Carlos verzweifelt gesucht

Carlos Alberto Betancurs Fehlen bei der Tour de France 2014 ist der jüngste Knick in der leicht chaotischen Karriere des Kolumbianers. Kann der diesjährige Paris – Nizza-Sieger das Ruder noch einmal herumreißen – wieder einmal?

 

Ehrlich gesagt: Je mehr Geschichten wir über Carlos Betancur hörten, bevor wir ihn interviewten, desto mehr graute uns davor. Es ging schon los mit der Frage, ob er überhaupt auftauchen würde. Nachdem er im Frühjahr als erster Kolumbianer Paris – Nizza gewonnen hatte, hätte der 24 Jahre alte Fahrer aus Ciudad Bolivar doch ein Interview nach dem anderen geben sollen. Zumal die Presseabteilung von AG2R zu Recht in dem Ruf steht, eine der freundlichsten und kooperativsten der WorldTour zu sein. Doch wie sie selbst zugibt, kann es ein Kampf sein, ihren Fahrer dazu zu bringen, sich hinzusetzen und mit Journalisten zu sprechen. Selbst wenn er sich dazu bereiterklärt, ist er – anderen Reportern zufolge, deren Namen wir nicht nennen wollen – mürrisch bis unkommunikativ. Unser Interview mit Betancur wurde erst einmal von der Volta a Catalunya – wo er mit Fieber aufgab – auf die Vuelta al País Vasco – wo er mit einer Knieverletzung aufgab – und von dort auf die Ardennen-Klassiker verschoben. Wir sind also nicht vollkommen überrascht, dass Betancur mit 45 Minuten Verspätung in einer Hotellobby in Lüttich auftaucht und keinerlei Anstalten macht, sich zu entschuldigen. Was uns überrascht, ist, dass er uns als Erstes fröhlich fragt: „Möchtet ihr ein Bier trinken?“ Es ist ein freundlicher Auftakt für ein Interview in netter Atmosphäre. Zwei Tage später, bei Lüttich – Bastogne – Lüttich, war Betancur dann jedoch einfach von der Bildfläche verschwunden. Als wir diesen Artikel Ende Juni schreiben, war sein jüngster Tweet vom 27. April ein Dankeschön an seine Fans für ihre Unterstützung „in einem sehr schwierigen Monat“. Sein eigener Trainier, der Ex-Profi Michele Bartoli, wusste anscheinend auch nicht, wo er steckte. Angeblich war er in Kolumbien, aber niemand in Europa wusste das so genau.
 
Betancur fehlte auch im Mai unentschuldigt. Am 3. Juni wollte ein Mitarbeiter von AG2R ihn am Flughafen Lyon abholen, aus einer Maschine aus Kolumbien. Betancur tauchte nicht auf. Sein Visum für Europa lief kurze Zeit später aus. Sein früherer Mentor Franco Gini erklärte dann, Betancur sei krank gewesen, habe unter einem Zytomegalovirus gelitten und wäre Mitte Juli wieder in Europa, um sich auf die Vuelta vorzubereiten. Unbestätigten Berichten zufolge war er im Krankenhaus gewesen. So oder so veröffentlichte sein Team die Starterliste für die Tour de France – wo Betancur um das Weiße Trikot des besten Jungprofis mitfahren sollte – ohne seinen Namen. Was Betancur selbst angeht – ein Fahrer, der in einem Atemzug mit Nairo Quintana genannt wird und als einer der kolumbianischen Rundfahrer der Zukunft gilt –, so hat er seit unserem Interview im April kaum ein Wort mit anderen Journalisten gesprochen. Irgendwie war dieser plötzliche Formverlust von Betancur nicht anders zu erwarten. 2013 hatte er ein spektakuläres Frühjahr, wurde Dritter beim Flèche Wallonne, Vierter bei Lüttich – Bastogne – Lüttich und Gesamt-Fünfter des Giro d’Italia – seine bisher beste Leistung bei einer großen Rundfahrt – und holte das Weiße Trikot des besten Jungprofis. Bei der Vuelta hingegen platzten alle Hoffnungen, als das Rennen auf der 2. Etappe den ersten Gipfel erreichte. Betancur wurde 126. in Madrid, nachdem er sich durch ganz Spanien geschleppt hatte – ohne ein einziges Mal seine typische Beschleunigung am Berg gezeigt zu haben, die das Publikum beim Giro nur wenige Monate zuvor begeistert hatte.
 
Gerade als es so aussah, als habe sich sein Potenzial in Luft aufgelöst, startete er rasant ins Frühjahr. Ein Sieg bei der Tour du Haut Var im Februar war der früheste Triumph in seinen fünf Jahren als Profi (zuvor war der früheste die Belgien-Rundfahrt 2012 gewesen), und er ließ auf seinen ersten Erfolg bei einem Etappenrennen einen knappen, aber überzeugenden Sieg gegen den Weltmeister Rui Costa (Lampre-Merida) bei Paris – Nizza folgen. Mit zwei Etappensiegen bei kurzen, knackigen Hügelankünften hatte Betancur die Führung im zweitgrößten französischen Rennen übernommen. Manch einer mag gemurmelt haben, dass er übergewichtig aussah, doch er wirkte mehr als fähig, in den entscheidenden Momenten seine Leistung abzurufen – bis zum April, als wieder einmal alles schief ging. Als wir im Frühjahr persönlich mit Betancur sprachen, war er alles andere als mysteriös oder unfreundlich. Ganz abgesehen davon, dass er uns ein Bier anbot, sprach er ausführlich über seine Karriere und wie er als Kind, als er im ländlichen Kolumbien in einer Arbeiterfamilie aufwuchs, zum Radsport kam. „Mein Klassenlehrer war schuld. Wie Nairo Quintana bin ich jeden Tag gerne mit dem Fahrrad zur Schule gefahren, obwohl es gegen die Regeln war. Eines Tages sagte mein Lehrer: ,Wenn es dir so gut gefällt, meine Schwester ist Vorsitzende des Radsportvereins in Ciudad Bolivar‘ – wo ich geboren bin. ,Wenn du willst, mache ich euch bekannt, und dann lassen wir dich richtige Rennen fahren.‘ „Und so fing alles an. Es war von Anfang an klar, dass ich auf der Straße besser war als auf der Bahn. Es gab einige gute Fahrer in Ciudad Bolivar, sie waren zwar nicht international bekannt, aber gute U23-Fahrer auf nationaler Ebene. Sie Rennen fahren zu sehen, hat mich immer besonders motiviert, was wichtig war, weil es in meiner Familie vorher keine Verbindungen zum Radsport gab. Wie die meisten Leute in Kolumbien hatten sie alle mehr mit Fußball am Hut.“
 
Der Schlüsselmoment war vielleicht, als ein Leistungssportzentrum am Ort, an dem Spitzensportler ihren Trainingsprogrammen den letzten Schliff geben können, ihn anrief und fragte, ob er Interesse hätte, dort einzusteigen. „Von dem Punkt an fuhr ich Rennen auf nationaler Ebene und kam in ein führendes kolumbianisches Team: Orgullo Paisa. Dann wurde ich für die kolumbianische Nationalmannschaft nominiert, mit der ich nach Europa reiste und Silber bei der U23-Weltmeisterschaft holte“ – 2009, als Betancur erst 19 war –, „und dann gewann ich 2010 den Baby-Giro.“ Kein Wunder, dass das italienische ProContinental-Team Acqua e Sapone nicht zögerte, Betancur für die Saison 2011 seinen ersten Profi-Vertrag zu geben. „Diese beiden Resultate bei der Weltmeisterschaft und beim Girobio öffneten mir die Tür“, sagte uns Betancur. „Außerdem war ich immer gut bei Etappenrennen und Eintages-Klassikern. Als Amateur in Kolumbien mochte ich das nicht, weil sie während des ganzen Rennens attackierten – und zwar nonstop. Bei den Rennen in Europa gibt es immer eine ruhige Phase, und dann treten die Topfahrer in Aktion. Diese Art von Rennen liegt mir definitiv besser.“ Es dauerte nicht lange, bis Betancur auch im Profi-Lager über sich hinauswuchs. In seiner ersten Saison fuhr er nicht nur den Giro d’Italia zu Ende (wo er 59. wurde) und gewann mit dem Giro dell’Emilia ein wichtiges Eintagesrennen in Italien, sondern kam bei seinem ersten großen Klassiker, der Lombardei-Rundfahrt, prompt auf den neunten Platz – was klar zeigte, dass er jede Menge Potenzial hatte. Bereits in dieser frühen Phase fielen ein paar Dinge auf. Seine brutalen Beschleunigungen am Berg – sein Markenzeichen – sind etwas, „was ich schon als Amateur konnte“, sagt er. „Daran musste ich nie arbeiten.“ Die Frage war also nur noch, wo seine Grenzen lagen, obwohl er anders als viele Kolumbianer keine Probleme mit der Kälte bei Rennen in Europa hatte. „Hitze liegt mir eigentlich nicht, da fühle ich mich viel unwohler als bei niedrigeren Temperaturen.“ Daher war Betancur beim Giro 2013, obwohl es erst seine zweite große Rundfahrt war, bei Regen und Schnee mehr in seinem Element als viele bekanntere Fahrer. „Es kam alles zusammen und ich bin wirklich gut gefahren. Es war ein guter Giro für mich und vielleicht etwas leichter, als ich dachte, dieses Resultat zu holen.“ Seine große Schwäche, sagt er, „war im Zeitfahren. Und ist es immer noch. Ich muss versuchen, mich in diesem Bereich zu verbessern.“

 

Mit Betancur über seinen Giro-Erfolg zu sprechen, war nicht annähernd so leicht, wie mit ihm über seine Kindheit und Anfangszeit als Radsportler zu reden. Ebenso unkommunikativ war er auch, als er seinen Triumph bei Paris – Nizza beschreiben sollte. „Der ganze Start der Saison war gut. Ich wollte Tirreno – Adriatico fahren, aber das Team hat mich überzeugt, dass Paris – Nizza mir vom Kurs her besser liegt. Also machten wir das, und es war großartig …“ Und das war auch schon alles – sein einziger Kommentar zu seinem bisher eindrucksvollsten Sieg. Er zeigt etwas von seiner früheren Form, als er zögerlich über seine Erfolge spricht. Als er bei der U23-
Weltmeisterschaft in Mendrisio die Silbermedaille gewann, nachdem er sich im Sprint gegen den Russen Igor Sillin durchgesetzt hatte, bemerkte ein Reporter, dass er sich nicht besonders zu freuen schien. „Das Problem, das ich habe“, antwortete er, „ist, dass ich so glücklich darüber war, dass ich nicht wusste, wie ich es ausdrücken sollte.“
 
Kaum überraschend ist Betancur jemand, der die Ruhe liebt. „Ich mag die Hektik in großen Städten nicht“, sagte er zu Procycling. „Ich bin ein Junge vom Lande und fühle mich dort zu Hause. Zu Hause mache ich nichts lieber als durchs Land zu reiten.“ Das erklärt auch, warum er vier Pferde auf dem kleinen Gehöft seiner Eltern hat. Als wir das Gespräch wieder auf Radsport brachten, machte er erneut dicht. „Ich bin ein sehr ambitionierter Fahrer und will bei der Tour gut abschneiden”, war seine einzige Reaktion, als wir anmerkten, dass ein Sieg bei Paris – Nizza oft ein Sprungbrett für junge Fahrer auf dem Weg in die Weltspitze war. Sein anderes erklärtes Ziel für 2014 – die Top Ten in Paris – wird jetzt noch ein Jahr warten müssen. Sein langfristigerer Traum ist, wie er uns sagte, ein großes kolumbianisches Team auf die Beine zu stellen. „Wir haben das Rohmaterial, wir hatten noch nie so viele Topfahrer wie heute. Es ist möglich. Aber es hängt sehr von der Regierung ab, und Fußball nimmt so viel Platz in den Medien ein.“
 
Einen Sponsor zu finden, hängt auch von beständigen Leistungen von führenden kolumbianischen Fahrern ab – ganz klar etwas, was Betancur bisher noch nicht liefern kann. Doch die Frage, ob er bei der Vuelta im August das Ruder noch einmal herumreißt – was ihm 2013 nicht gelang – ist zweitrangig gegenüber der Her-aus-forderung des nächsten Jahres. Betancurs Sieg bei Paris – Nizza hat seine Saison schon gerettet, jedes weitere Resultat wäre eine Zugabe. Immerhin ist er erst 24. „Ich bin jung. Ich habe Zeit, Fehler zu machen und zu lernen“, sagte uns Betancur auf die Frage, ob er Angst habe, bei der Tour zu versagen. „Wichtig ist, es zu versuchen, zu sehen, ob ich dort etwas Gutes machen kann.“ Derzeit jedoch könnte man einwenden, dass „etwas Gutes“, mehr als größere Siege, davon abhängt, ob Betancur die Unbeständigkeit ausbügeln kann, die ihm seit 15 Monaten Schwierigkeiten machte – genau dann, als seine Karriere am vielversprechendsten aussah.



Cover Procycling Ausgabe 126

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 126.

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