Mister Grand Tour

Mit der Vuelta a España hat Adam Hansen seine zehnte große Rundfahrt in Folge absolviert. Und zwar mit Stil – er gewann zwei Etappen in selbst entworfenen Schuhen und gönnte sich in den Bergen ein Bierchen. Procycling hat ihn in Jerez de la Frontera getroffen.

 

Adam Hansen, der Schuhe entwerfende und Computer programmierende Lotto-Belisol-Fahrer, beugt sich über den Tisch und sagt uns voller Enthusiasmus und Leidenschaft: „Ja, ich liebe Training!“ Training? Wirklich? Als die Vuelta a España 2014, bei der er die 19. Etappe gewann, Geschichte und Hansen nach Hause in die Tschechische Republik geflogen war, er die Länge des Rasens in seinem Garten überprüft, sein Immobilien-Portfolio durchgesehen und sich um sein junges Bekleidungs-Business gekümmert hatte, muss er sich zurückgelehnt und darüber nachgedacht haben, dass er gerade seinen „zehnten Krieg“, seine zehnte große Rundfahrt in Serie, hinter sich gebracht hatte. Er mag trainieren müssen, aber warum sollte er das lieben? Das ist das Ding bei Hansen. Hinter dem entspannten Äußeren ist sein Kopf am Schwirren und die Ideen überschlagen sich. Ideen zu allem – meistens Radsport, aber auch andere Dinge. Er verschlingt wissenschaftliche Artikel über Training und Ernährung und programmiert Computer zum Spaß. Der Tag ist nicht lang genug, um alles zu erledigen, aber er schläft auch wenig, sodass er da wenigstens etwas Zeit herausholen kann. Nach einer Weile hat man den Eindruck, dass sein Kopf nie stillsteht. Und das ist ein Grund dafür, warum er so viele Rennen fährt – so kann er sich mental entspannen, sich von der Einfachheit der Routine und der tiefen körperlichen Erschöpfung einer großen Rundfahrt durchspülen lassen, um die Synapsen zu beruhigen.

Der 33-Jährige ist eine ziemlich seltene Spezies: ein Domestike mit einem öffentlichen Profil. Er ist ein Liebling der Fans, was nicht überrascht angesichts des Biers, das er auf Bergetappen gegen Ende einer Rundfahrt gerne von ihnen annimmt (obwohl er fast nur Tee trinkt), der Radschuhe, die er entwickelt und herstellt, sowie der gelegentlichen Q&A-Sessions, die er seinen Fans auf Twitter bietet. Vielleicht hat er sogar Kultstatus erlangt, obwohl man das Gefühl hat, dass der Australier vor diesem Begriff zurückschrecken würde. Immerhin war er der Fahrer, der sich auf dem Siegerpodest „unwohl“ fühlte, nachdem er die epische 7. Etappe des Giro 2013 im Dauerregen als Solist gewonnen hatte. Statt den Applaus für seinen einzigen Saisonsieg – und seinen ersten seit der Ster Elektrotoer 2010 –, einen der besten Momente seiner mittlerweile zwölf Jahre umfassenden Karriere, auszukosten, sagte er: „Ich mag es nicht, vor all diesen Leuten zu stehen und auf sie herabzuschauen! Das ist nicht mein Ding, und ich fühlte mich ein bisschen unwohl.“ Die übliche Medienarbeit würde er lieber seinen Kapitänen wie André Greipel, in dessen Sprintzug er der Schlagbolzen ist, oder Jurgen Van Den Broeck überlassen, den er außer im Hochgebirge auf fast allen Etappen unermüdlich unterstützt hat.

Indem er die Vuelta absolvierte, ist Hansen einen Schritt näher an den Rekord an hintereinander absolvierten großen Rundfahrten herangekommen. Dieser steht bei zwölf und wird von Bernardo Ruiz gehalten, der diese bemerkenswerte Serie von 1954 bis 1958 hinlegte und als erster Spanier auf dem Podest der Tour stand. Allerdings hat Hansen sich nie vorgenommen, den Rekord zu brechen. 2012, als er die vorangegangene Vuelta und einen mit Verletzungen bestrittenen Giro hinter sich hatte, wusste er nicht einmal, dass es einen gibt. Als er das Team bat, ihn in die Vorauswahl für die Vuelta 2012 zu nehmen, dachten sie, er würde Witze machen. Als er noch einmal darum bat und sie nachgaben, wurde er der einzige Fahrer, der in dem Jahr alle dreiwöchigen Rundfahrten absolvierte – eine Serie, die er 2013 wiederholte und in diesem Jahr wieder. „Ich werde weiter große Rundfahrten fahren, solange ich kann, aber ich habe es auf keinen Rekord abgesehen“, sagte er zu Procycling am Vorabend des Vuelta-Starts in Jerez de la Frontera. „Ich hätte nie gedacht, dass es möglich ist, vor allem wegen der Gefahr eines Sturzes. Die Wahrscheinlichkeit, bei einer großen Rundfahrt deswegen aufgeben zu müssen, ist sehr hoch.“

Hansen folgt der Philosophie, alle Register zu ziehen, um eine Etappe zu Ende zu fahren, mit gebrochenen Knochen oder nicht. So fuhr er den größten Teil der 1. Etappe der Tour 2010 mit gebrochenem Schlüsselbein. Er schaffte es ins Ziel, ging bei der 2. Etappe aber nicht mehr an den Start. „Ich versuche immer, die Etappen zu Ende zu fahren, denn du weißt nie. Manchmal fühlst du dich anfangs schlecht, doch dann lässt du dich röntgen und alles ist in Ordnung.“ Trotzdem muss die Frage gestellt werden: Warum? Warum sollte man sich einer hohen Verletzungsgefahr aussetzen? Warum sollte man sich mit schlechtem Wetter abfinden? Warum sollte man so viel Zeit auf der Straße verbringen und sich den Stress antun, wochenlang mit denselben Leute auf engstem Raum zu leben? Hansen ist liebenswert und entspannt, aber selbst ihn müssen die natürlichen Spannungen, die auftreten, doch ermüden. Vielleicht geht es zurück auf eine wilde Fahrt, als er sowohl Computerprogrammierer als auch Amateurrennfahrer war und nur mit Kreditkarte, Zahnbürste und Shorts bewaffnet von Cairns, wo er zu Hause war, nach Brisbane und zurück fuhr – rund 2.200 Kilometer pro Strecke. Er fuhr mit einem guten Freund; für den Hinweg brauchten sie sieben Tage, für den Rückweg nur fünf. „Das haben wir gemacht, weil es eine Art Scherz zwischen uns war“, erklärte er. „Dann sprach es sich herum, dass wir es machen wollten, und dann mussten wir es wirklich machen.“ Die Motivation scheint nie ein Problem gewesen zu sein.

Zurück zur Gegenwart. Zum einen glaubt Hansen, dass große Rundfahrten ihn zu einem besseren Fahrer machen, was dem heutigen Trend widerspricht, mehr zu trainieren und weniger Rennen zu fahren. „Was ich weiß, vor allem in diesem Jahr“, sagt Hansen, „ist, dass meine Leistungen bei jedem Rennen, das ich fahre, sehr beständig sind. Und ich weiß, dass die Sportlichen Leiter sehr zufrieden sind, weil sie sich bei jedem einzelnen Rennen, das ich bestreite, auf mich verlassen können.“ Bei allem Trubel und Medieninteresse, das eine große Rundfahrt begleitet, lässt die tägliche Routine Hansen sogar noch Raum, sich zu entspannen. „Sobald ich am Flughafen bin, mein Ticket habe und durch die Sicherheitskontrolle gehe, ist es, als würde eine große Last von mir abfallen, weil ich mich nur noch auf das Rennen zu konzentrieren brauche. Für mich ist das bei den Rennen mehr ein physisches Ding und eine mentale Entspannung. Jedes Mal, wenn du eine große Rundfahrt beendet hast, ist es … Naja, ich war nie im Krieg, aber ich kann mir vorstellen, wie es ist, wenn du von einem Krieg nach Hause kommst … Es ist, als ob du es überlebt hättest und nach Hause gehen und dich erholen kannst.“

Teamkollegen scherzen, dass Hansen nur neun Rennen pro Saison fährt. Sie irren sich. 2012 bestritt er zwar nur 13 Rennen, legte aber fast 16.000 Kilometer in der WorldTour zurück. Kein anderer Fahrer hat ein solches Pensum auf höchstem Niveau abgespult. 2013 und 2014 war das Szenario ähnlich. Und obwohl die großen Rundfahrten wie dicke Säulen in seiner Saison stehen, kann Hansen in den Zwischenzeiten seine anderen Leben fortsetzen – die Computer, die Immobilien, die Bekleidung, aber vor allem das Training. Sein Team lässt ihm freie Hand, seinen eigenen Weg zu gehen. „Wenn ich das Logistikprogramm nicht lesen würde, wüsste ich nicht, welche Rennen ich als Nächstes fahre“, sagt er. „Nicht einer vom Team hat mich seit der Tour angerufen. Das kann schlecht sein, aber auch gut. Sie wissen, dass ich in guter Form zur Vuelta komme, genauso wie sie wissen, dass sie sich bei jedem Rennen, das ich fahre, auf mich verlassen können.“

Wie die Freiheit, an drei großen Rundfahrten teilzunehmen, hat er sich das Vertrauen erworben, zwischen den Rennen alleine zu arbeiten. „Als Rennfahrer bist du ein unabhängiger Arbeiter“, wie er es ausdrückt. „Es ist hart, weil du raus musst und es alleine machen musst. Aber es ist auch sehr schön, die Zeit fürs Training zu haben – und die Freiheit, zu tun, was du willst, wenn du es willst.“ Zum Glück für Hansen und die Mannschaft ist es die intellektuelle Seite des Trainings, die ihn anfeuert – und die Ideen kommen von überall her. Er ist fasziniert davon, welche neuen Trainingsmethoden oder Prozesse andere Teams zu den Rennen mitbringen, aber vor allem liebt er es, sich neue Ideen anzulesen und mit ihnen zu experimentieren.

 

„Das Schöne an meinem Sport und diesem Rennprogramm ist, dass ich viermal im Jahr vierwöchige Blocks habe, wo ich diese Methoden ausprobieren kann“, sagt er. „Ich kann eine ganze Woche lang freimachen und dann drei perfekte Trainingswochen vor einem Rennen haben. Und wenn ich diese Artikel lese oder höre, was andere Teams machen, denke ich, ich probiere das aus.Ich habe mich gerade mit Greg Henderson [sein Zimmergenosse bei der Vuelta] unterhalten, und das Problem ist, dass du nicht alles unter einen Hut bekommst – die langen Fahrten und das Krafttraining und verschiedene Arten von Sprints und Intervallen.“ Während er sich für das Thema erwärmt, erklärt er uns die Details der verschiedenen Trainingsmethoden, die er ausprobiert hat. Aber das an sich spricht schon für seine Herangehensweise und seine Philosophie. Unlängst hat er es mit seinem Höhentraining nicht so genau genommen, gibt er zu. In Vorbereitung auf die Vuelta jedoch hat er zweieinhalb Wochen intensives Hypoxietraining gemacht – also Rollentraining in der Ebene, bei dem man Luft mit einem geringeren Sauerstoffgehalt einatmet.

Bei diesem großen Arbeitspensum fragen wir uns, ob er je Vitamine gespritzt hat, um die Regeneration zu fördern. „Definitiv keine Injektion“, sagt er. „Ich habe Angst vor zwei Dingen – vor Nadeln und vor dem Fliegen.“ Die Flugangst bekommt er in den Griff, aber Nadeln stellen manchmal ein Problem dar. „Wenn ich eine Blutprobe abgeben muss, ist es problematisch – ich bin ein paarmal in Ohnmacht gefallen, obwohl es mittlerweile besser wird. In der ersten Zeit als Profi musste ich mich hinlegen. Ich glaube, die UCI hat dieses Detail vermerkt, denn wenn die Kontrolleure kamen, sah ich, dass sie zittrig waren, und das hat mir noch mehr Angst gemacht!“ Er fügt hinzu: „Ich glaube, alles, was wirklich funktioniert, ist illegal, und alles, was du nehmen kannst, das legal ist, funktioniert nicht. Aber es gibt etwas, woran ich wirklich glaube: BCAA.“ Keine Sorge. Das ist nur das enttäuschend banale Akronym für verzweigt-kettige Aminosäuren (Englisch: branched chain amino acids) – Proteinketten, die der Körper für Reparatur und Wachstum braucht.
 
Bei Hansen hat man das Gefühl, dass er den Erfolg im Radsport – was auch immer das für einen Domestiken heißen mag – nicht um des Ruhmes willen anstrebt. Vielmehr nutzt er den Sport als Mittel zur persönlichen Erfüllung. Außerdem kommt er als unabhängiger und autonomer Mensch rüber. Nach den vielen Glückwünschen zu seinem Vuelta-Etappensieg in den sozialen Netzwerken zu urteilen, ist er in seinem Team zudem sehr beliebt. Was hält die Zukunft also für den Australier bereit? Er begnügt sich meistens mit seiner Helferrolle, möchte aber auf kürzeren Etappenrennen auch mal die Hauptrolle spielen. „Ich habe immer das Gefühl, dass ich mich insgeheim auf die Zukunft vorbereite“, sagt er. „Ich werde bei diesen zehntägigen Etappenrennen langsam besser und hoffe, dass ich in ein oder zwei Jahren versuchen kann, ein oder zwei Rennen im Jahr zu gewinnen.“

Schon 2014 hat sich die zunehmende Form in Ergebnissen niedergeschlagen, die sich sehen lassen: Neunter bei der Tour Down Under und das Bergtrikot waren der erste Höhepunkt. Auf der gebirgigen 5. Etappe von Tirreno – Adriatico infiltrierte er die Ausreißergruppe und wurde Vierter, eine Minute hinter einem wiedererstarkten Alberto Contador. Bei der Türkei-Rundfahrt fuhr er auf der Königsetappe in die Top Ten und wurde in der Endabrechnung Neunter. Die Krönung seiner Saison war natürlich der eindrucksvolle Solosieg auf der 19. Etappe der Vuelta. So, wie Hansen in den letzten drei Jahren an seiner Form gearbeitet und sein Team überzeugt hat, ihm zu vertrauen, spricht nichts dagegen, dass einer der esoterischsten Charaktere des Pelotons nicht noch mehr Erfolge in einer bereits denkwürdigen Karriere erzielen kann. Aber etwas wird sich ändern müssen – in den Bergen auf ein Bier anhalten, das ist dann nicht mehr drin.



Cover Procycling Ausgabe 129

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 129.

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