Die Formel des Erfolgs

An einem trüben Tag im März hat ein Winzer, der seine Rebstöcke auf einem Hügel im Piemont pflegte, vielleicht hochgeschaut und ein Auto gesehen, das verdächtig langsam auf der Talstraße nach oben kroch. Als es näher kam, hat er vielleicht eine merkwürdige Sonde gesehen, die aus dem Fenster hing, und einen Beifahrer, der einen Blick auf diverse elektronische Geräte warf.

 

In dem sinister aussehenden Gefährt saßen keine italienischen Sicherheitsbeamten, die in den Weinbergen versteckte Verbrecher aufspüren wollten. Es war eine Art Aufklärungsmission, denn im Auto saßen Agenten der Wettrüstung des Radsports, Experten, deren Job es ist, jene Bereiche zu identifizieren, die bei einem Rennen über Sieg oder Niederlage entscheiden können – egal, wie unbedeutend sie scheinen. Zwei Tage vor dem Zeitfahren auf der 12. Etappe des diesjährigen Giro d’Italia war das Auto wieder da … und am nächsten Tag erneut. Am Morgen des Zeitfahrens fuhr es die Strecke noch einmal ab. Während die Fahrer frühstückten, waren die Aerodynamik-Ingenieure der Specialized-Zentrale in Kalifornien vertieft in Gespräche mit den Mechanikern von Omega Pharma – Quick-Step und diskutierten die letzten Materialempfehlungen aufgrund der Daten, die sie mit dem Auto gesammelt hatten. Um 17:20 Uhr war klar, dass sich die Arbeit ausgezahlt hatte: Rigoberto Uran war förmlich über den Kurs geflogen und hatte nicht nur das Zeitfahren gewonnen, sondern auch Geschichte geschrieben – als erste Kolumbianer, der je das Rosa Trikot trug.

Wie jeder weiß, liegt die Schönheit des Radsports in seiner Komplexität. „Die Beine zu haben“, ist natürlich wesentlich, aber das sind viele andere Variablen auch: Taktik, Material, Teamkollegen, Psychologie … Wie stellt man also sicher, dass ein Fahrer mit den physischen Attributen eines Champions, der perfekt trainiert hat und in Bestform ins Rennen geht, derjenige ist, der tatsächlich zuerst über die Linie fährt? „Warum ist ein Mann mit einer Frau glücklich und nicht mit einer anderen? Das ist Schicksal und ich glaube, Schicksal spielt im Sport auch eine Rolle“, sagt Wjatscheslaw Jekimow und klingt eher wie ein russischer Schriftsteller als ein hart arbeitender Ex-Leutnant aus der Armstrong-Ära. Bei einer Karriere, dich sich über die letzten Jahre der UdSSR und drei Olympische Spiele (mit drei Goldmedaillen) erstreckte, kann man davon ausgehen, dass Jekimow weiß, wovon er spricht. Als Teamchef von Katusha gehört es zu seinem Job, russische Talente zu entdecken und zu fördern, sodass sie WorldTour-Niveau erreichen. Wenn ein junger Fahrer physisch und mental stark ist, „Motivation, Fähigkeiten und Kapitänsqualitäten“ mitbringt, „kann er es in jedem Team schaffen“, sagt Jekimow. „Aber natürlich ist eine andere Frage, wie groß dieser Erfolg sein wird.“ Und das liegt vor allem am Team. „Ein Rennteam ist ein großes Kollektiv von 70 bis 90 Leuten, das seine eigene Atmosphäre, seine eigene Welt schafft“, erklärt Jekimow. „Jedes Team ist wie ein Paralleluniversum, und wenn ein Fahrer hinzukommt, kann er eine Atmosphäre antreffen, die entweder perfekt oder falsch ist, was ihn zum Leben erwecken oder töten kann. Wir können viel über alle Faktoren im Team reden: das Temperament und der Charakter der Fahrer; das Know-how der Sportlichen Leiter; die Fähigkeiten der Masseure und Mechaniker; sogar die Qualität der Rennräder. Und warum nicht auch die Persönlichkeit des Teamchefs? Aber wie gewichtest du sie? Was ist wichtiger oder unwichtiger? Du kannst irgendeinen Faktor nennen und ich könnte dir antworten – ja, das ist wirklich wichtig. Du könntest einen anderen nennen und ich würde dasselbe sagen. Ein Fahrer muss sein richtiges Team finden und das Team muss seine richtigen Fahrer finden.“
 
„Zu einem Team zu gehen, ist wie mit dem Fuß in einen Schuh zu schlüpfen“, sagt Virginie Jacob Dalla Costa, ehemalige Radrennfahrerin und heute Psychologin, die seit acht Jahren für AG2R und sein Nachwuchsteam arbeitet. „Entweder sitzt der Fuß zu locker und hat keinen Halt oder er sitzt zu eng, und dann kannst du dich nicht entfalten. Du fühlst dich eingeengt, du verstehst nicht, wie das Team funktioniert, oder du verstehst dich nicht gut mit deinen Teamkollegen. Und manchmal passt der Schuh perfekt – dann ist alles gut.“ Fangen wir mit den Teamkollegen an. Ihre wichtigste Aufgabe ist, den Kapitän zu beschützen. „Ein Fahrer muss Energie sparen. Es ist wie bei einem Auto. Wenn du beschleunigst, verbrauchst du viel Sprit“, erklärt Fred Grappe, der eine sportwissenschaftliche Abteilung an der Universität von Besançon leitet und den FDJ.fr-Fahrer Thibaut Pinot erfolgreich gecoacht hat. „Je ‚unrunder‘ er fährt, desto mehr Energie verbraucht er. Die ideale Situation ist, dass der Kapitän von seinen Mannschaftskollegen abgeschirmt ist und so wenig Beschleunigungen wie möglich macht. Wenn er mit jeder Pedalumdrehung ein Prozent weniger Energie als ein anderer Fahrer verbraucht, macht das sehr viel aus.“ Die Teamkollegen eines Fahrers sind seine Bodyguards, seine Brüder, seine Spione, seine Infanterie, seine Schuldeneintreiber, seine Domestiken, seine Pioniere und seine Scharfschützen. Sie sind Zocker mit Pokergesicht, durch Flüsse watende Heilige, Bergbanditen, Kamikazepiloten und Hofnarren. Sie sind auch Menschen, die im Laufe einer großen Rundfahrt physisch und emotional ermüden können. Teamkollegen können der Grund sein, warum du ein Rennen gewinnst oder verlierst. Genauso wichtig ist ihr befehlshabender Offizier, der Sportliche Leiter. Dann und wann trifft man einen Teamchef, unter dessen Fittichen die talentierten Fahrer fast zwangsläufig zu Champions werden. Der berühmteste ist Cyril Guimard, unter dessen Regie Bernard Hinault, Lucien Van Impe und Laurent Fignon die Tour de France gewonnen haben. „Cyrille war einer der besten Sportdirektoren, die ich je getroffen habe. Ich weiß nicht, ob ich ohne ihn je die Tour gewonnen hätte“, sagte Van Impe einmal. „Wie er zu den Fahrern spricht, hat uns wirklich aufgebaut. Er wusste immer, wann man Ausreißer verfolgen musste und wann man sie fahren lassen konnte. Und alles, was er bei der morgendlichen Besprechung voraussagte, bewahrheitete sich später im Rennen.“

Bei allem Gerede über marginale Gewinne und moderne Wissenschaft ist die Rolle des Sportlichen Leiters vielleicht das Gebiet, wo der schlaue Fuchs der alten Schule noch glänzen kann. Man denke an Astana-Chef Giuseppe Martinelli, der bei der diesjährigen Tour Nibali ermutigte, eine Etappe in England zu gewinnen, sodass ihr Mannschaftswagen als Erster in der Reihe fahren durfte. Man denke an Bjarne Riis, der in den „Ist er Kapitän oder ist er es nicht“-Tagen von Carlos Sastre und den Schlecks Poker spielte. Der Sportliche Leiter mag die Strategie vorgeben, erklärt Fred Grappe, aber die Strategie „entwickelt sich auch während des Rennens, je nachdem, wie die Athleten reagieren, weil wir sie nicht fernsteuern können wie einen Fernseher. Das geht nicht per Knopfdruck.“ Genauso wichtig ist, dass auch die Fahrer clevere Taktiker sein müssen, unerwartete Möglichkeiten erkennen und einschätzen können müssen, wie erschöpft ihre Rivalen wirklich sind – und das sind die entscheidenden Momente, die das Rennen für uns so spannend anzuschauen machen. Du hast also dein Bataillon und deinen Befehlshaber. Jetzt brauchst du die Waffen. Wir alle kennen die Geschichte der Tour de France 1989, die Greg LeMond im abschließenden Zeitfahren dank, wie es heißt, seines neuen aerodynamischen Lenkers mit nur acht Sekunden Vorsprung gewann.

Was bringt das neueste aerodynamische Material also? Viel … „Wenn alles aero ist – Helm, Laufräder, Rahmen, Bekleidung –, kann der Unterschied gegenüber traditionellem Material bei einem 40 Kilometer langen Zeitfahren mehrere Minuten ausmachen“, sagt Chris Yu, Aerodynamik-Experte und Entwicklungsingenieur bei Specialized. „Sogar ein einziges Teil kann sich erheblich auswirken. Wenn wir unsere Evade-Helme statt der traditionellen Straßenhelme verwenden, entspricht das einem Vorteil von über einem Meter bei einem 200 Meter langen Sprint. Je nach Ziel des Fahrers kann der Aero-Vorteil verschiedene Bedeutungen haben. Tony Martin erzielt damit gegen die Uhr die maximale Zeitersparnis, während Mark Cavendish im Sprint noch einen Tick schneller werden kann. Vincenzo Nibali und andere Klassementfahrer sparen Energie, bevor es in die Anstiege geht. In jedem Fall hilft es ihnen zu gewinnen. Grundsätzlich sind die wesentlichen Faktoren der Luftwiderstand, der Rollwiderstand der Reifen und das Gewicht. Auf flachen Straßen ist der Luftwiderstand der wichtigste Faktor. In den Bergen ist es das Gewicht. Alles dazwischen ist eine Mischung aus den drei Faktoren.“ Im Windkanal wird der Luftwiderstand gemessen, den Specialized dann „in Zahlen übersetzt, wie etwa die Zeitersparnis auf 40 Kilometer“. Yu weist darauf hin, dass diese Art der Darstellung der Daten „den Vorteil hat, dass dieser Wert so ziemlich für alle Geschwindigkeiten gilt“. Leistung ist nicht das einzige Ziel, manchmal muss man Kompromisse machen, beispielsweise zugunsten des Komforts. Wie Yu sagt, sind die Fahrer für 60 bis 80 Prozent ihres gesamten Luftwiderstands verantwortlich, „aber allzu oft versucht jemand, durch eine andere Position einen aerodynamischen Vorteil zu erzielen, nur um festzustellen, dass er diese Position nicht lange durchhält, Kraft verliert oder – schlimmer noch – sich sogar Verletzungen zuzieht.“

 

Kommen wir zurück zu unserem Fahrer. Oder lassen Sie uns einen Blick in seinen Kopf werfen. „Stellen Sie sich ein Auto mit einem großen Motor vor, wie einen Ferrari. Wenn die Elektronik nicht funktioniert, läuft er nicht“, sagt uns Fred Grappe. „Der Kopf steuert alles.“ Bei einer großen Rundfahrt, sagt der Franzose, muss ein Klassementfahrer vom ersten bis zum letzten Kilometer, drei Wochen lang, absolut konzentriert sein. Am Ende jeder Etappe geht es nicht nur darum, sich so schnell wie möglich von den körperlichen Anforderungen zu erholen, sondern auch abzuschalten. „Wenn du jeden Tag mentale Energie verlierst, bist du ab einem bestimmten Punkt erschöpft. Dann hast du in der letzten Woche keine Reserven mehr“, sagt Grappe. Die mentale Seite des Radsports, sagt uns Virginie Jacob Dalla Costa, „kann alles oder nichts bedeuten“, weil sie so viele Dinge umfassen kann: „Motivation, Konzentration, emotionale Verfassung, Strategie, Visualisierung. Du musst das Terrain kennen, deine Gegner und dich selbst. Radsportler machen immer so einen selbstbewussten Eindruck, aber sie sind nicht unbedingt so stark, wie sie wirken“, betont die Psychologin. „Mit einigen AG2R-Fahrern spreche ich nie über den Radsport. Sie reden darüber, wie es ihnen geht, wenn sie ihre Familie nicht sehen, vielleicht kleine Probleme, die banal klingen, aber sie sind nicht zu Hause und können Problem nicht so leicht lösen. Wenn ihr emotionales Leben nicht gut ist, trainieren sie vielleicht weniger, schneiden bei Rennen nicht so gut ab, das schwächt ihr Selbstvertrauen“, verweist sie auf einen Teufelskreis, der eine Abwärtsspirale bei der Leistung auslösen kann.

„Am schwierigsten ist für einen Fahrer, das Selbstbewusstsein zu steuern“, sagt Dalla Costa. „Wenn ein Fahrer nie ein grundlegendes Selbstbewusstsein gehabt hat, ist es sehr schwer zu entwickeln. Es gibt sehr gute Athleten, die niemals auf dem obersten Treppchen stehen – aus Gründen, die nichts mit dem Radsport zu tun haben.“ Radbeherrschung ist etwas, worauf es bei allen Fahrern ankommt. Wie wir im vergangenen Jahr beim Giro und der Tour gesehen haben, als Wiggins und Pinot in den Abfahrten ihr Rennen verloren, geht es beim Radsport nicht nur um Zahlen. Als Contador bei der diesjährigen Tour stürzte, schien ihn sein Fehler mehr zu schmerzen als seine Verletzungen, wie er dem spanischen Fernsehen sagte: „Es hat sehr wehgetan, weil ich sehr auf Details achte. Sie haben gesagt, ich sei ein unnötiges Risiko eingegangen. Ich bin ein Rennfahrer, der weiß, was er tut, und das ist wichtig für mich. Du musst aufmerksam sein und Risiken vermeiden, Problemen aus dem Weg gehen. Deswegen ärgere ich mich noch mehr über diesen Sturz, weil ich so aufpasse.“

Viele haben sich gefragt, ob Nibali die Tour gewonnen hätte, wären Froome und Contador nicht ausgeschieden. Obwohl wenige die Fähigkeiten seiner Rivalen infrage stellen würden, ist auch klar, dass Nibalis meisterhafter Ritt über das Kopfsteinpflaster der 5. Etappe, seine couragierten und loyalen Teamkollegen Jakob Fuglsang und Lieuwe Westra, die superben Strategien und das sorgfältig ausgewählte Material seines Teams sowie seine eigene clevere Taktik zeigten, dass Astana in der Vorbereitung alles richtig gemacht hatte. Kurzum: Sie waren bereit für den Sieg.



Cover Procycling Ausgabe 128

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