Ziel: WorldTour

Wenn eine Mannschaft eine andere integrieren soll, läuft dies selten völlig ohne Reibungsverluste ab – zumal, wenn verschiedene Kulturen aufeinander-treffen. Unter deutscher Flagge fahrend, muss NetApp-Endura zudem eine Continental-Truppe in einer ProConti-Crew intergrieren.

 

Der Teamchef von Endura Racing, Brian Smith, hatte sich eine Frist gesetzt: Wenn seine Mannschaft bis zur Saison 2013 keine Profi-Lizenz bekäme, würde er seine Position in dem Team ernsthaft überdenken. Smith hatte seine Kontakte und sein Insiderwissen genutzt, um Endura das bestmögliche Rennprogramm zu verschaffen. Und es hätte nicht besser laufen können für das britische Team – sie dominierten in Europa und feierten erstaunliche 42 Siege. Aber trotz aller Erfolge blieb der Stolperstein, das Geld für den Aufstieg zusammenzubekommen. Die Rettung kam in Form von NetApp, dem aufstrebenden ProContinental-Team, das 2012 als einzige deutsche Mannschaft beim Giro d’Italia startete, aber auch einen Zweit-Sponsor suchte. Durch die Bündelung der Kräfte entstand das Team NetApp-Endura, das die 13 besten Net-App-Fahrer mit den acht stärksten Endura-Fahrern kombiniert. Smith bleibt als stellvertretender Teamchef an Bord, während NetApp-Boss Ralph Denk weiter an der Spitze des Teams steht. Aber auch wenn es nach einer guten Idee klingt, das Beste aus zwei Teams zu kombinieren – so etwas funktioniert nicht immer. Im letzten Jahr schlossen sich Leopard und RadioShack zusammen, doch die Resultate blieben aus. Denk ist sicher, dass seine Fusion erfolgreicher sein wird: „Meine Mentalität ist, dass das Team der Star ist; wir haben keinen Star-Fahrer. Alle bekommen ihre Chance. Ich glaube, es ist einfacher, die Fahrer zusammenzubringen und [auf diese Art] eine gute Atmosphäre zu schaffen, als wenn du nur einen Star hast und der Rest des Teams dazu da ist, dem Star zu helfen.“

Seit dem Zusammenschluss hat sich das Team dreimal getroffen, einmal, als die Fahrer ihre Maße für die neue Teambekleidung nehmen ließen, und dann bei den beiden Trainingslagern vor und nach Weihnachten. „Im Dezember waren die ersten paar Tage etwas komisch“, sagt der Österreicher Daniel Schorn, einer der verbleibenden Fahrer der ursprünglichen NetApp-Formation. „Es fühlte sich so an, als wenn zwei Teams zusammen ein Trainingslager abhalten würden. Nach drei Tagen hatte man das Gefühl, dass es zusammenwächst, und jetzt haben alle dieselben Trikots und dieselben Räder. Es ändert sich so schnell.“ Auch wenn es nicht die hochkarätigste Übernahme eines Teams ist, wirft die Verbindung von Net-App und Endura einige interessante Fragen auf. Bei den meisten Zusammenschlüssen der jüngeren Zeit waren beide Teams aus derselben Liga, wie etwa Leopard Trek und RadioShack 2012. Doch für die Fahrer und Mitarbeiter von Endura geht es um den Aufstieg in die ProContinental-Liga. Wie werden sie damit zurechtkommen, und wird der Endura-Teamcharakter überleben?

Schorn sieht dem neuen Jahr zuversichtlich entgegen und glaubt, dass seine neuen Kollegen der Herausforderung gewachsen sind. „Jetzt im Training sind sie wirklich gut, finde ich“, sagt er. „Ich hoffe, dass sie es bei den Rennen auch hinbekommen und nicht nur im Training, denn wenn sie ihre Trainingsleistungen auch bei den Rennen abrufen können, werden wir Erfolg haben – und Spaß.“ Mit 34 Jahren ist Russell Downing der älteste Fahrer im Team und einer der acht, die Ende 2012 von Endura kamen. Auch er glaubt nicht, dass das Endura-Kontingent sich mit dem Sprung schwertun wird. „Wir sind zu gut, um ein Continental-Team zu sein – mit den Fahrern und den Rennen, die wir bestreiten. Wir haben wirklich vorne mitgemischt. Einige Continental-Teams haben bei den Rennen wenig zu melden, aber wir haben einige große Rennen gestaltet. Deswegen denke ich, dass die Jungs, die übernommen wurden, durchaus in der Lage sind, Profis zu sein. Sie haben in den letzten beiden Monaten gezeigt, dass sie es ernst meinen und in die richtige Richtung gehen.“ Downing hat Erfahrung auf höchstem Niveau gesammelt; er war zwei Jahre beim Team Sky und absolvierte den Giro d’Italia 2010. Der Endura-Fahrer Iker Camaño bringt die Erfahrung von sieben großen Rundfahrten mit. Der Baske lernte sein Handwerk bei Phonak, Euskaltel-Euskadi und Saunier Duval.
 
Denk sieht es ähnlich wie Downing und glaubt, dass der Schritt, den Endura zu machen hat, kleiner ist, als viele annehmen. „Endura war in der Continental-Division, aber sie waren sehr gut organisiert und sehr erfolgreich. Endura unterschied sich von vielen anderen Continental-Teams. Ich hatte im letzten Jahr den Eindruck, dass sie zwischen der dritten und zweiten Division waren, deswegen wird die Lücke nicht so schwer zu schließen sein.“ Endura hatte in der letzten Saison ein Rennprogramm, in dem das Team gegen ProContinental-Teams antrat und diese regelmäßig schlug. Jonathan Tiernan-Locke, der 2012 die meisten Siege beisteuerte, wird zwar vermisst werden, doch das Team hat noch andere Fahrer mit Potenzial in seinen Reihen, darunter Scott Thwaites und Erick Rowsell. Nur sechs der 21 NetApp-Endura-Fahrer haben noch nie ein Rennen auf ProConti-Niveau bestritten. Denk sollte es leichtfallen, die unerfahreneren Teammitglieder so zu verteilen, dass die Stärke der Mannschaft bei allen Rennen gesichert ist. Natürlich brennt das Team darauf, an seiner zweiten großen Rundfahrt teilzunehmen. Nachdem Debüt beim Giro d’Italia 2012 fehlte NetApp-Endura dieses Jahr bei der Vergabe der Wildcards für die Corsa Rosa nur eine Stimme. Renndirektor Michele Acquarone jedenfalls scheint auf der Seite des Teams zu sein; immerhin wurde es zu Tirreno-Adriatico und zur Lombardei-Rundfahrt eingeladen. 

 

„Ich mag ihre Team-Strategie“, sagt Acquarone. „Und es tut mir leid, dass sie [den Giro] nicht fahren können, weil sie sehr engagiert sind und ein sehr gutes Team sind. Deswegen haben wir ihnen eine Wildcard für Tirreno gegeben. Ich glaube, das Team könnte sogar besser sein als letztes Jahr, und angesichts der neuen Partnerschaft hatten sie wirklich Pech, dass sie keine Wildcard bekamen.“

Ein Fahrer, der besonders scharf auf einen Platz in einem „Grand Tour“-Team ist, ist Leopold König. Der Tscheche verpasste die Chance, den Giro zu fahren, nachdem Erkrankungen und Verletzungen sein Frühjahr ruiniert hatten. „Das letzte Jahr war ziemlich enttäuschend, aber dieses Mal werden wir mehr Vorbereitung haben. Für meine erste große Rundfahrt wäre es, glaube ich, besser, den Giro oder die Vuelta zu fahren, weil die Tour wirklich stressig ist. Es wäre besser, dort zu starten, aber der Traum ist, die Tour zu fahren.“ Nachdem er den ersten Teil der Saison weitgehend verpasst hatte, entschädigte er sein Team, indem er einer der erfolgreichsten NetApp-Fahrer 2012 wurde und unter anderem eine Etappe der Großbritannien-Rundfahrt gewann. Für das ProContinental-Team hängt viel davon ab, das Beste aus jeder Einladung zu machen, um das volle Potenzial der Mannschaft zu demonstrieren. „Ich glaube, die Entscheidungen über die Wildcards hängen von den ersten Rennen der Saison ab“, sagt Denk. „Katar und Oman könnten wichtig für die Einladungen zur Tour de France, zur Vuelta oder zu anderen großen Rennen sein.“ Doch bereits vor den beiden Abstechern auf die arabische Halbinsel hat das Team eine weitere Chance bekommen: Tour-Veranstalter ASO hat es per Wildcard zum Critérium du Dauphiné eingeladen.

NetApp-Endura legt Wert darauf, seine Internationalität zu betonen, doch das Herzstück bildet die deutsche Lizenz, die sie für die Saison 2013 haben. Diesen Status zu behalten, war wichtig für das Management, da sie das einzige deutsche Team in den ersten beiden Ligen des Radsports sind. Seit der Auflösung von Milram Ende 2010 fehlt in Deutschland eine Top-Mannschaft; mit NetApp-Endura haben die deutschen Fans wieder jemanden, den sie anfeuern können. „Wir haben definitiv gute Grundlagen, aber wir müssen uns weiterentwickeln“, so Denk. „Wenn wir ein Team haben oder ein oder zwei Top-Fahrer, wie vor zehn Jahren mit Jan Ullrich, dann wird der Radsport in Deutschland wieder sein altes Niveau erreichen.“ Denk konzentriert sich darauf, mit dem Team in die WorldTour aufzusteigen und dem deutschen Radsport wieder zu altem Glanz zu verhelfen. 

Das Team will mit Volldampf in die Saison starten. Obwohl sie aus der Continental-Division stammen, hat Endura sowohl Jugend als auch Erfahrung in die Fusion eingebracht. Und das Knowhow, das Fahrer wie Downing und Camaño mitbringen, könnte sich als sehr wertvoll herausstellen, vor allem, wenn das Team die ersehnte Wildcard für eine große Rundfahrt erhält. 



Cover Procycling Ausgabe 109

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