Cioleks Sieg im Gefrierschrank

Der unberechenbarste aller Klassiker, Mailand – San Remo, wurde noch unwägbarer, als ein plötzlicher Wintereinbruch zu einem Stopp des Rennens und einem eiligen Umbau der Strecke führte. Procycling lässt die außergewöhnlichen Ereignisse eines erstaunlichen Tages Revue passieren.

 

Mailand – San Remo soll eigentlich das Frühjahr einläuten, aber die diesjährige 104. Auflage fand, wie Koen De Kort vom Team Argos-Shimano bemerkte, unter Bedingungen statt, die besser zu Biathlon als zum ersten Klassiker der Saison gepasst hätten. Dank der Wetterlage sorgte das größte Eintagesrennen Italiens für mehr Debatten und Fragen als sonst. Die meisten davon drehten sich um die Entscheidung von Renndirektor Michele Acquarone, das Rennen zu stoppen und 40 Kilometer weiter südlich, wo die Bedingungen weniger arktisch waren, neu zu starten. Dabei geriet Acquarone nicht unter Beschuss, weil er das Rennen unterbrach und den Parcours verkürzte, sondern weil er angesichts des drohenden meteorologischen Unheils nicht schnell genug reagierte. Hatte er, wie einige Beobachter ihm vorwarfen, die Sicherheit und Gesundheit der Fahrer aufs Spiel gesetzt? Hätte er das Rennen ganz abblasen sollen? Beugte er sich den Wünschen des Fernsehens, als er Schlüsselstellen des Rennenverlaufs herausschnitt?

Und auch das Ergebnis warf Fragen auf: Wie gewann ein talentierter, aber zuletzt kaum in Erscheinung getretener Fahrer ein Rennen für ein ProContinental-Team, das zum ersten Mal bei einem großen Klassiker antrat? Schmälerte Fabian Cancellaras Kritik an Peter Sagan im Vorfeld des Rennens die Chancen beider Männer? Und schließlich: Sorgte Acquarones Entscheidung für einen der denkwürdigsten Tage in der jüngeren Geschichte des Radsports?
Um mit der Hauptfrage zu beginnen, der Unterbrechung des Rennens, gehen wir zurück zum Start auf der Mailänder Piazza Castello. Murphys Gesetz wollte es, dass – als San Remo zum ersten Mal seit 31 Jahren an einem Sonntag ausgetragen wurde – auf einen glorreichen Samstag ein grauer und verhangener Sonntagmorgen folgte. Es nieselte, und die Luft war kalt, aber um viertel vor zehn deutete in Mailand nichts darauf hin, dass ein heftiger Wintereinbruch bevorstand. Am Vorabend hatten die Meteorologen auf eine Kaltfront hingewiesen, die aus Großbritannien im Anmarsch war, und sie hatten gelegentlichen starken Regen und mögliche Schneeschauer auf über 500 Meter Höhe vorher-gesagt, was die höheren Abschnitte des 572 Meter hohen Turchino gefährdet hätte. Wahrscheinlich verließ sich Acquarone, wie alle anderen, ganz auf die Wetterexperten, als er zu Bett ging.

Als der Sonntag anbrach, hatte sich die Vorhersage etwas geändert. Nach den neuesten Updates drohte es jetzt schon ab 280 Metern zu schneien. Als die Startzeit näher rückte, hieß es, dass Acquarone plane, den Passo Turchino zu streichen oder zumindest das Peloton auf die autostrada umzuleiten, die fast parallel dazu verläuft. Das klingt wenig logisch, da sowohl die Route über den Turchino als auch die Autobahn eine ähnliche Höhe erreichen, doch Letztere führt durch etliche lange Tunnel, durch die die Fahrer die geschütztere Südseite des Passes relativ unbeschadet hätten erreichen können. In Ovada, was auf 184 Meter Höhe liegt und wo Acquarone das Rennen bald stoppen sollte, schoben die Scheibenwischer des Procycling-Wagens die ersten dicken Schneeflocken weg. Vom weiter oben gelegenen Turchino erreichten den Renndirektor schon die ersten Mitteilungen über sich rapide verschlechternde Wetterbedingungen. Als wir den Pass eine Viertelstunde später hochfuhren, fiel der Schnee in dicken Flocken und blieb liegen. Jetzt gab es auch bereits starke Niederschläge in viel tieferen Gefilden, die die flachen Äcker bei Tortona auf einer Höhe von nur 122 Metern mit einer weißen Schicht überzogen. Bis zu diesem Zeitpunkt drehten sich die Meldungen aus dem Rennkonvoi um den Abstand zwischen den sechs Ausreißern und dem Feld, aber jetzt war die Rede von Fahrern, die auf ihren Rennrädern zu Eis wurden und verlangten, dass das Rennen gestoppt werde. Kurz darauf traf Acquarone die Entscheidung, das Rennen anzuhalten.

War es zu spät? Nun ja, das war es. Aber man muss Acquarone zugutehalten, dass sich das Wetter extrem schnell verschlechterte. Auch die Renn-Logistik kam ihm nicht entgegen, denn als klar war, dass die Fahrer und ihre Rennräder über den Turchino transportiert werden mussten, mussten die Teambusse, die schon auf der anderen Seite des Passes waren, zurückgerufen werden, und natürlich dauerte es eine Weile, bis sie die 30 Kilometer zurückge-legt hatten.
Tom Boonen (Omega Pharma – Quick-Step) war der Erste, der Acquarone kritisierte, als er aus dem Rennen ausstieg. „Das ist teils eine Vorsichtsmaßnahme, aber auch ein Statement an die Organisatoren“, sagte er nach seiner Aufgabe. „Sie wussten früh genug, dass viel Schnee auf der Straße liegt. Was jetzt passiert, ist der Fehler der Organisation. Sind Sie je mit dem Fahrrad durch Schnee gefahren? Es gibt wahrlich Schöneres. Ich bin komplett durchgefroren.“
Auf der anderen Seite wollte Boonen aber sicher auch nicht, dass ihm jemand ein Mikrofon unter die Nase hielt, als er sich in seinen Teambus flüchtete. Obwohl die Bedingungen unterirdisch waren, war die Situation außergewöhnlich. Er hätte genauso gut auf die Wettergötter schimpfen können wie auf die Rennorganisation. Außer dem Belgier fluchten noch einige andere, so etwa Neil Stephens (Orica-GreenEdge), der sagte: „Es war klar, dass das Rennen zehn bis 15 Kilometer zu spät angehalten wurde.“

Acquarone wehrte sich gegen die Kritik. „Wir wussten, dass das Wetter schlecht sein könnte, aber niemand hat mit einem Inferno gerechnet“, sagte er. „Als wir merkten, dass der Schnee liegen blieb, beschlossen wir gemeinsam mit den Offiziellen der UCI, das Rennen zu stoppen.“ Auf Boonens Kritik angesprochen, sagte Acquarone: „Nachher weiß man es immer besser … Ich hätte auch gerne ein Rennen bei Sonnenschein gehabt, wo alle großen Favoriten um den Sieg kämpfen. Aber schlechtes Wetter gehört zum Radsport. Das wissen wir, und die Fahrer wissen das. Auch das macht den Radsport so besonders.“ Wenn man Acquarone etwas vorwerfen kann, dann, dass er zu offen und ehrlich ist. Seit er Angelo Zomegnan 2011 ablöste, hat der Italiener keine Mühen gescheut, um mit Fahrern und Fans über Social Media zu kommunizieren, mit dem klaren Ziel, die Rennen im Portfolio der RCS zu modernisieren und populärer zu machen. Aber das lässt gelegentlich das Gefühl entstehen, dass er die Dinge nicht ganz unter Kontrolle hat. Das wurde wenige Tage zuvor deutlich, als er angesichts der brutalen vorletzten Etappe von Tirreno – Adriatico zugab: „Manchmal ist es nicht leicht, das richtige Gleichgewicht zu finden. Wenn du die Hälfte deines Pelotons verlierst, musst du einfach ehrlich sein und aus den Fehlern lernen.“

Gleichzeitig jedoch müssen die, die Acquarone kritisieren, sich fragen, ob sie es lieber mit einem Renndirektor zu tun haben, der sie in die Entscheidungsfindung einbeziehen will, oder mit jemandem, der sich kaum je mit ihnen auseinandersetzt, wie es unter dem früheren Regime bei RCS der Fall war. Nach San Remo betonte Acquarone, seinen Stil nicht verändern zu werden. „Am besten vermeidet man Kritik, indem man nie irgendetwas tut. Oder man tut, was man liebt, hat ein tolles Leben und lässt andere ihre Zeit mit Kritik verbringen.“ Als die Fahrer in den Bussen auf dem Weg zur Küste und zum Neustart des Rennens waren, der erst in Arenzano erfolgen sollte und dann nach Cogoleto verlegt wurde, zögerten Acquarone und sein Organisationsteam nicht lange, auch Le Manie von der Strecke zu streichen. Auch wenn Fabian Cancellara nachher sagte, es sei „schade, dass es kein richtiges San Remo mit dem Turchino, Le Manie und Frühling war“, wurde diese Entscheidung aus Sorge um die Sicherheit der Fahrer getroffen.

Obwohl einige Medienvertreter behaupteten, dies sei auf Verlangen der übertragenden Fernsehanstalt, RAI, geschehen, war die Wetterfront, die nördlich des Turchino Schnee abgeladen hatte, ebenso schnell über den Pass wie die Fahrer und überzog die ligurische Riviera mit starkem Regen, kaum dass das Rennen fortgesetzt wurde. Acquarone traf mit der Streichung genau die richtige Entscheidung – bestimmt erinnerte er sich an die Situation vor zwei Jahren, als Oscar Freire bei Nässe auf der schmalen und gefährlichen Abfahrt von Manie stürzte und den größten Teil des Feldes aufhielt, sodass rund 30 Fahrer den Rest des Rennens unter sich ausmachten. Auch wenn einige Fahrer wie Boonen und zwei seiner Teamkollegen die Fahrt nicht fortsetzen wollten, schlug zu dem Zeitpunkt niemand vor, das Rennen ganz abzubrechen. Orica-Sportdirektor Stephens sagte, die Fahrer seien „in einer wirklich schlechten Verfassung“ gewesen, als sie in den Bus einsteigen mussten, aber er sah ein, dass das Rennen fortgesetzt werden und jemand es gewinnen musste, und erklärte seinen Fahrern, dies könne durchaus einer von ihnen sein. „Ich wollte ihnen sagen, dass sie sich keine Sorgen machen sollten, wenn sie vom Rad abstiegen und es sein ließen. Stattdessen musste ich das Gegenteil tun. Es war hart für mein Team und hart für das ganze Peloton.“ Aber es war unvergesslich episch, und dafür sind wir den Fahrern und Michele Acquarone zu Dank verpflichtet.

 

Trotz Schnee und Kälte – die Favoriten haben das Rennen diktiert
„La Primavera“ wird oft zu Unrecht als Lotterie bezeichnet, weil für jeden Fahrer so viel schiefgehen kann, vor allem auf den letzten 50 Kilometern, wo ohne eine gute Position und Glück nichts geht. Aber es ist eine Lotterie insofern, als es so schwer ist, unter vielleicht 50 Sieganwärtern auf einen Gewinner zu tippen. Natürlich muss der Sieger das Glück auf seiner Seite haben, aber nur die Allerbesten können sich durchsetzen. Abgesehen von einigen Anwärtern, darunter Vincenzo Nibali und Thor Hushovd, die nicht in die Entscheidung eingreifen konnten, spielten die meisten großen Namen, darunter Peter Sagan, Philippe Gilbert, Fabian Cancellara und Sylvain Chavanel, eine prominente Rolle.
Anders als einige seiner Teamkollegen zögerte Chavanel, der Vierter wurde, nicht, wieder aufs Rad zu steigen. „Ich weiß nicht, ob ich der stärkste Fahrer war, aber ich glaube, die mentale Seite gibt bei einem Rennen unter so schweren Bedingungen wie heute den Ausschlag. Jeder weiß, dass mir solche Umstände nichts ausmachen“, sagte der Franzose, der zusammen mit dem Sky-Fahrer Ian Stannard, den schlechtes Wetter ebenso wenig abschreckt, einen beinahe rennentscheidenden Vorstoß unternahm.

Obwohl Cancellara das Gefühl hatte, es sei kein richtiges San Remo gewesen, war er stolz auf sich und seine Kollegen. „Das Wetter ist, wie es ist. Wir haben beschlossen zu fahren, Punkt, aus“, stellte er fest, nachdem er Dritter geworden war. „Wir können erhobenen Hauptes nach Hause gehen. Entschuldigungen [für Niederlagen] können wir vergessen, weil es schon ein Sieg ist, hier anzukommen.“ Der Sieger Gerald Ciolek sagte, die letzten Kilometer vor der Unterbrechung des Rennens seien grauenhaft gewesen. „Ich habe fast geweint, weil ich so kalte Hände hatte. Jeder weiß, wie weh es tut, wenn die Hände wieder auftauen, deswegen tat es auch weh, als wir im Bus waren. Es war eine merkwürdige Situation und mental schwer, das Rennen wieder aufzunehmen.“ Der in Pulheim bei Köln aufgewachsene Ciolek hatte jedoch zu Recht das Gefühl, dass die Bedingungen dem Prestige seines Erfolgs eher zu- als abträglich waren. Erwähnt werden sollte auch Taylor Phinney, der es bei seinem San-Remo-Debüt vor Jahresfrist nicht über Le Manie schaffte und ganz klar von der Streichung profitierte. Obwohl er als Helfer für sein BMC-Kapitäns-Trio – Gilbert, Hushovd und Greg Van Avermaet – unterwegs war, führte er das Verfolgerfeld an, das den Abstand zu den sechs Spitzenreitern rapide reduzierte. Nach dieser Vorstellung zählte der junge Amerikaner zum Kreis der Favoriten für Paris – Roubaix.
 
Triumph made in Südafrika
Es gab zwei Orte, wo man Männer während der „Primavera“ weinen sehen konnte. Der erste war auf der Straße nach Ovada, wo das Rennen im Schneetreiben unterbrochen wurde. Der zweite war der Team-Bus von MTN-Qhubeka, nachdem Gerald Ciolek für das südamerikanische Team die San-Remo-Krone gewonnen hatte. Am Morgen hatte Doug Ryder gegenüber Procycling gesagt, schon allein die Teilnahme an Mailand – San Remo sei ein Sieg für die erste afrikanische ProContinental-Mannschaft. Obwohl er zuversichtlich war, dass Ciolek gut fahren würde, nachdem er auf der 2. Etappe von Tirreno – Adriatico Dritter geworden war, machte er sich vor allem Gedanken darüber, wie die Temperaturen seine südafrikanischen Fahrer beeinflussen würden. „Sie sind an so eine Kälte überhaupt nicht gewöhnt. Ich weiß nicht, wie sie damit klarkommen“, sagte Ryder besorgt.

Als sie neun Stunden später vor ihrem Bus standen, waren Ryder und der Rest seines Teams geschockt. Sie umarmten sich und johlten vor Freude, dann standen sie da und starrten ungläubig auf Cioleks Sieger-Rennrad. „Wir wussten, wie gut er ist und wie gut er auf dieses Rennen vorbereitet war“, sagte Ryder, dessen vor Schreck weit aufgerissene Augen verrieten, er habe nicht wirklich geglaubt, dass sein Kapitän so gut fahren würde. Mit 18 Jahren Deutscher Meister und als Teenager Etappensieger bei der DeutschlandTour, war Ciolek immer enorm talentiert, doch seine Karriere kam bei jeweils zweijährigen Engagements bei T-Mobile, Milram und Quick-Step nicht recht in Gang. Mit mittlerweile 26 Jahren steht Ciolek nun bei MTN im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, und sein jugendlicher Optimismus ist zurückgekehrt. Ryder zollte Michele Acquarone zu Recht Anerkennung für die Einladung zu dem Rennen, die sich als vollkommen gerechtfertigt herausgestellt hatte. Acquarone bedankte sich in natura, als er Ciolek und seinem Team sagte: „Ihr habt heute Geschichte geschrieben. Niemand wird diesen legendären Tag je vergessen.“



Cover Procycling Ausgabe 111

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 111.

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