Ein Allrounder räumt ab

In der Eröffnungswoche der Tour de France 2012 bewies Peter Sagan mit einer Reihe von Siegen sein phänomenales Talent. Auf der ersten Straßenetappe wurde er zum jüngsten Tour-Etappensieger seit 1993, und er ließ es wie ein Kinderspiel aussehen, das Grüne Trikot mit 141 Punkten Vorsprung zu gewinnen. Was kommt als Nächstes für den hellsten Stern am Firmament des Radsports?

 

Größe ist so subjektiv, dass es fast unmöglich ist, sie zu quantifizieren. Wie messen wir sie in einer so ?vielschichtigen Sportart wie dem Radsport? Welche Kriterien müssen wir an die anlegen, die sie erreichen? Im Kontext des 21. Jahrhunderts könnte man argumentieren, dass wir (von Lance Armstrong abgesehen) diejenigen, die das geschafft haben, an einer Hand abzählen können. Johan Museeuw war einer davon, und mit sechs Grünen Trikots und vier Erfolgen bei Mailand – San Remo gehört auch Erik Zabel dazu. Die meisten Siege feierten beide allerdings im letzten Jahrtausend. Manche sagen, dass Paolo Bettini, der in fünf sensationellen Jahren sehr viel gewann, ein echter Gigant des Sports war. Vielleicht sollte auch Oscar Freire auf dieser Liste stehen. Aber während er regelmäßig bei San Remo und den Weltmeisterschaften glänzte, war bei anderen Rennen weniger von ihm zu sehen. Aus der heutigen Generation ragt Mark Cavendish heraus, obwohl er selbst als Erster zugeben würde, dass er kein kompletter Rennfahrer ist. Fabian Cancellara ist bei all seiner verschwenderischen Kraft in den letzten beiden Jahren durch Abwesenheit aufgefallen. Er ist ein begnadeter Zeitfahrer, keine Frage, aber Tatsache ist, dass er „nur“ vier Monumente zu Buche stehen hat. Dann haben wir noch Philippe Gilbert, der mindestens noch zwei Monumente bräuchte, um zu den ganz Großen zu gehören. Nicht zu vergessen natürlich Tom Boonen, der nun seit fast einem Jahrzehnt Klassiker des Nordens gewinnt und so unersättlich ist wie eh und je. Sein Roubaix-Meisterstück 2012 war der Beweis (sofern überhaupt nötig), dass er ein wahrhaft großer Champion ist.

Im Dezember 2011 besuchte Procycling das Trainingslager von Liquigas auf Sardinien und sprach mit Peter Sagan. Obwohl die meisten Radsport-Experten sich viel von ihm versprachen, waren wir skeptisch, ob er es mit der Weltspitze, sprich mit Boonen, Gilbert & Co., würde aufnehmen können. Damals war er erst im Begriff, sich einen Namen zu machen. Zwölf Monate später sitzen wir wieder mit ihm zusammen, dieses Mal in ?ilina, der Industriestadt unweit der slowakischen Nordgrenze, in der er aufgewachsen ist. Er hat vor kurzem dort ein Haus gekauft, was in fast jeder Hinsicht weit von Sardinien entfernt ist, aber die perfekte Metapher abgibt. Denn Peter Sagan hat es im letzten Jahr sehr weit gebracht: Drei Etappen und ein unangefochtenes Grünes Trikot der Tour de France, Top-Five-Plätze bei vier großen Frühjahrs-Klassikern, einen Prolog-Sieg gegen Cancellara bei der Tour de Suisse und fünf Etappen der Kalifornien-Rundfahrt lautet die Bilanz. Und das in seinem erst dritten Profijahr.
 
Einerseits ist alles anders, dann aber auch wieder wie gehabt. Am erfrischendsten – fast entwaffnend – an ihm ist seine vollkommen natürliche Art. Ungeachtet der Tatsache, dass die Welt jetzt mit Sagans Genialität auf dem Rad vertraut ist, ist er so bescheiden wie zuvor und ebenso großzügig mit seiner Zeit. Was sein neues Haus angeht, so hatten wir mit etwas Protzigem gerechnet, das seinen neuen Status widerspiegelt. In der Erwartung einer Bleibe, wie sie zu einem Fußballer passen würde, wurden wir herzlich begrüßt in einem aufgeräumten und schlichten Stadthaus aus kommunistischer Zeit, das er zusammen mit seinem Bruder Juraj gekauft hat. Rock’n’Roll ist das nicht, aber trotz der Feuerwerke auf dem Rad passt es zu seinem Charakter. Als wir anmerken, dass man ihm etwas Schickeres zutrauen würde, zuckt er nur mit den Schultern. „Ich brauche kein großes Haus und ich bin kein großer Fan vom Putzen.“ Ein klassischer Sagan – man kann sich keinen liebenswerteren, unkomplizierteren Menschen vorstellen. Vor allem freut er sich, zu Hause zu sein. „Ich war zweieinhalb Jahre in Italien, doch ich wollte nie dort bleiben. Ich konnte es nicht abwarten, wieder zurückzukommen, und ich wusste sofort, dass ich die richtige Entscheidung getroffen hatte. Italien war der richtige Ort für mich, um Rennfahrer zu werden, und ich bin froh, dass ich im Ausland gelebt habe. Es ist gut, eine neue Sprache und Kultur kennenzulernen, aber hier bin ich zu Hause. Hier kann man gut trainieren, und meine Familie ist mir sehr wichtig.“
 
Wir treffen Sagan zum zweiten Mal in diesem Winter bei der Teampräsentation des neu formierten Team Cannondale in Kalifornien. Diese Präsentation ist definitiv mehr Rock’n’Roll als sein Zuhause im eisigen Nordosten der Slowakei. Dass Cannondale hier alle Register für eine gelungene Party zieht, und die Fahrer in den Paramount Studios in Hollywood im Smoking von einer Stretch-Limo vorgefahren werden gefällt Sagan. Er fühlt sich wohl und zeigt keinerlei Hemmungen, als Star des Teams vorgestellt zu werden: Ivan Basso gibt den Elder Statesmann, doch Sagan ist der Rockstar. Für zehn Tage war er über Weihnachten und Neujahr zu Hause, um am vierten Januar direkt nach Kalifornien zu fliegen. Die zehn Tage Heimaturlaub waren wichtig für ihn, wie er selbst zugibt. Dort auch mal aufs Mountainbike zu steigen und mit der Familie zusammen zu sein, scheint ihm Kraft zu geben. Der Schluss liegt nahe, dass der Umzug nach Hause ein wichtiger Schritt in seiner Karriere war. Liquigas, seit über einem Jahrzehnt ein Synonym für den italienischen Radsport, hat sich in Cannondale, den globalen Radsport-Giganten, verwandelt. Obwohl Sagan sich, wie er sagt, nie von Roberto Amadios „Familie“ erdrückt fühlte, ist er froh über den Abstand. „Die Italiener machen bestimmte Dinge auf ihre Art und Weise, aber sie vergessen manchmal, dass es auch anders geht. Die Struktur des Teams wird sich nicht groß verändern. Ich bin überzeugt, dass es der richtige Zeitpunkt war, um zurückzukommen.“

Angesichts dessen, dass Sagan so viel erreicht hat (mittlerweile 38 Profisiege), hat man häufig den Eindruck, er sei schon ewig dabei. In Wirklichkeit jedoch waren die Liquigas-Jahre seine Rennfahrer-Lehre. Natürlich hat er seine Reifeprüfung mit Bravour bestanden, aber er ist noch ein gutes Stück vom Status eines Tom Boonen entfernt. Da er jung und wohlhabend ist, ist eine der größten Herausforderungen, vor denen er steht – wahrscheinlich die größte –, sich seinen Hunger auf Siege zu bewahren. Obwohl er, wie er sagt, die Beaufsichtigung durch die Italiener nicht mehr braucht, wird er doch vor allem mit seinem Bruder Juraj und anderen Jungs trainieren, die weiter unten in der Nahrungskette stehen. ?ilina ist nicht gerade eine Radsport-Hochburg, und wenn Freunde und Familie in der Nähe sind, lässt sich der Slowake vielleicht leichter ablenken. Besteht die Gefahr, dass er im Training den Fokus verliert, nun, wo er sich den strengen Blicken von Liquigas entzogen hat? „Das Wichtigste ist, dass Juraj und ich den Job jetzt kennen. Wir wissen, wie wir trainieren müssen, und sind uns unserer Verantwortung bewusst. Das Klima hier ist rauer, aber man kann gut fahren. Es ist noch zu früh am Tage, natürlich, aber ich sehe keine Probleme.“

Interessant ist, dass er anders als Boonen und Gilbert noch nicht dazu neigt, sich ganz auf zwei oder drei Klassiker zu konzentrieren. Boonen gibt unumwunden zu, dass der Erfolg seiner Saison von Flandern oder Roubaix abhängt, während man Gilbert vor allem mit den Ardennen-Klassikern verbindet. Sagan hingegen will auf keines von beidem verzichten. „Ich mag es, auf dem Rad zu sitzen, und ich mag es, Rennen zu fahren. Rennen zu fahren macht mir mehr Spaß als zu trainieren, und wenn ich gut drauf bin, habe ich, glaube ich, bei jedem Eintagesrennen eine Chance. Ich habe bewiesen, dass ich bei Amstel und Flandern gut sein kann, deswegen werden sich meine Ausrichtung und mein Kalender nicht ändern. Roubaix wird noch nicht auf dem Programm stehen, aber ich werde bei San Remo, Flandern und Amstel auf Sieg fahren. Ich werde sehen, wie ich mich fühle, und wenn ich danach in guter Form bin, starte ich vielleicht auch beim Flèche Wallonne.“

Genau das macht ihn so aufregend und so besonders unter den Rennfahrern des 21. Jahrhunderts. Boonen konnte bei Amstel Gold ebenso wenig ausrichten wie bei der Tour de France, und Gilbert hatte in Flandern nichts zu melden – Sagan mischte bei immer vorne mit. Tatsache ist, dass er, und nur er, realistische Ambitionen hegen kann, sie alle zu gewinnen. Zwölf Monate und ein Grünes Trikot später bleibt also die große Frage: Kann er die große Kluft zwischen Flandern und den Ardennen überbrücken? Der junge Fahrer hat die Zeit auf seiner Seite, aber über seine Größe (oder auch nicht) werden schließlich die Klassiker entscheiden. Obwohl Sagan wahrscheinlich noch viele Grüne Trikots holen kann, hat er noch keinen Sieg bei einem Monument gelandet, denn er hatte letztes Jahr, obwohl er toll fuhr, jeweils das Nachsehen. Auch wenn die zahlreichen Etappensiege in Kalifornien und in der Schweiz beeindruckend sind, steht er noch in den Startlöchern. Ist er einfach zu vielseitig? Will er zu viel?„Ich verstehe die Frage, aber ich sehe das nicht als Problem. Jemand wie Boonen konzentriert sich auf die Klassiker des Nordens und San Remo, und zwar, weil seine Charakteristika sich dafür eignen. Seine Form verschwindet nach Roubaix ja nicht von heute auf morgen, aber es wäre relativ witzlos, wenn er Lüttich fahren würde.“

 

Der Schlüssel zu Sagans Allrounder-Qualitäten liegt in seiner sportlichen Vergangenheit, doch der offensichtlichste ist sein Gewicht. Fahrer wie Cancellara und Boonen bringen über 80 kg auf die Waage, während Gilbert mit knapp 70 kg viel leichter ist. Sagan hat von allem etwas und liegt mit 75 kg genau zwischen diesen beiden Gruppen. Gilbert kann trotz seiner Explosivität keine anhaltend hohen Wattzahlen im Flachen treten, bei Cancellara ist es umgekehrt. Und während Boonen kein Kletterer ist, zeigen Sagans SRM-Daten, dass er alles Vorgenannte und noch mehr ist. Kurz gesagt, sein Kraft-Gewichts-Verhältnis ist phänomenal, ebenso wie seine Laktatgrenze. Er gibt offen zu, dass er drei Kilo abnehmen könnte, bezweifelt aber, dass das irgendeinen messbaren Nutzen hätte. Gehupft wie gesprungen, wie Sagan sagt. „Ich will nicht anfangen, zu experimentieren. Ich würde vielleicht in den Bergen etwas gewinnen, aber an anderer Stelle würde ich Kraft verlieren. Mit kurzen Anstiegen komme ich zurecht, aber ich werde nie jemand fürs Hochgebirge sein. Was ich kann, das ist ganz gut sprinten, und es wäre witzlos, wenn ich meine Chancen bei Flandern und San Remo schmälern würde. Ich würde ja nicht anfangen zu klettern wie Rodríguez?…“

Als Cadel Evans die Tour gewann, war oft die Rede davon, dass er von seiner Erfahrung als Mountainbiker profitierte. Viele der heutigen Straßenprofis waren früher auf Stollenreifen unterwegs, und auch Sagans beeindruckende Radbeherrschung hat ihren Ursprung dort. Das heißt jedoch nicht, dass das Mountainbiking per se der beste Nährboden ist. Es ist gut für die Balance, keine Frage, und die Natur des Wettbewerbs legt nahe, dass es wahrscheinlich gut für Kletterer ist. Traditionell hat es jedoch sehr wenige Sprinter für das Profilager hervorgebracht. Sagan war MTB-Weltmeister der Junioren, sagt allerdings, dass seine Entwicklung zum Sprinter organisch war. „Als Mountainbiker war ich ein guter Kletterer, und natürlich wurden die Rennen in den Anstiegen gewonnen oder verloren. So gesehen war es selbst für mich eine Überraschung, festzustellen, dass ich ein guter Sprinter war. Ich denke, ich bin einfach von Natur aus ziemlich schnell.“
 
Den Beweis lieferte er bei der Tour. Die erste Woche – und für viele die bleibende Erinnerung – gehörte eindeutig Sagan. Mit seinen drei Etappensiegen, einer spektakulärer als der andere, machte er ein breiteres Publikum mit seinem außergewöhnlichen Talent bekannt. Anders ausgedrückt. Als er gegen die Besten der Welt antrat, war er nicht zu stoppen. Dennoch sind seine Siege in Seraing, Metz und Boulogne, die jeder für sich ein Meisterstück waren, in gewisser Hinsicht illusorisch. So fabelhaft waren seine „Forrest Gump“– und „Hulk“-Jubelgesten, dass sie fast allgegenwärtig wurden. Folglich konzentrierten sich die Medien mehr auf seine Siegerposen als auf seine Substanz. Während das in gewissem Maße verständlich ist (immerhin waren sie pures Theater), sind sie nicht das, worum es bei Peter Sagan geht. Der Schlüssel dazu, wie gut er im Juli war – und wie gut er werden kann – liegt nicht in der Art, wie er jubelte, sondern in der Art, wie er gewann. Weniger Beachtung fand sein Sieg im Bergaufsprint in Seraing, obwohl dieser wohl der bezeichnendste, denkwürdigste war. Cancellaras Attacke 1,5 km vor der Linie war ebenso so brutal wie absehbar, aber als die Gruppe auseinanderfiel, schien Sagan nicht im Entferntesten in Gefahr zu sein. Boasson Hagen konnte die Lücke schließen und verschoss sein Pulver dabei, bevor Sagan den Sprint locker nach Hause fuhr. Als er auf den letzten 200 Metern vermutlich 970 Watt trat, hatte das Gelbe Trikot keine Antwort. Der Punkt war natürlich, dass es Cancellara und Boasson Hagen waren und dass es das größte aller Radrennen war. Obendrein gewann er, um ehrlich zu sein, kampflos. „Alle wussten, dass Fabian attackieren würde, taktisch war es also einfach. Ich musste nur darauf achten, zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort zu sein, und dann versuchen, an ihm dranzubleiben. Dann musste ich nur noch hoffen, Reserven für das Finale zu haben. Glücklicherweise war ich an dem Tag stark“, liefert Sagan wohl das Understatement des Jahres.

In Boulogne war das Resultat das Gleiche, doch während Seraing ein Zermürbungskrieg war, war dies die pure Vernichtung. Die Darsteller waren im Großen und Ganzen die gleichen, doch diesmal fuhr Sagan der Konkurrenz einfach davon. Er dominierte das Geschehen derart, dass er schon 30 Meter vor der Linie in vollem Forrest-Gump-Modus war. Als er André Greipel in Metz bezwang, wo er den „Tourminator“-Spitzname verpasst bekam, unterstrich er einfach nur seine Brillanz. Seine Radbeherrschung, als er dem Massensturz auswich, war wie immer sensationell. Mit dem Sieg über den „Gorilla“, bewies er nicht nur, dass er es mit den besten klassischen Sprintertypen aufnehmen kann, sondern eröffnete den einseitigsten Kampf um das Grüne Trikot in der Geschichte des Rennens. Es war großartig. Wie Sagan die Konkurrenz ausschaltete und das Trikot holte, legt nahe, dass er, sollte ihm daran gelegen sein, den Rekord von Zabel in Angriff nehmen kann. Er gewann das Ding mit beispiellosen 141 Punkten Vorsprung; umso bemerkenswerter, wenn man die Qualität seiner Rivalen bedenkt. Hat er es genossen, im Mahlstrom der Tour de France zu sein? „Ja. Ich hatte einen sehr schweren Tag, aber ich war nie wirklich in großen Schwierigkeiten. Ich war in den Bergen oft im Gruppetto, habe mich aber nie wirklich daran festgeklammert.“

Das beste Zeugnis seiner Fähigkeiten ist vielleicht, dass er die Tour wie ein Kinderspiel aussehen ließ. Diese Leichtigkeit charakterisiert seine Fahrweise und ist ein Beleg für sein einzigartiges Talent. Sogar sein Bruder, selbst Rennfahrer in der WorldTour, staunt über die ungleich größere Klasse seines Bruders. „Die Leute sagen, bei ihm sieht es so einfach aus“, sagt Juraj, „und das liegt daran, dass es für ihn im Vergleich zu normalen Rennfahrern auch einfach ist“.
Peter gibt zu, dass er in einer wichtigen Hinsicht Glück hat. Er ist nicht nur ein extrem liebenswerter Charakter, sondern geht auch gelassen mit seinen Erfolgen um. Das erklärt teilweise, warum sich alle Pressevertreter bei der Tour um ihn rissen, doch seine grenzenlose Höflichkeit hatte ihren Preis. Unmittelbar nach der Tour, nicht während des Rennens, spürte er, was sie ihm abverlangt hatte. „Als ich nach Hause kam, merkte ich, dass ich erschöpft war, aber eher mental als physisch. Ich glaube, erst wenn du innehältst, spürst du, dass die psychologische Belastung ihren Tribut fordert. Du stehst nach jeder Etappe anderthalb Stunden im Rampenlicht, den Rest des Tages stehen die Journalisten Schlange?… Das gehört zum Job, aber danach fiel es mir wirklich schwer, mich wieder zum Training zu motivieren. Ich war am Ende.“ Trotz des Tour-Katers, so Sagan, waren die Gerüchte, er würde sich auf das olympische Mountainbike-Rennen vorbereiten, wahr. Alles war klar mit Liquigas und Cannondale, doch die Slowakei hatte nicht genug Punkte, um sich für das Rennen zu qualifizieren. Schade – jede Wette, dass er sich voll ins Zeug gelegt hätte.

Wie man hört, wurden die Jubelgesten in Boulogne und Metz beim Abendessen im Gespräch mit Daniel Oss, dem besten Infanteristen von Liquigas, ersonnen. Oss ist zu BMC gewechselt, und da das Budget gekürzt wurde, gibt es keinen offensichtlichen Ersatz in einem Team, das ursprünglich darauf ausgerichtet war, Vincenzo Nibali und Ivan Basso bei den großen Rundfahrten zu unterstützen. Besonders bei der Flandern-Rundfahrt im letzten Jahr hatte Sagan in der entscheidenden Phase keine Helfer. Er wurde aufgehalten, als Johan Van Summeren auf dem Pater-berg stürzte, und musste die Lücke zur Spitzengruppe alleine zufahren, wofür er den Preis bezahlte, als Boonen und Pozzato Ballan auf dem Kwaremont verfolgten. Es steht außer Frage, dass er das Zeug hat, die Flandern-Rundfahrt zu gewinnen, aber Cannondale kann ihm nicht die Schlagkraft bieten, die jemand wie Boonen bei Quick-Step genießt. Hat sich Sagen, der im internationalen Radsport zurzeit sehr hoch im Kurs steht, schon einmal überlegt, das Team zu wechseln?

„Es gab Angebote von anderen Teams, natürlich. Aber ich habe mit niemandem direkt gesprochen, weil ich das alles meinem Manager Giovanni Lombardi überlasse. Finanziell hätte ich von einem Wechsel profitiert, aber darauf kommt es mir nicht an. Im Moment bin ich zufrieden da, wo ich bin. Ich glaube, das Team wird sich gut machen. Wir haben Viviani, Haedo und Sabatini plus Moreno Moser und Caruso für die hügeligen Klassiker. Ich mache mir keine Sorgen…“
Noch nicht jedenfalls. Drei fabelhafte Jahre lang fuhr er auf der Erfolgsspur, doch er weiß, dass früher oder später Verletzungen oder Erkrankungen ins Spiel kommen können. Lombardi ließ sich unlängst dazu hinreißen, ihn mit Merckx zu vergleichen. Es gebe kein Rennen, das er nicht gewinnen könne, schwärmte er. Das ist selbst für Sagan ein kleines bisschen übertrieben, aber es veranschaulicht, wie komplett er ist. Der Wunderknabe hat es sowieso nicht so mit Radsport-Geschichte, aber er ist sicher clever genug, um zu erkennen, dass er das Eisen schmieden muss, solange es heiß ist. „Gott sei Dank musste ich nicht so etwas durchmachen wie Gilbert in der letzten Saison, aber es ist klar, dass es jeden mal erwischt. Irgendwann werde auch ich zu kämpfen haben. Im Moment ist alles gut. Ich will mich nicht verrückt machen lassen von ausbleibenden Resultaten, und bisher musste ich das auch nicht.“

Radrennen zu fahren – und zu gewinnen – ist immer noch das Natürlichste der Welt. Es ist vollkommen klar, dass Sagan das angeborene Talent hat, sich Fahrern wie Boonen in einem sehr exklusiven Club anzuschließen. Als wir uns an diesem sonnigen, kalifornischen Vormittag von ihm verabschieden, ist klar, dass er zu verstehen beginnt, in Zukunft um noch höhere Einsätze spielen zu können. Peter Sagan kann wirkliche Größe erreichen. Das einzige verbleibende Fragezeichen ist, wie sehr er das will. Die Antwort werden wir bald bekommen – bleiben Sie dran?… 



Cover Procycling Ausgabe 109

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 109.

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