis Hilfe beim Showdown gegen Poulidor getauscht. So oder so – da nur ein 46 Kilometer langes Zeitfahren auf dem Programm stand, würde Anquetil keinen dritten Giro gewinnen. Als Julio Jiménez, sein spanischer Berghelfer, am Tag darauf das Trikot übernahm, schien Anquetil die Rolle des Super-Domestiken zu übernehmen.
 
Zwei Tage später führte der Giro bei starkem Rückenwind gen Norden nach Genua. Mit nur 120 Kilometer Länge sollte die Etappe eine sichere Beute für die Sprinter sein, viel Lärm um nichts. Außer dass Gimondi, der jetzt als Favorit galt, in einem Tunnel in Finale Ligure einen Reifenschaden hatte. Während Salvarani im Dunkeln herumwerkelte, griffen Motta und Anquetil an. 24 Mann legten ein Teamzeitfahren hin und fuhren in einer Straßenetappen-Rekordgeschwindigkeit von 48,828 km/h nach Genua. Gimondi verlor 1:36 Minuten. „Natürlich fand Salvarani das nicht toll, aber so ist das nun mal im Radsport“, sagt Motta. „Sie hatten einen Fehler gemacht und Ford-France hatte das Trikot. Jiménez und Anquetil mussten Zeit rausfahren und ich genauso. Da war kein Mysterium, das ist einfach Radsport?…“  Die Episode sollte die Initialzündung für einen der spannendsten und umkämpftesten Giri aller Zeiten sein. Motta entriss Adorni auf der 15. Etappe das Trikot und glänzte dann in den Dolomiten. Er machte auf der 19. Etappe alles klar, während Jiménez schließlich einbrach. Das Ergebnis war, dass Italien mit ihm und Gimondi zwei neue Superstars hatte. „Das Publikum konnte nicht genug davon bekommen“, erinnert sich Motta. Der Radsport kam wieder in Mode – als würden sich die Leute daran erinnern, wie sehr sie den Sport liebten.

 

Motta hatte dem italienischen Radsport einen großen Gefallen getan. Jeder kannte ihn und die Rivalität mit Gimondi versprach Spannung für die nächsten Jahre. Leider sollte es nicht sein. Motta startete mit einem Sieg bei Mailand?–?Turin in die Saison 1967, bevor ein junger Belgier namens Eddy Merckx ihn in San Remo im Sprint abservierte. Er ging als Mitfavorit neben Gimondi und Anquetil in den Giro, wurde aber nur abgeschlagener Sechster, während eine Koalition italienischer Teams dafür sorgte, dass die maglia rosa nicht nach Frankreich ging. Gimondi trug in Mailand das Rosa Trikot – und damit begann Mottas Niedergang. „Ich gewann die Tour de Suisse, aber mir tat jedes Mal das Bein weh, wenn ich fuhr. Ich wusste es nicht, doch der Sturz bei der Tour de Romandie hatte eine meiner Arterien zerquetscht. Sie begann zu verkalken und schmerzte manchmal höllisch. Sie sagten mir später, dass ich bei jedem Rennen, das ich gefahren war, mein Leben riskiert hatte.“ Motta tat alles, um die Schmerzen in den Griff zu bekommen und wieder der Alte zu werden: neue Trainingsmethoden, obskure Diäten, Homöopathie und eine Weile sogar einen ominösen Heiler. All das brachte nicht viel; erst 1970, fünf Jahre nach dem Unfall, wurde die wahre Ursache für die Schmerzen gefunden. Er ließ sich operieren, doch mittlerweile hatten die permanenten Beschwerden ihm die Lust am Radsport genommen. „Die Leute sagten, ich hätte kein Interesse und würde nicht trainieren wie ein Profi. Das stimmte teilweise, denn wenn es beim Fahren jedes Mal wehtut, verlierst du den Enthusiasmus. Als sie mich operierten, war ich eigentlich nur noch Teilzeit-Fahrer, weil ich hier in der Gegend ein paar Geschäfte aufgemacht hatte. Mein Marketingwert war immer noch hoch, aber wenn ich ehrlich bin, glaubte ich schon lange nicht mehr, dass ich den Giro noch einmal gewinnen konnte. Ich war nicht mehr der Fahrer, der ich einmal gewesen war, sondern war drei Jahre lang mit einem Bein gefahren.“
 
Motta sollte bis 1974 weitermachen. Er sollte von Zeit zu Zeit glänzen und seine Star-Qualtäten sorgten dafür, dass der Sport ihm einiges einbrachte. Doch er ist auch ehrlich genug zuzugeben, dass er nur ein Schatten des Fahrers von einst war und dass Gimondi, nicht er, der Liebling der Italiener geworden war. Trotzdem war – und ist – sein Wert für den italienischen Radsport – unermesslich. Und die Rivalität mit Gimondi? War sie so erbittert, wie sie uns glauben machten? „Sie passte den Medien und ich glaube, sie passte uns. Sie war gut für den Sport, aber ich kann dir versichern, sie war sehr real. Wir lachen heute darüber, doch wenn ich ehrlich bin, ist sie nie verschwunden. Wir machten das Spiel mit, aber ich spüre es noch in meinem Inneren. Ich bin überzeugt, dass er und ich immer Rivalen sein werden.“



Cover Procycling Ausgabe 132

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 132.

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