Verdorbene Liebe

Wie sich herausstellt, ist das Vertrauen das größte Opfer der ersten Post-Armstrong-bei-Oprah-Tour: der Glaube, dass die Offiziellen den Sport im Griff haben oder dass die Journalisten die Wahrheit herausfinden können, der Glaube, dass körperliches Talent und jahrelanges Training reichen, um einen so klaren Sieg zu feiern wie Froome. Da wir wissen, was wir wissen – können wir unseren Augen je wieder trauen?

 

Der Sojasun-Manager Stéphane Heulot hatte sicher nicht unrecht, als er über Chris Froome und das Gefühl eines Déjà-vu sprach. Es war immerhin eine dieser Frankreich-Rundfahrten, wo an jedem Tag, auf jeder Etappe, egal, wer du warst, und egal, wie du es betrachtetest, ein Bild, ein Flackern, ein Gefühl oder ein Thema auftauchte, das die schlimmen Erinnerungen zurückbrachte.

Froome und Richie Porte fahren in Ax 3 Domaines allen davon – es war dasselbe Paar, das das Gleiche machte wie im März auf dem Col de l’Ospedale beim Critérium International. Es waren auch Froome und Wiggins im letzten Jahr. Noch ein Flashback: diese unschönen, aber verheerend effektiven Beschleunigungen am Berg – wie jemand auf einem Motorrad, sagte David Millar –, was eine exakte Wiederholung dessen war, was wir bei der Tour de Romandie und der Dauphiné gesehen hatten, die Froome beide in Gelb beendete. Und schließlich derselbe Hagel von Zweifeln und Fragen, dem Wiggins 2012 ausgesetzt war – nur eine ganz andere Art, darauf zu reagieren, und eine, die so zu Froomes Charakter passt wie Wiggins’ Reaktion zu ihm gepasst hatte.

Heulot meinte auch, etwas anderes zu sehen, eine Wiederholung einer anderen Szene. Als er Froome sah, fühlte er sich an die erste „Tour du Renouveau“ oder „Tour der Erneuerung“ erinnert. Es war das Jahr 1999, Heulot fuhr noch Rennen, genau wie Lance Armstrong natürlich. Einer von Heulots damaligen Teamkollegen, Christophe Bassons, brachte in einer Zeitungskolumne seine Zweifel an Armstrong zum Ausdruck, und Heulot war einer von denen, die ihm rieten, lieber still zu sein. Aber ein Jahr später sah Heulot, wie Armstrong den Mont Ventoux hochsprintete, und wusste instinktiv, dass Bassons recht gehabt hatte: Der Amerikaner dopte. 2013 sollte Heulot auf demselben Berg Zeuge einer, wie er fand, exakten Replik von Armstrongs Leistung im Jahr 2000 werden, bis hin zum Einsatz illegaler Substanzen oder Methoden. Die Hände in den Taschen, die Schultern hängend, lehnte er an seinem Sojasun-Mannschaftswagen einige Hundert Meter hinter dem Gipfel des Ventoux und versuchte, Worte zu finden. „Froome hat allen einen K.-o.-Schlag verpasst. Es war wie ein Déjà-vu.“
Déjà-vu. Da war es.

Heulot fuhr fort: „Es war unglaublich. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Es ist eine Schande. Das Peloton ist sich seiner Verantwortung wirklich bewusst geworden. Aber ich weiß nicht …[Froome] stellt es nicht einmal besonders clever an. Er unterhält sich über Funk, während er klettert. Einige Leute dachten, er fängt im nächsten Moment an zu singen. Wenn du weißt, was es für eine Kraft kostet, auf dem Ventoux auch nur einen Schluck aus deiner Flasche zu trinken …“
Übersetzt: Das ist ohne Doping unmöglich.
 
Eine kritische Prüfung ist eine Sache, aber eine indirekte Anschuldigung eine andere. Man muss fairerweise sagen, dass Heulot sein vernichtendes Urteil nach der ersten Aufregung tatsächlich ein klein wenig korrigierte. Er habe „kein Recht, Froome zu beschuldigen“, und es werde „immer jemanden geben, der Erster wird und der Letzter wird“, räumte er ein. Mit hängenden Armen fragte er schließlich: „Was weiß ich?“ Trotzdem konnten Heulots Überlegungen den Reflex nicht abstellen, der ihn auf dem Ventoux getroffen und durchzuckt hatte, als Froome Alberto Contador abservierte, unter dem höhnischen Gejohle eines Teils der Pressemeute unten im Tal in Vaison-La-Romaine. Heulot kam nicht umhin zu denken, dass Vergleiche mit vergangenen Frankreich-Rundfahrten wichtig sind, und die Tatsache, dass Froome die letzten sechs Kilometer des Ventoux eine halbe Minute schneller zurücklegte als Armstrong und Marco Pantani 2000, log nicht. Heulot fügte hinzu: „Als er bei Barloworld war, hätte ich keinen Cent darauf gewettet, dass seine Karriere einmal so glorreich werden würde.“

In dem Punkt waren sich fast alle einig. Fast alle. Denn für einige wenige war Chris Froomes Sieg bei der Tour de France 2013 nur eine Wiederholung, ein weiteres Déjà-vu dessen, was sie ihn bei vielen anderen Gelegenheiten, Jahre zuvor, hatten machen sehen. Dan Craven, der mit Froome vor seiner Barloworld-Zeit fuhr, hat früher schon gesagt, er würde sich nicht fragen, wo Froome herkommt oder ob er eine Tour gewinnen könne, sondern, wo ein Fahrer, der ganz klar solche Fähigkeiten hat, in den 18 Monaten seit seinem Wechsel zu Sky geblieben sei. Claudio Corti, der Barloworld-Manager, glaubte immer, einen Toursieger in seinen Reihen zu haben, als Froome 2008 und 2009 für sein Team fuhr. Davor war Froome eingeladen worden, am World Cycling Centre der UCI unter den Fittichen des alten französischen Trainers Michel Thèze zu leben und zu trainieren. Damals hatte Froome schon „einen der größten Motoren“, die Thèze je gesehen hatte, bestätigt durch Tests, tat sich aber schwer mit der Taktik des Sports, seiner Position auf dem Rad und auch mit der „Umstellung von einem Feld von 50 Fahrern auf ein viermal so großes“. Seine Stürze waren häufig und oft Gegenstand von Belustigungen.

Er war ein Rohdiamant, den zu schleifen Jahre dauern sollte, aber einer, der schon damals gelegentlich funkelte. „Ich bin überhaupt nicht überrascht, dass er ist, wo er ist“, sagte Thèze im letzten Jahr, als Froome in La Planche des Belles Filles seinen ersten Tour-Etappensieg gefeiert hatte. „Das kann man nicht als merkwürdig bezeichnen – nein“, fuhr er fort. „Wenn ein Junge aus Kenia 2007 eine Etappe des Giro delle Regioni in Italien gewinnt, zu der Zeit, dann wissen wir, dass das eine große Sache ist. Aber wenn du seine physischen Qualitäten kennst und siehst, dass er auch das Mi-Août Bretonne, ein weiteres prestigeträchtiges Rennen, gewonnen hat, obwohl er am Ende jeder Etappe isoliert war, dann verstehst du, dass der Junge einiges Potenzial hatte.“
 
Von Beginn der Tour 2013 an verliefen die Fronten abseits der Straße ungefähr so: Auf der einen Seite des großen Grabens waren die, die außer Doping keine Erklärung für Froomes Brillanz finden konnten und vielleicht kein großes Interesse hatten, danach zu suchen, auf der anderen Seite die, die fanden, dass alle Teilchen zusammenpassten und dem Fahrer samt seinem Team einen Vertrauensbonus gaben oder auch nicht neugierig und verantwortungsbewusst genug waren, um weitere Recherchen anzustellen. Nominell hinter dem gemeinsamen Anliegen eines sauberen Sports vereint, schienen die Parteien des Radsports nie polarisierter. Es ist eine traurige Wahrheit, dass Armstrongs schädlichstes und dauerhaftestes Vermächtnis ein Misstrauen nicht nur bei großartigen Leistungen, sondern bei allem sein wird, eine allumfassende Paranoia, der permanente Verdacht, dass eigene Interessen jedes Urteil beeinflussen.

 

So wurde als Kollateral-Folge des Skandals, den aufzudecken er geholfen hatte, ausgerechnet der Sunday Times-Journalist David Walsh in den Augen seiner Gegner innerhalb weniger Monate vom unbestechlichen Wahrheitssucher zum Speichellecker und Verräter, ein Komplize derer, die mit Lügen hausieren gehen. Es hieß, die Erklärung von Walsh auf den Seiten seiner Zeitung, dass er Froome für sauber halte, sei ein „Akt des blinden Vertrauens“. Der französische Journalist Guillaume Prébois befand, Walsh laufe „Gefahr, jegliche Glaubwürdigkeit zu verlieren und eine Marionette in einem Theater zu werden, das größer ist als das, was er aus sich selbst gemacht hat“.

Aber hier war es wie in vielen Artikeln nicht die Paranoia, die am verstörendsten war – die Idee, dass vielleicht, weil die Sunday Times wie BSkyB teilweise Rupert Murdoch gehört, ihr Korrespondent Sky mit Samthandschuhen anfasst –, sondern die Unaufrichtigkeit von all dem. Prébois wusste sehr gut oder hätte es aufgrund der Arbeit von Walsh in der Vergangenheit wissen müssen, dass er kein Idiot ist, der seinen Ruf gedankenlos aufs Spiel setzt. Leute wie Prébois und Walshs früherer Kollege Paul Kimmage, der sich jetzt öffentlich über seinen alten Freund lustig macht, hätten auch erkennen sollen, dass Walsh seine Meinung nicht auf das Fehlen eines Beweises stützte, sondern auf das Bild, das er sich im Laufe mehrerer Monate, die er mit dem Team verbracht hat, durch stundenlange Gespräche und Beobachtungen bei Rennen und Trainingslagern gemacht hat. Es war dasselbe fundierte Gefühl – Instinkt, gepaart mit Wissen –, das David Millar veranlasste, in einem Interview mit L’Équipe denselben Schluss zu ziehen. Natürlich war die Debatte von einer solchen Art, dass gegen Ende des Rennens Millars Kommentar wie der von Walsh als unaufrichtig – oder schlimmer noch, unehrlich – gesehen wurde. Einige Rüpel behaupteten, Millar müsse Sky unterstützen, weil seine Schwester dort arbeiten würde (obwohl sie ihn 2010 wegen seiner Doping-Vergangenheit nicht verpflichten wollten und Brailsford und Millar nicht mehr miteinander reden). 
 
Doch je mehr Zeit verging, umso mehr ging die Schlammschlacht weiter, umso mehr sah es so aus, als ginge der Anstand verloren in dem Gerangel darum, die Fehler der Armstrong-Jahre wiedergutzumachen. Der Radsport und seine Anhänger sind verroht, nach Jahren der ethischen Codes und Kommissionen sind die moralischen Grundlagen abhanden gekommen. Die Unschuldsvermutung in Abwesenheit von allem, was auch nur annähernd einem Beweis ähnelt, war eine davon: Es ist unrichtig zu sagen, Froome „kam aus dem Nichts“; die Idee, dass ein Sieg mit fünf Minuten Vorsprung automatisch ein Alarmzeichen ist, lässt sich auch nicht belegen. Was die Wattzahlen angeht, die während der ganzen Tour ohne Ende geschätzt und analysiert wurden, so wagten es nicht einmal ihre Lieferanten, sie inkongruent zu nennen. Dopingtests liefern uns, wie wir erfahren haben, nicht alle Antworten – nicht einmal mit der neuen MAIIA-Methode (Membrane Assisted Isoform Immunoassays), die angeblich Mikrodosen EPO aufspüren kann –, aber es mag beruhigen zu wissen, dass Froome während des Rennens 19 Mal getestet wurde. Es wurde etwas von einer nicht nachweisbaren neuen Wunderdroge geflüstert, GAS6, aber nicht einmal die leidenschaftlichsten Verschwörungstheoretiker würden behaupten, dass es das Produkt seit mehr als ein paar Monaten gibt. Deswegen hätte Froome oder irgendjemand anders es bei der Vuelta 2011 oder der Tour 2012 nicht nehmen können.

Auf der Straße war alles einfacher. Froomes Überlegenheit war keine Überraschung angesichts seiner Ergebnisse in dieser Saison, aber die Autorität, mit der er ein manchmal glückloses, manchmal überfordertes Team kommandierte, war nicht vorhergesagt worden. Seine Mannschaft fühlte sich beleidigt durch wenig schmeichelhafte Vergleiche mit dem Aufgebot, das Wiggins 2012 zum Sieg verhalf, obwohl nicht zu bestreiten war, dass David Lopez und Kanstantsin Siutsou nicht in Bestform waren. Bis dieses Paar in den Alpen richtig in Tritt kam, kam Sky vor allem deswegen durch, weil ihre drei jungen Briten – Thomas, Stannard und Kennaugh – herausragend waren. Dabei war Froome am zweiten Tag in den Pyrenäen ohne sie zurechtgekommen bei seiner eindrucksvollsten Vorstellung bei der Tour. Es war leicht, Movistar an diesem Tag mangelnde Courage vorzuwerfen. Movistar erlaubte sich einen viel größeren Patzer im Seitenwind auf dem Weg nach Saint-Amand-Montrond. Die Etappe war, wie die nach Bagnères-de-Bigorre, ein Juwel. Die Ankünfte in Albi, Alpe d’Huez, Ajaccio, Gap und auf dem Gipfel des Le Semnoz waren ebenfalls Perlen in einer Tour, die die letztjährige schon vor dem ersten Ruhetag in den Schatten gestellt hatte.

Das war denjenigen leider entgangen, die darauf fixiert waren, die Anti-Doping-Gesetze selbst in die Hand zu nehmen. Orica GreenEdge-Sportdirektor Matt White sprach an einem Morgen ausführlich darüber, wie frustriert er sei, zugegeben zu haben, als Fahrer in Armstrongs US Postal Team gedopt zu haben, eine Sperre verbüßt zu haben und nun zu sehen, dass die UCI außer einer vagen Idee von einer Wahrheits- und Aussöhnungskommission nichts zuwege gebracht hat. White hat insofern unrecht, als er zu dem Problem beitrug, das einen Schatten auf das heutige Peloton wirft, aber er hat recht, was die Trägheit der UCI angeht, deren Hauptopfer potenziell saubere heutige Fahrer sind. Froome sagte in seiner Sieger-Ansprache, dass sein Gelbes Trikot die Zeiten überdauern würde. Die Frage ist, wie lange er warten muss, bis die Flecken, die seine Vorgänger hinterlassen haben, verblassen dürfen.
 
 



Cover Procycling Ausgabe 115

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