Ein Kampf an zwei Fronten

Das Team Sky hat den besten Sprinter der Welt und den bislang erfolgreichsten Rundfahrer des Jahres 2012 in seinen Reihen. Weshalb sprachen Experten dann vor der Tour de France davon, dass das Team in einer wenig beneidenswerten Position in das Rennen geht?

 

Vor zwei Jahren – wenige Wochen nach dem Vorkommnis – erklärte Mark Cavendish seine Siegergeste bei der Tour de Romandie, eine Mischung aus Victory-Zeichen und Stinkefinger, mit einer originellen Lektion in Geschichte. „Wissen Sie, wo das V-Zeichen herkommt?“, fragte er die versammelten Journalisten in Soho, London, kess. „Es steht für Pfeil und Bogen; es kommt von der Schlacht von Agincourt. Es ist nicht vulgär.“ Damals war noch nicht klar, dass Cavendish über Historikerwissen verfügte; das kam auf einer anderen Pressekonferenz in London im April heraus. Als die Frage des Tages kam, nämlich, wie das Team Sky seine Ziele mit denen von Bradley Wiggins bei der Tour de France im Juli vereinbaren wolle, lachte Cavendish: „Julius Caesar pflegte seine Armeen auf beiden Seiten zu flankieren.“ Und wie Caesar weiß auch Cav, wie man Reden hält.

Doch im Juli wird mehr als nur Humor gefragt sein, oder zumindest eine besonders schwarze Variante, wenn man die jüngere Geschichte als Maßstab nimmt. Mit dem besten Sprinter der Welt in ihren Reihen und dem besten Rundfahrer des Frühjahrs hat Sky allen Grund, optimistisch zu sein; doch das wird nichts an der Tatsache ändern, dass seit 1997, als Jan Ullrich und Erik Zabel in den Farben des Teams Telekom perfekt unter einen Hut passten, kein Team mit einem Topsprinter in seinen Reihen in die Tour gegangen und mit dem Gelben und dem Grünen Trikot daraus hervorgegangen ist.

„Sky wird den Sprintzug von Cavendish opfern müssen. Sie haben keine Wahl“, sagte der Sportliche Leiter von FDJ-BigMat, Martial Gayant. „Cavendish kommt vielleicht alleine klar, aber das Rennen für einen Sprint zu kontrollieren, wird ein Problem für Sky. Welche anderen Teams werden für einen Sprint arbeiten, wenn für sie wahrscheinlich nur der zweite, dritte oder vierte Platz dabei herausspringt? Sie werden sich nicht darum reißen.“ Diese Frage wurde Cavendish im April gestellt. Wie immer konterte er bewun-derns-wert und sagte, dass Marcel Kittels Argos-Team und André Greipels Lotto-Belisol-Truppe bestimmt einen Teil der Arbeit übernehmen würden. Das schien damals logisch zu sein: Cav hatte gerade bei Mailand – San Remo und Gent – Wevelgem gefloppt; bei Kittel und Greipel lief es wie am Schnürchen.

Doch bald räumte der Engländer, auch „Cannonball“ genannt, drei Etappen beim Giro ab, und das Problem stellte sich erneut: Würden andere Teams der „Rakete von der Isle of Man“ wirklich Vorschub leisten, indem sie es auf einen Sprint anlegen? Und daraus folgt: Wenn die Arbeit an Sky hängen bleibt, wie wollen oder können sie Cavendishs Bedürfnisse mit Wiggins’ Anlauf auf den ersten britischen Tour-Sieg vereinbaren? „Wir bekommen das hin“, versicherte uns Juan Antonio Flecha, nachdem er zuvor zugegeben hatte, es sei „wahrscheinlich, dass es nicht funktioniert, aber es hat keinen Sinn, sich Sorgen zu machen und negativ zu sein“. Die Frage, die Flecha – und alle anderen – noch beantworten müssen, ist: „Wie?“

Wir erwähnten das Team Telekom in der zweiten Hälfte der 1990er. Das Magenta-Superteam startete bei der Tour de France 1996 nicht mit zwei, sondern mit drei Kapitänen. Mit Erik Zabel hatte das Team einen der besten Sprinter der Welt, mit Jan Ullrich ein 22 Jahre altes Wunderkind, das drei Jahre zuvor Amateur-Weltmeister geworden war. Dritter Mann war Bjarne Riis, ein pflichtbewusster, 32 Jahre alter dänischer Routinier, dessen Leistungen sich seit der Saison 1993 rapide und radikal gesteigert hatten. Riis’ Arbeitsmoral wurde jetzt nur noch durch sein Selbstbewusstsein überboten. Als die Truppe zum Tour-Start im holländischen ’s-Hertogenbosch eintraf, versprach Riis seinem Teamkollegen und Landsmann Brian Holm, dass er das Rennen gewinnen würde. Holm nickte, während er insgeheim hoffte, sein Freund würde in der ersten Woche stürzen und sich das Schüsselbein brechen und ihnen beiden dadurch die Schmach einer sicheren Niederlage ersparen. Während Holm seine Befürchtungen für sich behielt, sagte Zabel öffentlich, die Unterstützung von Riis sei eine Verschwendung der Arbeitskräfte der Mannschaft.

Es war unvermeidlich, dass sich Fraktionen bildeten – Telekom war bei der Tour praktisch drei Teams in einem, wobei jedes aus einem Kapitän und zwei Domestiken bestand, die auch seine Freunde waren. Zabels Clique umfasste Mario Kummer und Rolf Aldag; Ullrich konnte sich auf Udo Bölts und Jens Heppner verlassen; Riis hatte Christian Henn und den skeptischen Holm, der heute glaubt: „Wenn Zabel, Riis oder Ulle versagt hätten, hätten wir vielleicht nie wieder ein Wort miteinander gesprochen.“ Aber sie versagten nicht. Riis gewann die Tour, und Holm fragt sich noch heute, „wie zum Teufel er das gemacht hat“. Doping war eine Antwort, aber Ullrichs fehlendes Ego zweifellos ebenso. In den Alpen und Pyrenäen wurde er der beste und tatsächlich einzige Helfer, den Riis je brauchte, sodass diejenigen, die die Machtkämpfe im Telekom-Lager nicht bemerkten, sich fragten, ob nicht Ullrich die Tour selbst hätte gewinnen sollen.

Von mehr Interesse für das Team Sky ist aber, wie Zabel zwei Etappen und das erste seiner sechs Grünen Trikots gewinnen konnte. Das, so Holm, „erforderte die gesamte Superklasse von Zabel“, hatte aber auch viel mit der Anwesenheit von Sprintern mit größerer Reputation und zielstrebigeren Teams zu tun, allen voran Mario Cipollini und seinem berühmten roten Saeco-Zug. Der andere Unterschied ist, dass für Zabel zwei Etappen und das Grüne Trikot ein Triumph waren; bei Cavendish, der seit 2008 im Schnitt fünf Etappensiege pro Tour de France geholt hat, würde dasselbe Ergebnis – vielleicht zu Unrecht – als magere Ausbeute und Vorbote des Niedergangs empfunden werden. „Wenn du Cavendish vier oder fünf starke Fahrer gibst“, sagt Holm, „sind vier oder fünf Etappensiege mit ihm sicherer als Geld in der Bank.“ Eine Bank – und, so sollte man meinen, eine todsichere Methode, Bradley Wiggins ins Gesamtklassement-Nirwana zu schicken.

TELEKOM gewann 1997 erneut Gelb und Grün, dieses Mal dank Ullrich und Zabel, nur um unmissverständlich klarzumachen, dass es möglich ist. Aber wieder klinkte sich Zabel in die Sprintzüge anderer Teams ein und profitierte davon, dass sie die Ausreißer jagten. Dies wurde geduldet, weil Zabel nie diese Aura der Unbesiegbarkeit besaß, die Cavendish jetzt umgibt. Sein Grünes Trikot in jenem Jahr und den vier folgenden Frankreich-Rundfahrten zeugte ebenso von seiner individuellen Stärke wie von seiner Beständigkeit; während Cavendish immer einen oder mehrere Teamkollegen braucht, um ihn über die Berge zu schleppen, war Zabel oft zu gut für das Gruppetto. Nur einmal bei seinen zwölf beendeten Frankreich-Rundfahrten landete Zabel außerhalb der Top 100 des Gesamtklassements.

An irgendeinem Ende muss also gespart werden, das gab sogar Sky-Teamchef Dave Brailsford im April zu. „Die Definition von ,Prioritäten setzen‘ ist, zu sagen: Wenn wir eine Sache haben können und nur eine, welche wäre es? In einer idealen Welt würdest du alles gewinnen wollen“, erklärte Brailsford, „aber wenn du das versuchst, gibt es wahrscheinlich keine Klarheit im Team. Also legt man den Schwerpunkt entweder auf Sprints, wenn Bradley zum Beispiel eine Woche vor der Tour stürzt und wir glauben, dass Brad es nur in die Top 15 schaffen kann. Oder, wenn es andersherum ist, richtest du es andersherum aus, und ich glaube, so werden wir es machen“.

 

Aber noch einmal: Wie? Brailsford spricht von einem Maschinenraum oder einem Kern von Fahrern, die eine Reihe von Eigenschaften haben. „Sie können jeden Tag den ganzen Tag fahren, auf verschiedenen Terrains, sie sind robust, selten krank oder verletzt, und sie sind sehr selbstlos.“ Brailsford behauptet, dass er und seine Mitarbeiter ihre Kandidaten anhand dieser Kriterien schon identifiziert und sortiert haben: Juan Antonio Flecha, Michael Rogers, Xabier Zandio, Christian Knees, Thomas Löfkvist und Danny Pate entsprechen dem Profil.

„Ich glaube, sie werden es packen. Ich meine, schau dir einen Fahrer wie Flecha an: Er kann alles“, argumentiert Udo Bölts, eine Säule des doppelt siegreichen Telekom-Teams von ’96 und ’97. Darauf rea-giert Flecha selbst mit einem Lächeln und einer kleinen Einschränkung. „Ich bin gerne aktiv bei den Rennen, aber bei Rabobank hat mich das Team manchmal gebeten, Freire zu helfen und gleichzeitig bei Mentschow zu sein. Irgendwann habe ich gesagt: Okay, beides gleichzeitig kann ich nicht! Das ist das Einzige, was ich nicht kann.“

Bölts jedoch glaubt, dass Flecha sich vielleicht unterschätzt. Er weist auf etwas hin, das auch Cavendish schon erwähnte: „Wenn sich Sky gegen Ende der Etappen an die Spitze setzt und für Cavendish arbeitet, ist auch Wiggins dort am besten und am sichersten aufgehoben.“ BMC hat das im vergangenen Jahr vorgeführt, als sie viel Energie investierten, um Cadel Evans sogar auf Flachetappen im ersten Drittel des Feldes zu halten. „Glaub’ mir, letztes Jahr waren bei jeder Sprintankunft BMC-Jungs um mich herum“, bemerkt Cavendish.

Der Knackpunkt, so Brailsford, könnte weniger die klare Rollenverteilung als die Ehrlichkeit sein. „Wenn wir einen Fahrer bitten, im Mittelgebirge den ganzen Tag zu fahren und am nächsten Tag Teil des Sprintzugs zu sein, und er das nicht kann, muss er unbedingt die Hand heben und uns das sagen.“ Die Führungsqualitäten der zwei betreffenden Fahrer, Cavendish und Wiggins, werden ebenfalls wichtig sein: Cavendish hat die Fähigkeit, seine Mannschaftskollegen einzuspannen und zu motivieren; und das Vertrauen, das Wiggins’ Resultate in diesem Frühjahr erzeugt haben, sollte seine Teamkollegen anspornen.

Der Garmin-Sportdirektor Allan Peiper und sein FDJ-Kollege Gayant hatten Wiggins in der Vergangenheit beide unter ihren Fittichen und sagen übereinstimmend, dass der Engländer ein potenzieller Tour-Sieger ist. Für Peiper ist er sogar der Favorit, während Gayant ihm den Sieg zutraut, „wenn er von vier oder fünf guten Kletterern umgeben ist, wie es alle Tour-Sieger in den letzten zehn Jahren waren“. Richie Porte und Chris Froome, sofern nicht verletzt, kommen dafür infrage, aber wer sonst? Konstantin Sivtsovs, Thomas Löfkvists und Michael Rogers’ Ansprüche auf einen Platz könnten bekräftigt werden, wenn Brailsfords „Maschinenraum“ zusätzliche Bergfestigkeit bekommen soll. Dieses Trio trug übrigens zu Cavendishs Tour-Etappensiegen in seinem letzten Team bei.

Wenn ein Rennstall im Moment das Personal hat, um der doppelten Herausforderung gewachsen zu sein, dann sicher Sky. Außerdem: Auch wenn Mario Cipollini beim Giro sagte, „die Sportlichen Leiter der anglophonen Teams sind in allem gut, außer in ihrem Job als Sportliche Leiter“, wird wohl niemand am Rundfahrt-Know-how der britischen Equipe zweifeln, nachdem sie im Frühjahr die Volta ao Algarve (mit Porte), Paris – Nizza und die Tour de Romandie gewonnen hat. Gayant gehörte zu denen, die Sky belächelten, als das Team vor zwei Jahren startete, und denkt nun, dass sie und Brailsford „ihren Weg gefunden“ haben. „Sie warfen für alles Geld raus und für die falschen Sachen, und die Resultate waren nicht da. Aber man muss ihnen zugute halten, dass sie noch mal von vorn angefangen und sich jetzt den Respekt von allen verdient haben“, sagt Gayant.

Wobei der Tour-Erfolg für Cavendish oder Wiggins natürlich nicht garantiert ist. Sky muss sich entscheiden, ob der Einsatz von einem oder mehr Männern als Babysitter für Cavendish in den Bergen keine Verschwendung ist. Vor einem Jahr waren drei Teamkollegen erforderlich, um Cav innerhalb der Karenzzeit zum Plateau de Beille zu schmuggeln. „Aber mit jeder Tour, die er fährt, sollte er besser über die Berge kommen und alleine überleben können“, versichert uns Udo Bölts. Nachdem er 1997 mit Ullrich eine aufreibende letzte Woche in den Vogesen überlebte, hat Bölts diesen Tipp für Wiggins: „Schau’ dir das Roadbook in der letzten Woche sehr genau an und mach’ dir einen Plan, wo genau du deine Männer einsetzt. In der ersten Woche vergiss nicht, dass Evans der Titelverteidiger ist, also kann sein Team das Rennen machen.“

Vieles lässt sich natürlich nicht vorhersehen. Das musste Sky im letzten Jahr feststellen, als Wiggins vor Form und Selbstvertrauen strotzend ins Rennen ging, um dann in der ersten Woche mit gebrochenem Schlüsselbein auf dem Asphalt liegen zu bleiben. Als Innovatoren sind Brailsford und seine Gefolgsmänner auch Zocker; aber der Versuch, sich einen kleinen Vorsprung zu verschaffen, kann die Mutigen und Ambitionierten auch zu Fehlern verleiten. Wenn das einer weiß, dann Wiggins, nachdem Sky ihn beim Tour-Prolog in Rotterdam 2010 aufgrund einer Hightech-Wettervorhersage als einen der Ersten von der Rampe schickte – und sich damit selbst ein Bein stellte.

All diese Unwägbarkeiten, ganz zu schweigen von den Olympischen Spielen, werden so lange Schatten werfen wie der Arc de Triomphe am 23. Juli auf den Champs-Élysées. „Stell dir vor, Wiggins fährt mit dem Gelben Trikot im Koffer zu Olympia“, überlegt Martial Gayant. Oder, dass Dave Brailsford Wiggins und Cavendish erfolgreich zur Tour-Glorie geleitet und damit das Recht erworben hat, Julius Caesar zu zitieren, den Mann, der seine Armeen flankierte und erklärte: „Veni, vidi, vici.“



Cover Procycling Ausgabe 101

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