Alphatier-Besieger

Das Klischee besagt, dass die Sprinter die größten Charaktere im Radsport sind. Sie sind die Fahrer, die am meisten gewinnen, und so ist es keine Überraschung, dass Prahlerei, Egozentrik und Arroganz Eigenschaften sind, die normalerweise mit Sprintern in Verbindung gebracht werden. 

Sprinter sind die Alphatiere. Sie müssen furchtlos, schnell und ein bisschen rabiat sein, um zu überleben, erst recht, wenn sie glänzen wollen. Im Gewimmel eines Massensprints kann der Unterschied zwischen Gewinnen und Verlieren winzig sein: der Millimeter eines schlecht getimten Tigersprungs, die Berührung eines Ellbogens oder der Sekundenbruchteil des Zögerns, in dem sich ein Weg zur Linie endgültig schließt. Die Spielräume für Fehler sind gering, weswegen die Emotionen hochkochen.

Sam Bennett hat dieser Vorstellung immer widersprochen. Der Ire kann von sich behaupten, der derzeit beste Sprinter der Welt zu sein, aber wenn er nicht im Sattel sitzt, ist er mehr ruhiger Gentleman als Gladiator. Er führt nach einem Zielsprint lieber ein Gespräch mit seinem Rivalen, anstatt ihn fertigzumachen. Jegliches hitzige Temperament, das er haben mag, verschwindet, wenn er vom Rad steigt.

Bennett hat sich in der Radsportwelt noch beliebter gemacht, als er an Tag zehn des Rennens in Île de Ré seine erste Tour-de-France-Etappe gewann. Er konnte die Tränen nicht zurückhalten, als im Interview nach dem Rennen angesichts seines Erfolgs seine Gefühle mit ihm durchgingen. Er war ein Fahrer, der kurz vor seinem 30. Geburtstag schließlich beim größten Rennen der Welt gewonnen hatte. Es war einer der menschlichsten Momente der Tour. Zwei Wochen später fuhr Bennett im Grünen Trikot nach Paris, nachdem er Peter Sagan in jener Wertung, die der Slowake in den letzten acht Jahren dominiert hatte, entthront hatte, bevor er eindrucksvoll auf den Champs-Élysées gewann – als erst fünfter Fahrer im Grünen Trikot.

Es ist ein Trend, der sich 2021 fortsetzt. Als wir Ende April mit ihm sprechen, hat Bennett fünf Siege auf dem Konto, womit er auf dem geteilten ersten Platz im Peloton und vor jedem anderen Sprinter liegt. Trotzdem schüttelt er den Kopf, als wir bemerken, dass er wohl nicht so keck sein wird zu behaupten, zurzeit der schnellste Fahrer der Welt zu sein. Das ist einfach nicht Bennetts Stil. 

„Ich werde nie sagen, dass ich der Schnellste der Welt bin, und ich glaube es auch nicht. Aber um ehrlich zu sein, ist es etwas, wo ich mir sage: Okay, es ist mir egal. Und es spielt keine Rolle, ob ich der Schnellste der Welt oder nicht der Schnellste der Welt bin. Ich muss nur als Erster über die Linie fahren“, sagt er. „Beim Sprinten geht es nicht nur darum, ein schneller Sprinter zu sein; du musst stark sein, du musst positioniert sein, es gehört so viel mehr dazu. Ich vereinfache es zu sehr, aber es geht nur darum, als Erster über die Linie zu fahren. Es spielt keine Rolle, wer der Schnellste ist oder nicht.“ 


Cover Procycling Ausgabe 208

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 208.

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