Als ältester Weltmeister, ältester Amstel-Gold-Sieger und mit unübertroffenen 16 absolvierten Frankreich-Rundfahrten, sechs zweiten Plätzen und einem Sieg beim zehnten Tourstart ist dieser Holländer eine Klasse für sich.
Obwohl Joop Zoetemelk nie einen Spitznamen hatte, der an ihm hängenblieb, wäre „der Langlebige“ vollkommen passend gewesen. Mit seinem zweiten Platz bei seinem Tour-Debüt 1970 entpuppte sich der 23 Jahre alte Holländer als Naturtalent und Rundfahrtsieger in spe, doch er musste zehn Jahre warten, bis er nach einer ganzen Reihe von zweiten Plätzen die Tour de France schließlich gewann. Zu diesem Zeitpunkt – 1980 – war er 33 Jahre alt. Wohl kein zweiter Profi erlebte je einen so goldenen Herbst seiner Karriere wie Zoetemelk. Mit einem Sieg bei der Weltmeisterschaft (mit 38) und Amstel Gold (mit 40), dem größten Klassiker seines Landes, avancierte er zum größten holländischen Radrennfahrer aller Zeiten. Der Mann hinter den Resultaten steht in dem Ruf, ein schwer genießbarer Zeitgenosse zu sein. Procycling erinnert sich, ihn vor vielen Jahren, als er Sportlicher Leiter bei Rabobank war, angerufen zu haben, nur um sich eine wütende und durch nichts veranlasste Tirade anzuhören, dass die holländischen Fahrer nicht motiviert genug seien. Doch „Joopi“ hatte einen ausgeprägten Sinn für Humor, wenn auch einen schuljungenhaften. Durch einen schweren Unfall mit Kopfverletzungen hatte er 1974 seinen Geruchssinn verloren, und Zeitgenossen von anderen Teams erinnern sich, dass er in der ersten Stunde der Etappen „einen fahren ließ“ und dann durchs Peloton jagte und „Weeeetabix!“ schrie.
Zoetemelk ist jetzt über 60 und sieht noch ganz fit aus – er fährt rund 3.000 Kilometer im Jahr. Als Interviewpartner finden wir ihn in der Tat ein bisschen kurz angebunden – nach einer Stunde beendet er das Gespräch abrupt mit den Worten: „Okay, das reicht jetzt, oder?“ Ansonsten ist er einigermaßen freundlich und spricht offen über die Tour-Niederlagen, die ihm Eddy Merckx, Luis Ocaña, Bernard Thévenet, Lucien Van Impe und Bernard Hinault beibrachten. Von den Fünfen, erinnert sich Zoetemelk, war „Merckx als Rivale viel härter als Hinault. Er wollte alles. Hinault war wählerischer. Selbst bei den Kriterien gewann er nur hier und da. Er war gelassener.“ Nachdem er so brillant gestartet war, hatte Zoetemelk im ersten Drittel seiner Rundfahrt-Karriere stets Merckx vor der Nase. „Das musstest du akzeptieren“, sagt er, „er war im Zeitfahren immer besser als ich. In den Bergen konnte ich ein bisschen dagegenhalten, aber nicht sehr. So war es immer.“ Manchmal dafür kritisiert, als Fahrer zu passiv zu sein – es hieß sogar, er sei so blass, weil er ständig im Schatten von Merckx fuhr –, sagt Zoetemelk: „Ich habe Merckx erst 1974 geschlagen, beim Zeitfahren zum Mont-Faron bei Paris – Nizza und dann bei der Setmana Catalana.“ Die Erfolgsserie riss durch einen schweren Sturz beim Midi-Libre, der Zoetemelks Karriere fast beendet hätte. „Ein Auto war 100 Meter vor der Ziellinie geparkt und ich brach mir den Schädel. Es war ein Jammer, fast alles in meinem Körper war gebrochen, als ich so gut unterwegs war. Ich wollte nicht aufgeben und auf jeden Fall weitermachen. Wenn ich 35 gewesen wäre, wäre es etwas anderes gewesen. Stattdessen bin ich beim Étoile de Bessèges im Februar in die nächste Saison gestartet. Ich gab alles, hatte aber Probleme mitzuhalten. Bei der Mittelmeer-Rundfahrt war es dasselbe. Doch dann habe ich Paris – Nizza gewonnen. Ich habe immer versucht, schon früh in der Saison gute Ergebnisse einzufahren – in Vorbereitung auf die Tour. Das war eine Art Versicherung für den Rest des Jahres, das konnte mir niemand mehr nehmen.“
Drei Siege bei Paris – Nizza (1974, 1975 und 1979) zeugen davon, wie erfolgreich Zoetemelk im Frühjahr immer war, ebenso wie ein Sieg bei Tirreno – Adriatico 1985, als er mit 38 Jahren der älteste Gewinner des „Rennens zwischen den zwei Meeren“ wurde. Außerdem feierte er beim Flèche Wallonne 1976 seinen Sieg bei einem Ardennen-Klassiker. „Das Ziel war flach. Ich konnte mich an der Côte de la Haute-Levée absetzen und eine Minute auf Merckx, Freddy Maertens und Frans Verbeke herausfahren. Dann bin ich die letzten 30 Kilometer allein gefahren.“ Aber es war Hinault, den Zoetemelk schließlich bei der Tour 1980 bezwang. Im Vorjahr hatten sich die beiden ein erbittertes Duell geliefert. Hinault hatte einen Plattfuß gehabt und war auf der Etappe nach Roubaix von einem Streik aufgehalten worden, dann in den Alpen aber wieder an Zoetemelk vorbeigezogen. 1980 trug Hinault das Gelbe Trikot, als er mit einer Knieverletzung aufgab, sodass Zoetemelk freie Fahrt hatte. „Wir wussten: Wenn Hinault 100 Prozent fit war und ich 100 Prozent fit war, gewann immer Hinault“, sagt Zoetemelk. „Selbst wenn er bei 90 Prozent und ich bei 100 Prozent war, hätte ich ihn nicht schlagen können. Dennoch änderte der Sieg alles. Niemand erinnert sich im Radsport je an den Zweiten – stellen Sie sich vor, was es für ein Gefühl ist, fünfmal auf dem zweiten Platz zu landen. Die mit Abstand schönste Erinnerung an meine Karriere ist, nach so vielen Jahren im Gelben Trikot auf die Champs-Élysées zu fahren.“ Er und Jan Janssen sind die beiden einzigen holländischen Toursieger und nach ihnen war Erik Breukink der einzige andere Fahrer aus Holland, der in Paris auf dem Podest stand. „Jedes Jahr werden Jungs wie Robert Gesink und Steven Kruijswijk als Favoriten gehandelt und jedes Jahr geht etwas schief. Ich weiß nicht, was los ist.“
Was seinen späten Durchbruch bei der Tour angeht, so gab sein Vuelta-Sieg 1979, sein erster Sieg bei einer großen Rundfahrt, Zoetemelk viel Selbstvertrauen für den folgenden Juli. Dasselbe tat sein Teamwechsel nach zehn Jahren bei französischen Arbeitgebern zum holländischen Rennstall TI-Raleigh, der die Tour de France 1980 klar dominierte. „Wir gewannen insgesamt zwölf Etappen, darunter die beiden Mannschaftszeitfahren; in dem Team zu sein, war ausschlaggebend. Sie haben so viel härter gearbeitet, um hier eine Minute oder dort eine Minute für dich rauszufahren. Es war viel leichter und sie waren viel besser organisiert als einige andere belgische und französische Teams. Ich war seit 1974 bei Mercier gewesen und sie waren wirklich gut, aber Etappen wie das Mannschaftszeitfahren fielen bei der Tour immer sehr ins Gewicht.“ Es war eine Spezialität von TI-Raleigh. Das Team half ihm auch auf andere Weise, seine eigenen Schwächen zu kaschieren, denn er litt in der ersten Hälfte der Tour unter einer Magen-Darm-Entzündung. Als Hinault aufgab und Zoetemelk sich bewähren musste, war der Holländer auf dem Weg der Besserung. „Ich wurde von Tag zu Tag stärker“, erinnert er sich. Schließlich gewann er mit einem deutlichen Vorsprung von sieben Minuten vor seinem Landsmann Hennie Kuiper.
Dass er vor diesem Toursieg so viele knappe Niederlagen hinnehmen musste, ist in mancher Hinsicht auch direkt darauf zurückzuführen, dass Zoetemelk mit einem phänomenalen zweiten Platz bei der Tour 1970 in seine Profikarriere startete. „Ich bin nicht langsam an den Radsport herangeführt worden“, scherzt er. „Es war eine schwere Tour in jenem Jahr und es gab keine Ruhetage. Meine Haupterinnerung an das Jahr war, dass ich immer Angst hatte, dass etwas schiefgehen könnte.“ Es wird auch häufig vergessen, dass es Zoetemelk war, der die Tradition von Alpe d’Huez als „Berg der Holländer“ begründete, indem er dort 1976 und 1979 gewann. Innerhalb von sieben Jahren holte Holland sechs von acht möglichen Siegen auf dem Kultanstieg, wobei ein Drittel davon auf Zoetemelks Konto ging. „Mein Sieg 1979 war mein Lieblings-Etappensieg bei der Tour“, sagt Zoetemelk, der insgesamt zehn Tageserfolge bei der großen Schleife zu Buche stehen hat. Die zweite von zwei aufeinanderfolgenden Etappen nach Alpe d’Huez in dem Jahr „war die letzte Gelegenheit für mich, bei einer Bergetappe etwas auszurichten. Es war ein 119 Kilometer langes Teilstück rund um Bourg d’Oisans. Ich habe am Fuß von Alpe d’Huez angegriffen. Bernard Hinault war die ganze Zeit hinter mir, 30 oder 40 Sekunden zurück. Aber es war meine letzte Chance zu gewinnen. Das konnte ich mir nicht entgehen lassen.“
Trotz dieser Erfolge waren es die Eintagesrennen, die schließlich Zoetemelks größte Stärke wurden. Obwohl er bei der Tour 1982 mit 36 Jahren den letzten seiner sechs zweiten Plätze holte, sagt er, „fiel es mir immer schwerer, drei Wochen durchzuhalten. Die Klassiker waren da eine andere Geschichte.“ Das waren sie sicher. Bei der Weltmeisterschaft 1985 in Giavera de Montello war Zoetemelk der Cleverste in einer Gruppe von 20 Fahrern, die das Rennen unter sich ausmachten. Nachdem Stephen Roche am letzten Anstieg des Rundkurses attackiert und Greg LeMond seinen Angriff neutralisiert hatte, nutzte Zoetemelk eine Welle, um ein paar Sekunden auf die Gruppe herauszufahren. Da zwei holländische Teamkollegen hinten blockten, war das Rennen gelaufen und Zoetemelk konnte in diesem glorreichen Moment darüber nachdenken, seine Karriere erhobenen Hauptes zu beenden. „Es war ein sehr guter Moment für mich. Ich war zur WM gereist, um als Domestike oder als Kapitän zu arbeiten. Dann bin ich in eine Ausreißergruppe gegangen, die sich früh gebildet hat, bevor ich wieder etwas rausnahm und dann dar-auf achtete, dass ich mit zwei Teamkollegen in der Spitzengruppe vertreten war. Es war der perfekte Abschluss für meine Karriere. Nun ja, fast, weil ich gesagt hatte, dass ich meine Karriere dort beenden will, aber dann doch noch ein Jahr drangehängt habe. Normalerweise hätte ich aufgehört, aber ich konnte nicht. Erst nachdem ich 1987 Amstel Gold gewonnen hatte, sagte ich mir: Okay, jetzt höre ich aber wirklich auf.“ Die britische Zeitschrift Cycling Weekly schrieb über die Amstel-Austragung in jenem Jahr, dass der britische Außenseiter Malcolm Elliott um den Sieg gebracht worden sei, weil drei holländische Fahrer verschiedener Teams – darunter Zoetemelk – in einer fünfköpfigen Spitzengruppe waren und eine unselige Allianz eingingen. „Ein britischer Sieg hätte das holländische Radsport-Prestige schwer angekratzt“, wusste das Magazin zu berichten, „also begruben Joop Zoetemelk (Superconfex), Steven Rooks (PDM) und Teun Van Vliet (Panasonic) ihre Team-Differenzen für einen Tag und arbeiteten zusammen, um den gefürchteten Sprinter Elliott (ANC-Halfords) auszuschalten.“ Zoetemelk attackierte schließlich drei Kilometer vor der Linie, während Elliot (nachdem sein Teamkollege Joey McLoughlin beim Amstel Gold 1986 Vierter geworden war) den dritten Platz holte und damit als erster britischer Profi eines britischen Teams einen Podiumsplatz bei einem Klassiker belegte.
Wie weit es der Radsport in dem Inselstaat seitdem gebracht hat, verdeutlicht ein Satz aus dem alten Bericht über die Stimmung nach dem Rennen: „Ausnahmsweise einmal war Englisch die Sprache bei einem Rennen auf dem Kontinent. Der Rennkommentator interviewte Elliott für die Zuschauer und dann scharte sich die Presse um ihn, gierig nach Informationen über diesen ‚Unbekannten‘, der eine so gute Leistung abgeliefert hatte.“ Doch Elliots Geschichte war nur eine Randnotiz im Vergleich zu Zoetemelk, dessen lange Karriere mit dem Sieg beim größten Klassiker seines Landes endete. „Als ich aufhörte, war ich bei Kwantum und [Teamchef] Jan Raas wollte, dass ich als Sportlicher Leiter dabei bleibe. Dann wurde es Wordperfect und später Novell.“ Bei einer Karriere, die sich bis ins Jahr 1987 – das Jahr von Stephen Roches Giro/Tour/WM-Triple – erstreckte, war Zoetemelk doch bestimmt Zeuge einiger tiefgreifender Veränderungen im Radsport in den letzten Jahrzehnten? Das war nicht der Fall, sagt er. „Die Bezahlung war am Anfang viel schlechter“, blickt er zurück, „aber bis zum Schluss hatten wir wenig Unterstützung. Nur zwei Masseure, zwei Mechaniker und ein Junge, der das Gepäck trug. Anfangs warst du im Prinzip allein. Jeder Profi fuhr für sich, es war ein sehr einsames Leben. Dein Sportlicher Leiter oder deine Teamkollegen gaben dir zwar Tipps, aber wenn du mit jemandem reden wolltest, musstest du dir einen Journalisten suchen.“ Doch man hat den Eindruck, dass ihm die Isolation nicht allzu sehr zu schaffen machte, zumal er und seine französche Frau auf dem Land in der Nähe von Paris leben. Im Ruhestand kümmert er sich heute um eine Schar von Truthühnern, geht ein bisschen jagen und verfolgt das Geschehen im Radsport. Er sieht sich alle Klassiker im Fernsehen an, „aber nur die letzten 30 Kilometer oder so. Mailand –San Remo schaue ich mir ab der Cipressa an, denn da wird es spannend“, sagt er. Und wenn einer der älteren Fahrer im heutigen Peloton, der noch auf ein großes Ergebnis wartet, sich Zoetemelk zum Vorbild nähme und sich von ihm inspirieren ließe, wäre es keine Überraschung.