Ein Mittwoch in der Hölle

Die 5. Etappe war als Mini-Paris – Roubaix gehandelt worden und enttäuschte nicht, lieferte sie doch mehr Heldensagen und Herzeleid als jede andere Auflage der Hölle des Nordens.

 

Die erste Zeile von Wilfred Owens Kriegsgedicht „Apologia Pro Poemate Meo“ würde im Einklang stehen mit den völlig erschöpften und verdreckten Fahrern, die in Arenberg Porte du Hainaut in die Teambusse stiegen. „Auch ich sah Gott durch den Schlamm.“ Die L’Équipe nannte das Drama, das die Tour ihres Titelverteidigers Chris Froome beraubte, „dantesk“. Für eine Etappe, die an den Ersten Weltkrieg erinnern sollte, ausgetragen in der schlammigen Erde des Westens, schien das Schmuddelwetter vorherbestimmt zu sein. Es war lange klar, dass die 5. Etappe ein Jüngstes Gericht werden würde. Von dem Moment an, als Tour-Direktor Christian Prudhomme die neun Kopfsteinpflaster-Abschnitte auf der 155,5 Kilometer langen Etappe präsentierte, wurde der alte Spruch, dass die Tour hier nicht gewonnen, aber sehr wohl verloren werden kann, immer wieder breitgetreten. Im Frühjahr und Frühsommer ratterten die spindeldürren Favoriten – unter ihnen Alberto Contador, Vincenzo Nibali und Chris Froome – fleißig über die sieben Pavé-Abschnitte, die regelmäßig bei Paris – Roubaix auf dem Programm stehen. Keiner von ihnen tat dies bei Nässe. Die Angst vor der Etappe wuchs schnell. Bei ganz untypischem Sonnenschein in Yorkshire sahen die Fahrer und Teams, die sich den langfristigen Wetterbericht anschauten, dass sich Regenwolken über den aktuellen radsportlichen Schlachtfeldern Nordfrankreichs zusammenbrauten. Die Stimmung der Fahrer verdüsterte sich mit dem Himmel. In Lille, am Abend vor dem Transfer nach Ypern, sagte Trek-Profi Fabian Cancellara ein Gemetzel voraus. Auch, dass er von Teamaufgaben entbunden war und auf Etappensieg fahren konnte, vermochte ihn nicht zu ermutigen. Ein großer Teil des Pelotons war Paris – Roubaix noch nie gefahren, und nur vier – Mathew Hayman, Jens Voigt, Thomas Voeckler und Samuel Dumoulin – waren bei der letzten Regen-Auflage 2002 dabei. Orica-GreenEdge-Sportdirektor Matt White hatte als Fahrer vor 14 Jahren daran teilgenommen. „Für die Fahrer, die nie Roubaix gefahren sind, und nun das erste Mal, dass sie hier sind, im Regen fahren müssen: Viel Glück, es wird ein Alptraum!“, sagte er. Auch wenn es irgendwie schadenfroh klang, war es das nicht. White wollte nicht, dass einer der Favoriten – oder überhaupt jemand – aufgeben muss. Es war eine vergebliche Hoffnung …
 
Countdown zur Hölle
 
In einem Hotel südlich von Lille war Sky mit der sehr reellen Möglichkeit konfrontiert, dass die Titelverteidigung ihres Kapitäns bereits gescheitert war. Bei seinem unglücklichen Sturz am Vortag, als er das Laufrad von Jens Keukeleire touchiert hatte, hatte sich Froome das linke Handgelenk verletzt, und eine Röntgenaufnahme brachte keine Klarheit. Er hatte den wartenden Journalisten zu verstehen gegeben, dass alles in Ordnung sei, aber niemand konnte ausschließen, dass das Handgelenk gebrochen war. Es war sehr schmerzhaft, und obwohl die Mechaniker den Lenker anders einstellten und doppelt mit Lenkerband umwickelten, wurde den Mitarbeitern bange ums Herz, dass die teuflischen Pflastersteine, mit denen Froome erst ein Mal – bei einem nicht zu Ende gefahrenen Paris – Roubaix 2008 – Bekanntschaft gemacht hatte, das Ende seines Rennens bedeuten könnten. Bei Tagesanbruch war der Himmel über Flandern stahlgrau und kalt, die Niederschlagswahrscheinlichkeit betrug 90 Prozent und es war bereits so viel Regen gefallen, dass das Pavé rutschig war. Auf dem historischen Grote Markt in Ypern, westlich des Kriegerdenkmals Meenenport, trudelten die Teambusse ein. Sie wurden von Menschenmengen begrüßt, die der Flandern-Rundfahrt würdig gewesen wären. Es hatte Gerüchte gegeben, dass die ASO die Etappe neutralisieren würde. Das wäre ohne Frage gut angekommen bei den Fahrern, aber nicht beim Publikum. Gut eine Stunde vor dem départ fictif versammelten sich die Sportlichen Leiter in der ASO-Besucherlounge hinter dem Einschreibepodium. Minuten später trotteten sie zurück zu den Teambussen mit der Nachricht, dass zwei Sektoren mit insgesamt 2.400 Meter Länge gestrichen worden waren, weil sie zu gefährlich waren. Für einige wie den Garmin-Sharp-Fahrer Janier Acevedo, der zum ersten Mal über Kopfsteinpflaster fuhr, war dies ein schwacher Trost. Während die Flaggen der Fans im aufkommenden Wind laut flatterten, steigerte Acevedos Teammanager Jonathan Vaughters die Rhetorik und erklärte: „Darüber werden wir in zehn Jahren noch reden.“ Andere wie Heinrich Haussler (IAM) und Lars Boom (Belkin) reagierten darauf mit gerunzelter Stirn. Das war ihre Etappe und sie kam nach monatelanger Vorbereitung und Planung. Sep Vanmarckes kindische Twitter-Mitteilung fing den Wunsch der meisten Favoriten für diese Etappe ein, den kompletten Kurs zu fahren: „Die Kacke ist am Dampfen!“, sagte er, bevor er hinterherschob: „Alle Sektoren sollten drin bleiben!“

Die Fahrer wussten, wo sie sein wollten: Ganz vorn. „Du musst in die Offensive gehen“, sagte Tejay Van Garderen in der Wärme des Teambusses. „Aber wenn du an zehnter Stelle fährst, willst du an fünfter fahren, und wenn du an fünfter Stelle fährst, willst du an dritter fahren, also musst du immer kämpfen, egal, wo du bist.“ Einige, aber nicht alle Teamchefs schienen über die kurzfristigen Änderungen enttäuscht zu sein. „Wenn man schon Pavé auf der Strecke hat, macht man keinen Rückzieher, nur weil es regnet“, sagte Omega-Pharma-Sportdirektor Brian Holm. „Sie sollten sie alle fahren …“ Auf der anderen Seite des Grote Markt erhellte die Lebensfreude des Europcar-Teammanagers Jean-René Bernaudeau die Düsternis. „Ich bin ein Romantiker und die Pflastersteine gehören zur Romantik dieser Sportart. Ich finde, es sollte öfter Kopfsteinpflaster bei der Tour und anderen Rennen geben. Die Berge, das Pavé, das ist die Geschichte des Radsports. Nicht alle meine Fahrer sind dieser Meinung, aber das ist mir egal! Pierre Rolland findet es natürlich nicht toll …“ Belkin hatte 20 mit Ersatzlaufrädern beladene Leute zu den Pavé-Abschnitten delegiert. Sie waren nicht die Einzigen mit vielen Mitarbeitern oder Freiwilligen, die draußen im Regen standen. Sky war vielleicht am besten gerüstet – mit drei oder vier Pannenhelfern, die an jedem Pavé-Abschnitt ihre Posten bezogen hatten. FDJ konnte nicht so viele Arbeitskräfte aufbieten, glaubte aber, da die früheren Paris – Roubaix-Maestros Marc Madiot und Martial Gayant alles koordinierten, genau zu wissen, wo Stürze oder Reifenpannen am wahrscheinlichsten und wo ihre Behelfsmechaniker zu stationieren waren. Das Team Astana, das die Etappe im Frühjahr mit dem einstigen Klassiker-Spezialisten Peter Van Petegem – und im Gegensatz zu anderen vor allem im Renntempo – gefahren war, hatte mit AG2R und Cannondale vereinbart, sich die Mannschaftswagen zu teilen. In einer E-Mail von Chef-Sportdirektor Beppe Martinelli an alle Mitarbeiter waren alle Pavé-Abschnitte aufgelistet und auch, wer wo mit welchen Ersatzreifen und -maschinen stehen würde. Das Rundschreiben hatte nichts besonders Kompliziertes oder Cleveres an sich, aber im Endeffekt sollte es so aussehen, als hätte Astana einen Masterplan umgesetzt.
 
Regen, Rillen und Ruin
 
Das Rennen begann unter den Blicken von Eddy Merckx. Ein Journalist fragte ihn, ob er an einem solchen Tag gerne ein Rennen gefahren wäre. Seine Miene hellte sich auf. Froome stieg aus dem Bus und stellte sich den Medien mit fester Manschette um den linken Arm. Lotto-Belisol-Fahrer Adam Hansen sollte sich später erinnern: „Allen grauste es davor. Vielen Leuten ging die Muffe.“ Zak Dempster von NetApp – Endura erinnerte sich an ein Rennen zur Front, um Ansprüche auf die sichersten Plätze zu erheben. „Es war vom ersten Kilometer an eine verrückte Etappe“, sagte Dempster am nächsten Tag. „Es ist eine Kunst für sich, auf dem Kopfsteinpflaster zu fahren, und noch einmal eine Kunst für sich, auf nassen Steinen zu fahren. Das Schwierigste war, vor den Sektoren auf Position zu fahren.“ Hansen sah das genau so: „Als das Kopfsteinpflaster angefangen hatte, sah ich keinen einzigen Crash, aber davor vielleicht zwölf. Weiter hinten im Peloton haben alle zwei oder drei Meter Abstand gehalten, weil alle nur auf einen Sturz warteten. Viele Fahrer hatten Angst.“ Dabei sollten einige später anmerken, dass der Regen das Pavé weniger tückisch gemacht hatte: Das stehende Wasser am Rand zwang die Fahrer auf die erhöhte Mitte, die sicherste Bahn. Eine zehnköpfige Ausreißergruppe setzte sich gleich nach dem Start ab. Doch vor dem Feld herzufahren, schützte sie nicht vor Stürzen: Tony Martin war vorn, aber er landete trotzdem auf dem Boden, wie viele andere.

Ein Zwischenfall schlug höhere Wellen als alle anderen. Oder vielmehr zwei, weil Chris Froome zweimal zu Fall kam – einmal nach 25 Kilometern und dann noch einmal nach 75, gerade als das Peloton den Stadtrand von Villeneuve d’Ascq streifte. Bis zu den ersten Pflastersteinen war es noch eine Viertelstunde, doch Froomes Tour war vorbei. Einige Stunden zuvor, im Morgengrauen, waren Froome und der südafrikanische Mechaniker von Sky, Gary Blem, mit einem komischen Gefühl im Magen aufgewacht: Obwohl dies der wichtigste Tag war, den der Mechaniker eines Profiteams erleben kann, war er einfach nicht nervös. „Ich glaube, es war einfach, weil ich wusste, dass es ein Alptraum wird“, sagte er uns am nächsten Tag zerknirscht. Blem erlebte die Folgen beider Stürze von Froome vom Rücksitz des ersten Mannschaftswagens von Sky, den er sich mit den Sportdirektoren Nicolas Portal und Servais Knaven teilte. „Nach dem ersten konnte ich sehen, dass er etwas benommen war und Schmerzen hatte; und dass er so lange brauchte, um wieder aufs Rad zu steigen, war kein gutes Zeichen. Dann, nach dem zweiten Sturz, wusste er – glaube ich –, dass er sich nur selbst schaden und vielleicht andere Fahrer zu Fall bringen würde, wenn er weitermacht. Es war wirklich traurig, es mitanzusehen, wenn man weiß, dass er zwölf Monate darauf hingearbeitet hat, und wenn man weiß, wie hart er gearbeitet hat. Er hat mir gesagt, dass er den Lenker nicht festhalten kann, und ich wollte seine Hände schon fast daran festbinden! Aber es war natürlich die richtige Entscheidung auszusteigen. Ich bin auch froh, dass Richie Porte jetzt eine Chance bekommt. Er war in Topform bei unserem letzten Trainingslager vor der Tour.“

Am Abend sollte Froome wieder zu Hause in Monaco sein. Bevor er das Ibis-Hotel in Lille verließ, bestand er darauf, Porte, seinem Freund und Nachbarn in Monte Carlo, ein paar aufmunternde Worte mit auf den Weg zu geben: „Du kannst diese Jungs schlagen, du kannst das gewinnen“, war die Essenz. Froome sollte sich am nächsten Tag einer Kernspintomografie unterziehen, bei der Knochenbrüche in der linken und rechten Hand festgestellt wurden. Selbst die Vuelta stand nun für ihn auf der Kippe. Sky hatte den ganzen Tag nur zwei Reifenschäden zu beklagen; Porte fuhr auf dem Pavé superb; die Stimmung war irgendwie gelöster ohne die Last, Froomes Titel verteidigen zu müssen. Doch aus der Sicht des Teamchefs Dave Brailsford überwogen die Wolken die Silberstreife bei Weitem. Bei Astana gab es derweil zum zweiten Mal in vier Tagen wilde Umarmungen und raues Gelächter am Mannschaftsbus. Die Resultate, hätten wir sie am Vormittag gesehen, hätten wie ein schlechter Scherz ausgesehen: Jakob Fuglsang und Vincenzo Nibali, Zweiter beziehungsweise Dritter der Etappe, waren gefahren wie Flamen, förmlich über das Pavé geschnurrt. Peter Sagan, Fabian Cancellara und Niki Terpstra hatten in ihrem Kielwasser alle Matsch geschluckt. Sagan und Cancellara waren Vierter und Fünfter, 42 Sekunden hinter dem Astana-Duo. Terpstra war in dem Morast spurlos versunken.
 
Aufregung und Schock
 
Nibalis Vorstellung war eine meisterliche gewesen – und weniger überraschend, als viele zunächst dachten. Als Kind stand er im Videoladen seiner Eltern in Messina auf Zehenspitzen und griff nach einer alten VHS-Kassette mit den größten Siegen von Francesco Moser, darunter sein Paris – Roubaix-Hattrick. Kurz vor der Saison 2006 sagte Nibali zu Procycling, das Video habe ihn so sehr inspiriert, dass Paris – Roubaix jetzt das „Rennen meiner Träume“ sei. Eines Tages, sagte er, hoffe er die Hölle des Nordens zu gewinnen. Das Einzige, was ihn davon abhielt, die Ziellinie dieses Mini-Roubaix als Erster zu überqueren, war Lars Booms Coup de Grâce auf dem letzten Pavé-Abschnitt. Boom hatte schon vor dem Start der Tour für Aufsehen gesorgt, als er einem holländischen Fernsehsender sagte, dass er keine Absicht habe, auf dem Pavé herumzubummeln und auf den Belkin-Kapitän Bauke Mollema zu warten. Er hatte sein Wort gehalten. Seine Zielstrebigkeit erstreckte sich sogar auf die Auswahl der Reifen: Boom hatte 28-Millimeter-Clincher aufgezogen, während seine Teamkollegen mit der 30-Millimeter-Version unterwegs waren. In der Kolonne der Teamwagen, die hinter der Ziellinie parkten, am Eingang zu einem gespenstisch einsamen Wald von Arenberg, vermischten sich Wehklagen mit Seufzern der Erleichterung und – im Fall von Astana – Ausbrüchen unbändiger Freude. Fuglsang erschien im Türrahmen des Teambusses, bereits geduscht und seit 20 Minuten ausgeruht. Als er sich schließ-lich unter seine Teamkollegen mischte, fuhren immer noch abgekämpfte Fahrer mit aschfahlen Gesichtern unter dicken Dreckkrusten vorbei. Darwin Atapuma, der kleine kolumbianische Kletterer von BMC, sah völlig geschockt aus. Sein Teamkapitän Tejay Van Garderen hatte seinen Rückstand auf Boom auf 2:28 Minuten begrenzen können, aber auf den Pflastersteinen so gelitten, dass er in den Chor der Klagenden einstimmte. „Es war ein Wahnsinn da draußen“, sagte der Amerikaner. „Ich habe gehört, dass Froome raus ist. Ihr habt euer Drama bekommen, aber es entwertet das ganze Rennen, wenn ein großer Favorit jetzt draußen ist.“



Cover Procycling Ausgabe 127

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 127.

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