Guiseppe Martinelli – der stille Revolutionär

Astana müsste vielleicht sein Image aufbessern, doch es ist eines der transparentesten Teams im Radsport. Beeindruckend ist vor allem, dass die Läuterung der Equipe von einem knorrigen Italiener der alten Schule in die Wege geleitet wurde. Wie lassen sich die Pessimisten also am besten überzeugen?

 

Bei der ITV4-Berichterstattung von der Tour de France waren drei Parteien eingeladen, sich zu Spekulationen zu äußern, dass Doping im Radsport immer noch verbreitet sei. Zu Wort kamen David Millar, Dave Brailsford und der irische Journalist Paul Kimmage, der sich seit Jahren vehement gegen Doping einsetzt. Kimmage vertrat die Ansicht, dass der Radsport eine Entscheidung treffen müsse, sich praktisch zwischen zwei Wegen zu entscheiden habe. Diesen Punkt verdeutlichte er, indem er die Prinzipien zweier mit Ex-Dopern besetzter Teams zitierte. Garmin-Boss Jonathan Vaughters lobte er als Paradebeispiel für einen reuigen Ex-Profi. Dessen Team hat sich den Kampf gegen Doping auf die Fahnen geschrieben, und seine Philosophie, echten Büßern eine zweite Chance zu geben, gilt vielen als ebenso pragmatisch wie vernünftig. Kimmage resümierte, Vaughters habe sich zu einer positiven Kraft entwickelt, und er hat wahrscheinlich recht. Obwohl der Amerikaner in seiner gesamten Karriere über seine eigenen Doping-Praktiken gelogen hat, kann man kaum auf etwas anderes plädieren. Nicht sehr an Nuancen und Zwischentönen interessiert, feuerte Kimmage dann eine Breitseite gegen Astana-Manager Alexander Winokurow ab. 2007 wegen einer Bluttransfusion aus der Tour geflogen, porträtierte er den Kasachen als Bilderbuch-Bösewicht und als unverbesserlichen Doper. Solange der Sport seinesgleichen unterstütze, lautete das Argument, werde er sich nie aus der Fallgrube der Korruption befreien, in die er sich selbst gestürzt habe. Dies war – zusammengefasst in einem zweiminütigen Zitat – also die Wahl: Wino oder Vaughters, Astana oder Garmin. Kain oder Abel …

Drei Wochen nach Kimmages Verbalattacke verkündete Astana, Franco Pellizotti verpflichten zu wollen – als Unterstützung für Vincenzo Nibali bei der Tour 2014. Damit verscherzte es sich das Team auf einen Schlag mit der Bewegung für einen glaubwürdigen Radsport (MPCC), der es sich – ebenso wie Garmin – freiwillig angeschlossen hatte. Denn die Regeln der MPCC verlangen, dass seine Mitglieder überführte Doper erst zwei Jahre nach Ablauf ihrer Sperre engagieren dürfen. Da Pellizottis Fahrverbot im Mai 2012 endete, war Astana gezwungen, den ursprünglichen Vertrag zu zerreißen und einen neuen aufzusetzen. Pellizotti wird vor dem Giro kein Rennen bestreiten können, aber Regeln sind eben Regeln. Er muss noch etwas länger warten, bis er sich den Garmin-Profis Millar, Danielson und Dekker im „Second Chance Saloon“ anschließen kann … Mundfaul bis zur Einsilbigkeit, ist Winokurow in mancher Hinsicht das genaue Gegenteil von Vaughters. In diesem Punkt hat Kimmage recht, und es macht den Kasachen auch zu einem leichten Ziel. Aber in der Praxis sind die Wege, die er und Vaughters gegangen sind, gar nicht so unterschiedlich. Beide haben die Regeln gebrochen – wobei Vaughters während seiner Karriere keine UCI-Sanktionen erleiden musste –, und beide setzen sich nun, wie es aussieht, dafür ein, den Sport zu säubern.

Der größte Unterschied, so scheint es, ist, dass der eine ein hervorragender Kommunikator ist und der andere so gesprächig wie ein Fisch. Und im modernen Radsport ist es oft so, dass Worte viel, viel mehr sagen als Taten. Trotzdem gehört Wino in seinem Heimatland zum Sportadel, spielt daher bei Astana eine wichtige Rolle als Macher und Botschafter. Er liefert kasachisches Geld, Einfluss und Profil, während der tägliche Betrieb seines Rennstalls an seinen chargé d’affaires delegiert ist. Dieser Mann ist Giuseppe Martinelli oder „Martino“, wie ihn seine Freunde nennen. Martinelli, seit 40 Jahren im Geschäft, war Zeuge der wohl turbulentesten Periode in der Geschichte des Sports. Er war auch Mastermind einer echten Revolution bei Astana, einem Team, das einst ein Synonym für Korruption war. Eine stille Revolution vielleicht, aber deshalb umso bemerkenswerter. 2006 fuhr Wino für Liberty Seguros. Im Zuge der Operación Puerto stieg der Sponsor aus, woraufhin kasachisches Geld aufgetrieben wurde, um das Team über Wasser zu halten. Wino revanchierte sich für die Unterstützung, indem er die Vuelta gewann, und beantragte eine Lizenz und weiteres Kapital für 2007. So wurde, vereinfacht ausgedrückt, ein Team geboren. Wino sollte sowohl Katalysator als auch Aushängeschild sein, seine Erfolge sollten Prestige und Glaubwürdigkeit für einen wenig bekannten ehemaligen sowjetischen Satellitenstaat erzeugen. Was Astana jedoch tatsächlich ablieferte, von Anfang an, waren Negativschlagzeilen und Skandale. Matthias Kessler und Eddy Mazzoleni wurden positiv getestet, noch bevor Wino an dem Ast sägte, auf dem er saß. Es folgten finanzielle Querelen und Dopinggeschichten, die dazu führten, dass (ausgerechnet) Johan Bruyneel installiert wurde, um die Glaubwürdigkeit wiederherzustellen. Als Lance Armstrong 2009 dazustieß, spaltete sein interner Kampf mit Alberto Contador das Team bei der Tour. Contador behielt die Oberhand, und kurz darauf kehrte Winokurow aus dem Exil zurück und bootete Bruyneel aus. In jenem Winter lief die Armstrong-Fraktion zu RadioShack über.

Als Contador und Wino 2010 bei der Tour beziehungsweise bei Lüttich triumphierten, schienen die Probleme der Vergangenheit anzugehören. Doch nicht ganz … Contadors spanischer Kader ging Ende 2010 von Bord und heuerte bei Saxo Bank an, während Martinelli Yvon Sanquer als Leiter des Tagesgeschäfts ablöste. Der Spanier trug im folgenden Jahr Rosa in Mailand, bevor ihm der Giro und die Tour, die er für Astana gewonnen hatte, aberkannt wurden. Das sollte sich als Wendepunkt im Leben von Martinelli und seinem neuen Team herausstellen. Eine Reihe von Management-Teams hatte es nicht geschafft, eine üble Dopingkultur in den Griff zu bekommen, die jegliche Glaubwürdigkeit zerstörte. Astana war bei allen guten Absichten zur Verkörperung der Missstände im Radsport geworden, und irgendwie musste die neue Führungsriege das Problem anpacken. Aber wie? Teamarzt Andrea Andreazzoli erinnert sich an den Moment, als der Groschen fiel. „Wir mussten etwas unternehmen, und er [Martinelli] erwähnte die Arbeit, die das Centro Regionale Antidoping in Orbassano bei Turin leistet. Wir beschlossen, dort einmal hinzugehen und uns umzusehen, weil klar war, dass wir Hilfe brauchten. Wir fingen an zusammenzuarbeiten, und Tatsache ist, dass es ein Erfolg war.“

Das Institut in Orbassano ist ein privates Unternehmen, das von Dr. Paolo Borrione betrieben wird. Er leitete das Antidoping-Programm bei den Winterspielen 2006 und ist Mitglied des CONI und der WADA. Die Astana-Fahrer werden von seinem Team betreut und das ganze Jahr über rigoros getestet. Das Programm, das auf Trainingskontrollen und Blutprofilen beruht, läuft parallel zu dem der UCI und gibt dem Management ein zusätzliches Sicherheitsnetz im Kampf gegen Doping. Andreazzoli schreibt Martinellis Vorsorge der neuen Einstellung zu. „Er hat einen traditionellen Hintergrund, hat aber erkannt, dass wir eine neue Kultur brauchen, also hat er etwas unternommen. Dass wir es nicht an die große Glocke gehängt haben, mag ein Fehler sein, der unserer Mentalität geschuldet ist, aber wir sind Italiener, keine Angelsachsen. Wie dem auch sei, wir tun es lieber, als dass wir darüber reden, und ergreifen Maßnahmen, die etwas bewirken. Den möchte ich sehen, der uns unterstellt, dass wir uns nicht für einen sauberen Radsport engagieren. Die Journalisten geben es vielleicht nicht gerne zu, aber es ist jetzt ein komplett anderes Milieu.“ Unter Martinellis Regie hat Astana, Lieblings-Prügelknabe der Doping-Medienkriege, keinen einzigen Dopingfall gehabt. Drei Jahre in Aktion, zahlreiche Siege, null positive Tests, null Auffälligkeiten im biologischen Pass. Das ist vielleicht kein Material für eine gute Story, aber so ist es. Der Architekt dieses Wandels ist einer der großen Überlebenden des Radsports.

 

In der Nähe des radsportverrückten Brescia geboren, entwickelte sich Martinelli zu einem sehr ordentlichen Sprinter. 1976 holte er Silber im olympischen Straßenrennen in Montréal und unterschrieb in der folgenden Saison seinen ersten Profivertrag. Obwohl keinesfalls ein Champion, war er als Rennfahrer schnell und ausdauernd, gewann drei Giro-Etappen und fuhr eine Reihe von Top-Ten-Plätzen bei Mailand – San Remo ein. Vor allem hatte er sich, als er sein Rennrad 1985 an den Nagel hängte, den Ruf erworben, fleißig und pragmatisch zu sein, ein Mann mit Durchsetzungsvermögen. Als Primo Franchini, einer der klugen alten Köpfe des italienischen Radsports, ihm einen Posten als Sportlicher Leiter in seinem unbedeutenden Ecoflan-Team anbot, erwies sich Martinelli als der richtige Mann für den Job. Nach zwei Jahren bekam Martinelli einen Anruf von Davide Boifava, der ebenfalls aus Brescia stammte. Er leitete das starke Carrera-Team und brauchte Hilfe, um ein paar ziemlich große Egos zu bändigen. So wurde Martino – ausgleichend, unparteiisch und bauernschlau – beauftragt, Größen wie Claudio Chiappucci und Roberto Visentini unter einen Hut zu bringen. Was nicht ganz einfach war … Der große Kletterer Chiappucci wurde Zweiter der Frankreich-Rundfahrten 1990 und 1992, als EPO sich im Peloton zu verbreiten begann. Seine Rivalität mit Gianni Bugno war Dynamit für den italienischen Radsport, da Carrera viele Rennen gewann, sowohl im In- als auch im Ausland. Dann nahmen sie 1993 den Gewinner des „Baby Giro“ unter Vertrag, einen launenhaften kleinen Kletterer namens Marco Pantani. Ursprünglich angewiesen, Chiappucci im Hochgebirge zu helfen, verdrängte Pantani ihn beim Giro 1994. Podiumsplätze dort und in Paris überzeugten die Tifosi, dass er, nicht Chiappucci, die Zukunft war. Als Chiappucci gekränkt war und Pantanis Charisma alle Aufmerksamkeit auf sich zog, wurde klar, dass sie nicht koexistieren konnten, und Martinelli musste den Streit schlichten. 1996 ging Chiappucci, sieben Jahre älter als der junge Aspirant, zu Boifava beim neu gegründeten Asics-Team.

Die Zukunft war, zumindest für Martinelli, rosig: ein neues Team, Mercatone Uno, das ganz auf Marco Pantani ausgerichtet war. Je nach Interpretation stellte Pantanis Giro-Tour-Double 1998 entweder den Höhepunkt oder den absoluten Tiefpunkt des Radsports der Neunziger dar. Als sein Ruhm zu Hause pandemische Proportionen annahm, wurde der kleine Kletterer mit den großen Ohren noch narzisstischer, noch schwerer zu bändigen. Als Pantani beim Giro 1999 disqualifiziert wurde, weil er die Hämatokrit-Grenze der UCI überschritt (was einem positiven Test auf EPO gleichkam), begann die Abwärtsspirale, die 2004 in seinem Tod mündete. Boifava glaubt, dass Martinelli, eigentlich ein anständiger Mann, ein Opfer seiner Bewunderung für Pantani war: „Die Strafe war damals eine zweiwöchige Sperre ,aus gesundheitlichen Gründen‘. Martinelli war ein zu großer Fan von Pantani und wahrscheinlich zu sehr geneigt, ihm nachzugeben. Er hätte nach dem Giro härter zu ihm sein und darauf bestehen sollen, dass er die Tour fährt. Stattdessen ging Pantani zurück nach Cesenatico, wo es mit ihm bergab ging.“ Martinelli sollte Stefano Garzelli zum Giro-Sieg 2000 führen, wo Pantani als gregario di lusso neu besetzt war.

Doch sein Verhältnis zum kokainabhängigen Pantani hatte Risse bekommen. Nicht einmal er, der große Diplomat, konnte das Unkontrollierbare kontrollieren. Martinelli wechselte zu Saeco und führte Regie bei Gilberto Simonis Giro-Sieg 2003. Im folgenden Februar, als Pantani in einer schäbigen Absteige an der Adria an einer Überdosis starb, brach Martinellis Welt zusammen; Freunde von ihm beobachteten gar eine Veränderung seiner Persönlichkeit. Zehn Jahre später gibt er zu, dass die Wunde nie ganz verheilen wird. „Ich weiß nicht, ob man je über so etwas hinwegkommen kann. Alle in Italien glauben, dass sie wissen, was passiert ist, und alle geben ihren Senf dazu. Ich will dazu nicht auch noch beitragen, sondern nur sagen, dass ich zwei Kinder hatte, und für mich war er wie ein drittes. Zum Schluss bestand die tägliche Beziehung nicht mehr, weil ich ihm nicht mehr helfen konnte. Viele Leute haben Fehler gemacht, und ich will mich da nicht ausschließen. Aber ich kann mit meinem Gewissen leben, weil ich weiß, dass ich immer mein Bestes für ihn gegeben habe.“

In Mai desselben Jahres ließ Simonis junger Teamkollege Damiano Cunego bei Martinellis nächstem Giro-Erfolg eine Bombe hochgehen. Martinelli ließ die beiden Kontrahenten machen, und Cunego triumphierte in Mailand. Nach einem dreijährigen Intermezzo bei Lampre und einer Saison bei Amica Chips tauchte Martinelli bei Astana wieder auf. Er hat Nibali mit behutsamer und fester Hand geführt, und Tiralongo, einer seiner Leutnants bei großen Rundfahrten, sagt klar: „Wir sind seit 2006 mit Unterbrechungen zusammen. Er ist einer der Besten, und ich habe viel Respekt vor ihm. Seine große Stärke ist, dass er weiß, wie man mit Champions umgeht, aber dass er den gregari genauso viel Respekt entgegenbringt. Er ist gerecht und auch sehr fair. Ein Radsportteam aufzubauen, ist ein heikler Prozess, und dazu braucht man viel Fingerspitzengefühl. Was er versteht, wahrscheinlich besser als jeder andere, ist, dass es auf die Gruppe ankommt. Er verlangt bedingungslosen Einsatz für den Kapitän, aber wenn du dein Bestes gibst, behandelt er dich mit Respekt.“

Martinellis jahrelanger Erfolg und das Team, das er aufgebaut hat, zeugen von einer beispielhaften sozialen Kompetenz; von daher könnte man argumentieren, dass seine größte Errungenschaft nicht auf einer Ergebnisliste zu finden ist. Vielmehr liegt sie in der Art, wie er an seine Arbeit herangeht, und in dem tiefgreifenden – und nach allgemeinem Dafürhalten echten – Kulturwandel bei Astana, den er herbeigeführt hat. Wie alle WorldTour-Bosse ist Martinelli auf die Moral und Integrität seiner Fahrer angewiesen, aber wie Dr. Andreazzoli bestätigt, ist dies bezeichnend für die Substanz des Mannes: „Er hat kein wirkliches Ego. Das ist seine Stärke – und auch seine Schwäche. Er ist nicht so charismatisch wie andere, jedoch ein absolut korrekter Typ, und er hatte die nötigen Mittel und die moralische Überzeugung, um etwas zu verändern.“ Der Radsport scheint ständig auf der Suche nach Sündenböcken zu sein. Für das Team Astana, beladen mit der schmuddeligen Geschichte des Sports, schien die Kappe immer maßgeschneidert zu sein. Doch nun passt sie nicht mehr; sie entspricht nicht mehr der Realität dessen, wer sie sind oder was sie tun, sondern vielmehr unseren eigenen alten, schlecht durchdachten Vorurteilen. Unter Giuseppe Martinelli haben sie das hinter sich gelassen. Wäre es da nicht an der Zeit, dass wir das auch täten? 



Cover Procycling Ausgabe 118

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 118.

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