FMB

Jedes Jahr vor den Kopfsteinpflaster-Klassikern werden die Sponsorenverträge beiseitegelegt, und etliche Top-Teams wenden sich einem kleinen Reifenhersteller zu – FMB, der letzten echten Schlauchreifen-Manufaktur.

 

Dieser kleine Betrieb in einer bescheidenen Stadt im Nordwesten Frankreichs strahlt ehrliche, solide Handarbeit aus. Eine surrende Nähmaschine hämmert  ihr Stakkato und übertönt das Radio, das in einer Ecke des Raums leise einen französischen Sender dudelt. An jeder Wand hängen Fahrradreifen, mit erfahrenen, geschulten Handwerkerhänden arbeiten vier Menschen konzentriert vor sich hin. Nicht größer als eine einfache Hausgarage ist das Zuhause von FMB, dabei ist der kleine Schlauchreifen-Hersteller ein gefragter Lieferant bei all jenen, die für die härtesten Eintagesrennen  Reifen der Spitzenklasse benötigen.

Die Kopfsteinpflaster-Klassiker sind so etwas wie ein Spezialisten-Event im weltweiten Radsportkalender. Fahrer, die auf dem Pflaster siegreich sein wollen, konzentrieren sich auf ein Zeitfenster von drei Wochen, das mit „Dwars Door Vlaanderen“ beginnt und in den zwei Monumenten gipfelt: der Flandern-Rundfahrt und der „Königin der Klassiker“, Paris – Roubaix. Ein Sieg bei einem dieser Rennen trägt einem Fahrer den Ruf eines Superstars ein und schreibt seinen Namen in die lange Geschichte des Radsports. Angesichts der schlechten Wirtschaftswege, der harten Anstiege und der zahlreichen gepflasterten Abschnitte, die in jedem der Rennen auf das Peloton einschlagen, ziehen die Teams alle Register der Technik, um auch kleinste Vorteil für sich zu gewinnen. Von RockShox-Federgabeln bis zu Cyclocross-Rädern – alles ist bereits ausprobiert worden. Doch in den letzten Jahren ist ein neuer Name ins Blickfeld geraten – bescheidene drei Buchstaben, hinter denen sich der Schlauchreifen der Wahl für die Topfahrer verbirgt. Ihren umfangreichen Sponsorenverträgen zum Trotz zahlen die Teams sogar für die Pneus der französischen Firma. Ihr Name ist FMB, François Marie Boyaux, und sie ist so etwas wie die Maßschneiderei für die Klassiker.

Ansässig in Plurien in der Bretagne, ist François Marie nicht nur der letzte der Boyaux – der Schlauchreifenhersteller – in Frankreich, er ist auch der Letzte weit und breit, der das traditionelle Verfahren anwendet. Marie erklärt, wie es dazu kam: „Es ist seltsam, wie sich deine Vorstellungen mit dem Alter ändern. Ich blicke immer noch auf meinen fünfzigsten Geburtstag zurück und kann nicht glauben, dass meine Entscheidung so weit ging. Als ich jünger war, fuhr ich Rennen zu Hause in Paris. Ich war kein großer Radrennfahrer, aber es bereitete mir wirklich Freude, meinen Teamkameraden beim Reparieren ihrer Bikes zu helfen. Eines Tages hatte ich ein zufälliges Treffen mit Andre Dugast, der in seinem Geschäft zu dieser Zeit der Beste war, also beschloss ich, ihn über die Herstellungs-weise von Schlauchreifen auszufragen. Ich hatte zahlreiche Schlauchreifen meiner Teamkameraden repariert, daher war ich fasziniert, wie diese Dinger hergestellt wurden. Jeder einzelne von Dugasts Schlauchreifen war eine Schönheit, unter Verwendung der besten Materialien von Hand genäht und den Kunden persönlich geliefert. Wir plauderten, und schließlich lernte ich von ihm, wie man Schlauchreifen anfertigt. Umgeben von den ganzen hochwertigen Materialien in Dugasts Werkstatt, dem Besten an Seide und Gummi, fühlte ich mich, als ob ich pure Geschwindigkeit herstellen würde. Es war eine Arbeit, für die ich schwärmte, aber wie so viele Leidenschaften war sie finanziell nicht gerade lohnend. Um die Familie zu ernähren, musste ich einen normalen Job finden.

Als ich auf die Fünfzig zuging, wusste ich, dass die Zeit für eine Veränderung gekommen war. Ich war es müde, in meiner Schuhschachtel zu arbeiten, und entschied mich, zur Schlauchreifen-Herstellung zurückzukehren. Meine Kollegen dachten, ich sei verrückt, einen gut bezahlten Job aufzugeben, um in Handarbeit Reifen zu fertigen, wenn sie doch als Massenware hergestellt werden. Wie könnte ich im Wettbewerb bestehen? Es ging mir nicht ums Geld. Also investierte ich in das Werkzeug und die Garnitur, die ich zum Arbeiten brauchte, mit dem Ziel, die einheimischen Fahrer zu versorgen.“ Wie bei allen Entscheidungen, die das Leben verändern, gab es ein Risiko, wie Marie erklärt: „Zunächst ging alles langsam, aber dann sprach sich die Sache herum. Den Fahrern wurde klar, dass meine tradi-tionellen Produktionsverfahren einen Schlauchreifen ermöglichten, der einen Leistungsvorteil bringt. Ich wurde von Tom Boonens Team kontaktiert, um sie mit Schlauchreifen für die 2005er-Kopfsteinpflaster-Klassiker zu beliefern. Boonen gewann, und alle Spitzenfahrer riefen mich an und wollten meine Paris-Roubaix-Reifen kaufen. Jetzt machen wir zwischen 1.300 und 1.500 Schlauchreifen, um den Bedarf der Teams für die Klassiker zu decken.“

François Marie ist kein Glückskind; sein hervorragendes Produkt ist Ergebnis seiner traditionellen Arbeitsweise. Seit 2005 nutzen alle Spitzenteams bei den Kopfsteinpflaster-Klassikern Schlauchreifen von FMB. Maries Reifen holten den Sieg bei Paris – Roubaix siebenmal in acht Jahren – eine erstaunliche Erfolgsbilanz, ganz abgesehen von den Ergebnissen der FMBs in anderen Rennen. Kürzlich, im Jahr 2012, fuhr Boonen die Reifen des Franzosen sowohl in Flandern als auch in Roubaix zum Sieg.

Wegen des stets wachsenden Bedarfs an Reifen hat Marie jetzt vier Leute, die Vollzeit, und zwei, die in Teilzeit arbeiten. Sein Sohn Rénaud Marie, 27, arbeitet seit Februar 2010 im Familienbetrieb. „Es war interessant, der Entwicklung der Firma meines Vaters zuzusehen. Als er sich 2005 für die Gründung von FMB entschied, waren wir alle ein wenig überrascht, aber jetzt verstehen wir seinen Traum. Es ist großartig, für ihn zu arbeiten, und Teil des Erfolgs bei solchen Rennen wie Paris – Roubaix, der Bahn-WM und sogar bei Etappen der Tour de France zu sein, begeistert uns alle. Der Produktionsprozess ist arbeitsintensiv, jeder Reifen benötigt 70 bis 80 einzelne Schritte, um ihn herzustellen, bevor er gebrauchsfertig ist, und dabei werden nur wenige mit der Maschine ausgeführt. Na ja, eine gibt es – eine Nähmaschine. Das bedeutet, dass wir normalerweise 150 bis 200 Schläuche pro Monat herstellen, wenn wir also die Bestellungen für die Klassiker erhalten, ist es ein wenig entmutigend.“

 

Die jüngste Näherin bei FMB, Aurelie Crézé, hat ihre eigene Sichtweise: „Es ist lustig; ich arbeite für FMB, aber, um ehrlich zu sein, ich bin kein großer Radsport-Fan. Das macht die Gespräche hier manchmal etwas langweilig, aber ich liebe meine Arbeit trotzdem.“ Crézé fing im April 2010 an und ist Maries Chefnäherin; sie erklärt, warum ihre Produkte so gefragt sind: „Es sind unsere althergebrachten Produktionsweisen, welche die Nachfrage hervorgerufen haben. Da alles handgefertigt wird, ist die Qualität unserer Produkte sehr viel höher als die von maschinell gefertigten Schlauchreifen. Unser Paris-Roubaix-Reifen ist mit Seide verkleidet. Seide hat ein sehr feines Gewebe, sodass sie Durchschläge abhält, aber den Schläuchen eine enorm geschmeidige Hülle verleiht. Für die Fahrer bedeutet dies, dass sie die Schläuche mit einem höheren Druck bei gleichem Komfortverhalten auf dem Kopfsteinpflaster fahren können. Im Ergebnis sind unsere Schlauchreifen auf dem Kopfsteinpflaster schneller.“

FMB ist in jeder Hinsicht ein traditionsreiches Unternehmen. Es ist schwer zu glauben, dass diese kärgliche Werkstatt das weltweite Zentrum der Produktion handgefertigter Schlauchreifen ist. Jede andere Firma würde alles mit Postern, Trikots und Anzeigen zupflastern, aber das passt nicht zu Maries bescheidener Grundhaltung. „Ich habe niemals auch nur einen Cent für Werbung ausgegeben. Jede andere Firma würde die Ergebnisse, die wir haben, marktschreierisch anpreisen, aber ich bevorzuge, die Qualität meiner Produkte den Verkauf erledigen zu lassen. Bis jetzt verlief es für uns erfolgreich. Ich sehe auch ein, dass ich mit der steigenden Nachfrage die Produktion steigern muss, was selbstverständlich einen Kompromiss bei unseren Produktionsweisen bedeutet. Ich habe FMB aufgestellt, um die althergebrachten Methoden, die ich von Andre Dugast erlernt habe, fortzuführen. Sein Name ist jetzt an eine holländische Firma verkauft worden. Es liegt etwas Ehrliches darin, Handarbeit zu leisten, die Ehrlichkeit eines Kunsthandwerkers. In einer Welt der Massenproduktion, in der das Augenmerk den Zahlen, dem Ertrag und dem Profit gilt, bin ich entschlossen, mich auf die Qualität zu konzentrieren. Das scheint zu funktionieren und motiviert uns alle. Ich habe früher nur fürs Geld gearbeitet, endlose Stunden damit verbracht, etwas zu tun, was mir keinen Spaß machte, allein für den finanziellen Lohn. FMB ist anders; es geht darum, eine Tradition fortzuführen und ein fachliches Können am Leben zu halten. Die Top-Teams für ihre härtesten Rennen zu versorgen, ist eine Ehre, aber selbst wenn ich nur die einheimischen Fahrer versorgen würde, wäre das genug.“

Obwohl FMB als Team-Zulieferer für die Klassiker bekannt ist, reicht das Produktangebot weit über das Kopfsteinpflaster hinaus, wie Marie erklärt: „Unsere Paris-Roubaix-Schlauchreifen sind das, wofür wir bekannt sind, aber sie sind nicht unser einziges Produkt. Wir stellen auch Modelle für Cyclocross, Bahn und Zeitfahren her, welche die gleiche Qualität wie die Paris-Roubaix-Versionen besitzen. Vor den Olympischen Spielen arbeiteten wir mit dem australischen Nationalteam zusammen, um einen Bahnrad-Schlauchreifen zu entwickeln, der 14 Bar aufnehmen konnte. Ich entwickele gerade einen neuen Schlauch für den „Service Course“ der Teams. Er hat bislang keine Bezeichnung, aber wir haben ihn so gestaltet, dass er bei Trockenheit und Nässe gleichermaßen gut funktioniert, wobei das Hauptmerkmal die Durchschlagsfestigkeit ist. Bisher sind die Teams sehr zufrieden mit ihm, und es geht jetzt los mit den Bestellungen.“
In den letzten 25 Jahren hat der Radsport die Technik begeistert angenommen, doch  FMB ist der Beweis dafür, dass der Computer in einigen Fällen keine Chance gegen die Kunst eines geschickten Handwerkers hat.



Cover Procycling Ausgabe 110

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 110.

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